Helmut Kirschey (* 22.01.1913 – † 23.08.2003)

Aus: „Graswurzelrevolution“ Nr. 284 (Dezember 2003)
Am 23. August 2003 starb Helmut Kirschey in Göteborg. Er war vermutlich der letzte überlebende deutsche Freiwillige, der im Spanischen Bürgerkrieg in der legendären „Kolonne Durruti“ kämpfte.
Ich lernte Helmut im Sommer 1983 kennen. Er besuchte damals einen alten Freund und Genossen in Wuppertal, den Ulrich Klan und ich im Zuge unserer Recherchen zum Anarchosyndikalismus im Rheinland kennen gelernt hatten. Ich erinnere mich noch genau an diese erste Begegnung, die über die Frage, warum Helmut, der als Anarchosyndikalist fast ein Jahr in Spanien von Stalinisten inhaftiert worden war, Mitglied der Kommunistischen Partei Schwedens geworden war, in eine lautstarke Diskussion mündete.

Bis zu seinem Tode haben wir über diese Frage oft privat und auf vielen öffentlichen Veranstaltungen diskutiert; zuletzt im Mai 2003 in Wuppertal. Als ehemaliger Emigrant war Helmut von der Stadt Wuppertal eingeladen worden. Diese Einladung hatte für Helmut einen hohen symbolischen Wert. Es bedeutete für ihn die offizielle Anerkennung seines Widerstands gegen das NS-Regime.

Helmut wurde am 22. Januar in Elberfeld geboren. Sein Vater, ein aktiver Sozialdemokrat, fiel 1917 an der Front. Was dann folgte, schilderte der damals vierjährige Helmut folgendermaßen: „Eine Erinnerung, die so weit zurückreicht, ist der Hunger und ihre Konsequenzen. Nachdem der Vater gefallen war in Frankreich, musste meine Mutter Arbeit suchen, um ihre sechs Kinder zu versorgen. Sie bekam eine Arbeit auf dem Viehhof und ich sehe heute noch das Bild, wenn sie manchmal von der Arbeit kommend aus dem BH [Büstenhalter] ein Stück Fleisch herausholte, dass sie natürlich gestohlen hatte.“

Aber kleine ‚Diebstähle‘ waren nicht die einzige Antwort von Auguste Kirschey auf die katastrophalen Lebensbedingungen während des Krieges, von denen vor allem die kinderreichen Familien betroffen waren. Sie wurde zunächst Mitglied der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) und Ende 1920 der KPD. Zugleich war sie Referentin des „Internationalen Bundes der Opfer des Krieges und der Arbeit“, der sich um die Renten- und Versorgungsansprüche der Kriegsopfer und -witwen kümmerte. Im Mai 1924 wurde sie zur Stadtverordneten der KPD in Elberfeld gewählt. Am 23. August 1924 starb sie an den Folgen einer Blinddarmoperation im Alter von 40 Jahren.

Es war außergewöhnlich, das eine Frau mit sechs Kindern öffentliche Funktionen in der KPD übernahm. Vom politischen Engagement der Mutter erzählte Helmut immer mit großem Stolz. Er führte sein eigenes und das politische Engagement seiner Geschwister vor allem auf das Vorbild der Mutter zurück. Sein Bruder Willi (geb. 1906) arbeitete seit 1931 hauptamtlich für die KPD in Berlin, sein Bruder Walter (geb. 1908) war seit 1931 Mitglied des Zentralkomitees des Kommunistischen Jugendverbandes und sein Bruder Alfred (geb. 1911) Unterbezirkssekretär des KJVD in Wuppertal. Aufgrund dieser Familientradition war es selbstverständlich, dass Helmut und sein jüngerer Bruder Hans (geb. 1915) innerhalb der kommunistischen Bewegung aufwuchsen. Als 6jähriger wurde Helmut Roter Pionier und mit 14 Jahren Mitglied des KJVD.

Aber im Unterschied zu seinen Brüdern, die kommunistische Funktionäre wurden, verließ Helmut 1931 den KJVD. Beeinflusst von einem Onkel schloss er sich der Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend (SAJD) und der Freien Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) an. „Der Grund dafür, dass ich die kommunistische Bewegung verließ, war also der, den man immer wieder diskutiert hat: der Zentralismus und wie Stalin seine Macht missbrauchte. (…) Die Atmosphäre in der anarchosyndikalistischen Bewegung gefiel mir ausnehmend gut. Sie war antiautoritär und das genaue Gegenteil des autoritären Geistes innerhalb der kommunistischen Bewegung, außerdem konnte man verschiedenen Meinung sein und offen diskutieren, ohne deswegen als Verräter angesehen zu werden.“

Die Wuppertaler Anarchosyndikalisten waren nicht sehr zahlreich aber dafür sehr aktiv und militant, vor allem die Gruppe der SAJD, die für Helmut auch eine Art Familienersatz wurden, denn nach einem Streit mit seiner Schwester war er 1931 aus deren Wohnung ausgezogen.

Helmut lebte seit 1932 im Hause der Familie Benner, deren Söhne Fritz, Willi und Eugen Aktivisten der SAJD und FAUD waren. Als Reaktion auf die in Wuppertal besonders gewalttätige Nazi-Bewegung hatten die Anarchosyndikalisten eine antifaschistische Kampfgruppe, die „Schwarze Schar“ gegründet. Die Gruppe kaufte einige Waffen, die auch in Notwehr gegen die Nazis eingesetzt wurden. Bei Helmut wurde nach einer Razzia der Polizei eine der Waffen gefunden und deshalb verbüßte er 1932 eine mehrmonatige Haftstrafe.

Im März 1933 wurde er auf offener Straße verhaftet. SA-Leute hatten ihn erkannt und nur den lauten Schreien der Mutter der Genossen Benner verdankte er, dass sich sofort eine Menschenmenge ansammelte, die SA-Männer ihn deshalb nicht abführen konnten und er „nur“ in Polizeigewahrsam genommen wurde. Helmut war dann bis November 1933 in einem alten Gefängnis in Dinslaken, das als KZ umfunktioniert wurde, inhaftiert. Da er nach seiner Entlassung von der Gestapo beobachtet wurde, floh er nach Amsterdam. Dort arbeitete er in der Gruppe „Deutsche Anarchosyndikalisten im Ausland“ (DAS), der offiziellen Auslandsleitung der FAUD. In den Niederlanden lebten die anarchosyndikalistischen Emigranten unter miserablen Bedingungen. Sie wurden sehr solidarisch von niederