Ein Gespräch mit Hermann Amborn. Über einen Irrtum von Jürgen Habermas, Fehler sozialistischer Modernisierung in Südäthiopien und die Rückkehr anarchistischer Traditionen

junge Welt 08.07.2017 / Wochenendbeilage / Seite 1 (Beilage)

Thomas Wagner

In Ihrem im vergangenen Jahr erschienenen Buch »Das Recht als Hort der

African Anarchism – By Sam Mbah & I.E. Igariwey

Aber sie stimmt. Als Ethnologe habe ich herrschaftsfreie Gesellschaften am Horn von Afrika kennengelernt, im Zuge längerer Feldforschungen im südlichen Äthiopien und im nördlichen Kenia. Auch durch Erlebnisse mit meinen Kontaktpersonen bin ich auf die Spur des Anarchismus gebracht worden. In Äthiopien gibt es eine große Anzahl von egalitären Ethnien. Man kann diesbezüglich eine Grenze zwischen dem Norden und dem erst um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert vom Kaiserreich eroberten Süden ziehen. Im Süden gibt es die große Gruppe der Oromo. Von nahezu 100 Millionen Einwohnern Äthiopiens gehören zwischen 40 und 45 Millionen den Oromo und den ihnen verwandten Gruppen an, zu denen ich die von mir untersuchte Burji-Konso-Gruppe zähle. Das ist ein mehr als 300.000 Menschen umfassendes Konglomerat von 15 Ethnien in Südwestäthiopien.

Welche Form der Wirtschaft betreiben diese Gruppen?

Die größte Oromo-Untergruppe in Südäthiopien sind die Borana. Sie betreiben Viehwirtschaft mit einem Einschlag von Hirtennomadismus. Sie bewohnen ein Gebiet, das bis runter an den Äquator reicht, nach Kenia und nach Somalia hinein. Sie gehören sicher zu den am stärksten herrschaftsfrei organisierten Gruppen. Die Burji-Konso hingegen sind eine Bevölkerung von sesshaften Bergbauern.

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Man kann sagen, dass diejenigen Bevölkerungsteile, die der kuschitischen
Sprachfamilie angehören, weitgehend egalitär organisiert sind. Diese
Gesellschaften haben eine akephale oder, wie ich lieber sage, eine
polykephale Grundstruktur.

Die Ausdrücke »akephal« und »polykephal« müssen Sie erklären.

»Akephal« ist ein Begriff, der sich in der Ethnologie für
herrschaftslose Gesellschaften weitgehend durchgesetzt hat. Ich verwende
ihn nicht so gerne. »Akephal« bedeutet soviel wie kopflos. In diesen
Gesellschaften können jedoch viele Köpfe entscheiden. Deshalb bezeichne
ich sie als polykephal. Beide Begriffe bedeuten jedoch im Grunde
dasselbe: eine herrschaftslose Gesellschaft. Auch der etwas aggressivere
Begriff der Anarchie trifft das, was gemeint ist.

Die meisten Sozialwissenschaftler glauben, dass es so etwas wie eine
herrschaftsfreie Gesellschaft nicht geben könne. Ist das in der
Ethnologie genauso?

In der heutigen Ethnologie ist es umgekehrt. Die Existenz
herrschaftsfreier Gesellschaften wird nicht mehr geleugnet. Der
Ethnologe David Graeber meint, es sei unser »kleines, schmutziges
Geheimnis«, dass es tatsächlich anarchistische Gesellschaften gibt.
Allerdings treten immer wieder einzelne Ethnologen auf, die
beispielsweise geringfügige Unterschiede in der Verteilung des Reichtums
zum Anlass nehmen, von Herrschaftsstrukturen zu sprechen.

Oft heißt es, bestenfalls ganz kleine Gruppen könnten sich organisieren,
ohne Herrschaftstrukturen herauszubilden.

Man bezieht sich dann auf sogenannte Jäger- und Sammlergesellschaften.
Hier ist das Fehlen von Herrschaft selbst für Skeptiker nicht zu
übersehen. Das bedeutet aber nicht, dass größere Gesellschaften nicht in
der Lage wären, sich ohne Herrschaft zu organisieren. Bei den Oromo sind
es momentan noch etwa zwölf Millionen Menschen, auf die ich die
Bezeichnung polykephal anwenden würde. Die Somali haben in Somaliland
und Puntland zwei stabile Gemeinwesen gegründet, in denen traditionale
polykephale Strukturen zum Tragen kommen. Das sind Großgesellschaften,
die sich vor Jahrzehnten von dem vom Krieg zerstörten Somalia
abgespalten haben, aber von der Weltgemeinschaft nicht anerkannt werden.
Bereits in den 1940er Jahren hatten britische Ethnologen, Vertreter der
Social Anthropology, im Auftrag der Kolonialverwaltung eine Reihe von
Studien über herrschaftsfreie Gesellschaften angefertigt, die mehrere
hunderttausend Menschen umfassten. Man wollte die Funktionsweise dieser
Gesellschaften verstehen, um sie besser kontrollieren zu können. Dabei
ist man aber zu wichtigen Erkenntnissen über herrschaftsfreie Strukturen
gelangt.

Seit dem 18. Jahrhundert wird gesagt, dass egalitäre
Stammesgesellschaften im Verschwinden begriffen seien. Sie beschreiben
in Ihrem Buch, wie solche Strukturen, die in Südäthiopien bereits
abgeschafft worden waren, in jüngerer Zeit wieder zurückkehrten.

Im äthiopischen Kaiserreich wurden die Angehörigen herrschaftsloser
Völker unterdrückt, man kann sogar sagen versklavt. Nach der Eroberung
der freien Völker des Südens, die etwa um 1900 abgeschlossen war, wurden
jedem Soldaten 20 Personen als Arbeitskräfte zugeteilt. Man hat dann
Herrschaftsstrukturen von oben eingeführt, indem man Inhaber religiöser
Ämter mit politischen Machtbefugnissen ausstattete. Das waren also von
der Regierung eingesetzte »Häuptlinge«, die es zuvor nicht gab. Sie
waren der Verwaltung gegenüber verantwortlich. Während das Gros der
Bevölkerung in Knechtschaft leben musste, hat man diese Häuptlinge mit
bestimmten Privilegien ausgestattet. Dieser Zustand wurde 1974 durch die
Revolution beendet.

Wie ist die marxistische Regierung mit diesen Gesellschaften im Süden
umgegangen?

Sie hat versucht, eine sozialistische Sozialordnung einzuführen, ohne zu
wissen und zu berücksichtigen, dass sie es mit Gesellschaften zu tun
hatte, in denen noch basisdemokratische Verhältnisse vorhanden waren. Es
wurden Kampagnen durchgeführt, bei denen Studenten und Schüler aus der
Hauptstadt Addis Abeba auf das Land geschickt wurden, um die neue
Ideologie bekannt zu machen und sie durchzusetzen. Dabei sind sie auf
der einen Seite gegen die vom vorherigen Regime eingesetzten Häuptlinge
vorgegangen. Auf der anderen Seite haben sie die traditionelle Religion
sehr stark bekämpft, die eng mit dem verbunden war, was an
herrschaftsfreien Strukturen noch vorhanden war. Die Bevölkerung hat
dann versucht, die Anordnungen der neuen Regierung zu unterlaufen.
Nachdem die sozialistische Regierung 1991 abgelöst und ein föderales
System eingeführt worden war, traten die traditionellen Strukturen
wieder mehr zu Tage. Sie waren von der staatlichen Verwaltung kaum
beachtet worden. Mit Ausnahme von Schwerkriminalität liegt die
Gerichtsbarkeit heute bei den einzelnen Kommunen auf dem Land.

Oft wird gesagt, dass es da, wo es keine Aufklärung gegeben hat, auch
eine freie und demokratische Gesellschaft nicht geben könne.

Das ist ein Argument, das beispielsweise von dem Philosophen Jürgen
Habermas vorgebracht wird, der eine Theorie des herrschaftsfreien
Diskurses entwickelt hat. Aber ich halte das für unsinnig.

Die Leute, die ich kennenlernen durfte, praktizieren eine solche
Kommunikation ohne Hierarchien. Auf sie trifft die Bezeichnung eines
»Zoon politikon« zu (»politisches Tier«, Aristoteles’ Definition des
Menschen; jW). Es handelt sich um wirklich politische Menschen. Sie sind
in Kommunikationsstrukturen hineingewachsen, die sie an Streit und
Diskussionen gewöhnt haben. Sie müssen sich intellektuell mit
komplizierten Problemen befassen, die auftauchen, wenn eine Vielzahl von
Institutionen, Interessen und Meinungen aufeinandertrifft. Die
Strukturen sind sehr flexibel und werden lebendig gehalten. Die Borana
berufen beispielsweise alle acht Jahre ein großes Treffen ein, bei dem
3.000 Abgeordnete dieses Volkes für mehrere Monate zusammenkommen, um
die vorhandenen gesellschaftlichen Spielregeln und Richtlinien zu
überprüfen. Gegebenenfalls werden sie modifiziert, oder neue Regelungen
werden vereinbart. Dabei spielt die Mündlichkeit eine große Rolle. Die
Vereinbarungen prägen sich so besser ein, und es besteht die Möglichkeit
der Variation und Weiterentwicklung.

Wenn Regeln nicht schwarz auf weiß nachgelesen werden können, ist es
doch leichter, Leute hinters Licht zu führen. Schafft die mündliche
Überlieferung nicht vor allem Möglichkeiten der Manipulation?

Nein, denn wenn jeder das gleiche Recht hat und niemand daran gehindert
wird, seine Meinung zu äußern, bleibt für Manipulation nur wenig
Spielraum. Es wird immer darauf geachtet, dass sich niemand über den
anderen erhebt. Das trifft in besonderem Maße für die durchaus
vorhandenen Würdenträger zu. Das schlimmste Vergehen ist der
Amtsmissbrauch. Damit ist nicht wie etwa bei uns Korruption gemeint,
sondern Machtanmaßung. Wenn solche Autoritäten den ihnen gesetzten
Spielraum überschreiten, wird das schwer geahndet. Im schlimmsten Fall
schließt man sie aus der Gesellschaft aus.

Wie ist es um das Verhältnis von Männern und Frauen bestellt?

Es gibt Gremien, in denen Männer und Frauen gemeinsam sitzen. Es gibt
welche, die nur aus Männern zusammengesetzt sind, und es bestehen
außerdem reine Frauengremien. Ich erinnere mich an das erste Mal, als
ich 1974 bei der Burji-Konso-Gruppe in eine solche Versammlung
hineingeraten bin, bei der es um Clanangelegenheiten ging. Ich wohnte
damals bei einer Familie in ihrem Gehöft. Die Versammlungen fanden
reihum in den Gehöften statt. An diesem Tag also bei meinen Gastgebern.
Damals beherrschte ich die Sprache noch nicht. Ich dachte zunächst, ich
bin in einer Frauenversammlung. Denn die Frauen hatten die ganze Zeit
das Sagen. Die Männer haben nur ab und zu ablehnend oder zustimmend
genickt oder gebrummt.

Ich habe zunächst zufällig, später auch gezielt, Versammlungen
beigewohnt, in denen Probleme politischer und rechtlicher Natur
behandelt wurden. Dabei konnte ich beobachten, wie die Leute miteinander
umgegangen sind. Es wurde eine breite Öffentlichkeit hergestellt, in der
Männer und Frauen unterschiedlichen Alters und ungeachtet ihrer
sonstigen sozialen Unterschiede frei miteinander kommunizieren konnten.

Gewöhnlich fragen Sozialwissenschaftler danach, warum es diese
Gesellschaften nicht schaffen, einen Staat herauszubilden.

Ich habe genau die umgekehrte Frage gestellt, und die lautet: »Wie
gelingt es ihnen, sich gegen den Staat zu wehren?« Bei den
Gesellschaften, die ich kennengelernt habe, handelt es sich um eine ganz
bewusste Ablehnung von Herrschaftsverhältnissen. Man achtet
beispielsweise darauf, dass die geringfügig vorhandene ökonomische
Ungleichheit nicht zu groß wird. Auch bei uns wird gesagt: Reichtum
verpflichtet. Aber dort werden Reiche wirklich in die Pflicht genommen.
Geiz wird geahndet. Wenn jemand des Geizes bezichtigt wird, kann es
vorkommen, dass junge Männer in sein Haus eindringen, ihn an den
Hauspfosten binden, eine seiner Ziegen schlachten und alles verzehren,
was sie finden können. So eine Aktion wird dann nicht etwa als
Regelverstoß geahndet, sondern als durchaus gerechtfertigt gewertet.
Derjenige, dem so etwas geschieht, wird ausgelacht. Er wird sich
hinterher auch nicht beklagen.

Die polykephalen Gesellschaften sind umgeben von hierarchisch verfassten
Gesellschaften. Sie leben mittlerweile innerhalb der Grenzen eines
modernen Staates, der einen mehr oder weniger großen Einfluss hat. Doch
schon zuvor hatten sie in Nachbarschaft zu autochthonen Staatsgebilden
gelebt. Was Südäthiopien betrifft, ist da vor allem das nordäthiopische
Kaiserreich zu nennen. Hinzu kommt das nahgelegene Königreich Kaffa, das
ziemlich bedeutend gewesen ist. Gegen diese Staaten haben sie sich zur
Wehr gesetzt.

Auf welche Weise taten sie das?

Sie haben sich nach außen abgegrenzt und zudem darauf geachtet, intern
keine Machtgefälle entstehen zu lassen. Ich habe selbst erlebt, wie
Angehörige der Burji-Konso-Gruppe von den Gebräuchen ihrer Nachbarn aus
dem ehemaligen Königreich Kaffa erzählten und diese ins Lächerliche
zogen. Sie machten sich darüber lustig, dass man dort vor Würdenträgern
auf die Knie fällt oder sie inständig um etwas bittet. So ein
unterwürfiges Verhalten wurde gerne karikiert. Meine Gesprächspartner
betonten, dass sie sich nicht von irgendwelchen Leuten sagen ließen, was
sie zu tun oder zu lassen hätten.

Herrschaftsfreie Gesellschaften sind doch ein Phänomen, das nicht nur
auf Afrika beschränkt ist, oder?

Keineswegs. Es handelt sich um ein weltweites Phänomen. Auch auf Bali,
wo ich mich ebenfalls zu Forschungszwecken aufhielt, habe ich eine
solche Gesellschaft kennengelernt. Man kann die Philippinen hinzufügen
und Madagaskar. Es gibt das auch bei Anarchisten beliebte und von Karl
Marx und Friedrich Engels schon im 19. Jahrhundert beschriebene Beispiel
des Irokesenbundes in Nordamerika. In Lateinamerika gibt es viele
Beispiele für derartige Gruppen. Die Zapatisten in Chiapas bauen zum
Teil auf traditionellen egalitären Strukturen auf. Der Wunsch nach
Gemeinsamkeit ohne Hierarchie scheint im Menschen angelegt zu sein.

Der Agrarwissenschaftler James C. Scott sagt, viele Bergvölker in
Südostasien hätten sich gebildet, indem Menschen in den vergangenen
2.000 Jahren vor den sich in den Tälern ausbreitenden Staaten geflüchtet
sind. Ihre egalitäre Struktur resultiere aus dieser Staatsfeindschaft,
argumentiert er in seinem vielbeachteten Buch »The Art of Not Being
Governed. An Anarchist History of Upland Southeast Asia« aus dem Jahr
2009. Die gebirgige Region, die er Zomia nennt, umfasst Teile des
heutigen Südchinas, Myanmar, Laos und Vietnam. Dort leben ungefähr 100
Millionen Menschen.

Ich finde es faszinierend, was er über Zomia schreibt, und kann seinen
Thesen weitgehend folgen. Ich denke, es handelt sich aber nicht nur um
eher zufällige Gründungen von Kleingruppen, die dem Staat ausgewichen
sind, sondern wenigstens zum Teil um eine ganz bewusste, auch
ideologisch begründete Abkehr. Ganze Armeen sind in die Berge
geflüchtet. Zum Teil mögen auch ideologische oder religiöse Strömungen
wie der Taoismus eine Rolle gespielt haben.

Kann eine sozialistische Bewegung etwas von solchen Gesellschaften lernen?

Die Ethnologie kann keine Handlungsanweisungen geben. Sie kann zum
Nachdenken anregen. Es ist wichtig zu wissen, dass es andere
Möglichkeiten des Zusammenlebens gibt. Man kann das nicht einfach
nachbauen. Wir sollten uns aber, verdammt noch mal, überlegen, wie wir
selbst eine herrschaftsfreie Gesellschaft entwickeln können.

Das Gespräch führte Thomas Wagner

Hermann Amborn geboren 1933 in Braubach, ist emeritierter Professor für
Ethnologie. Er machte eine Ausbildung als technischer Zeichner und wurde
zunächst Ingenieur. Nach einer längeren Reise kam er zur Ethnologie und
lehrte als Professor in München. Forschungsaufenthalte führten ihn bis
in die jüngste Zeit immer wieder nach Südäthiopien Materialien zu seinem
Buch »Das Recht als Hort der Anarchie« können online auf dem
Open-Access-Server der Ludwig-Maximilians-Universität eingesehen werden:
kurzlink.de/Amborn_Material

Hermann Amborn: Das Recht als Hort der Anarchie. Berlin 2016, Matthes
und Seitz, 285 Seiten, 18 Euro

[ssba]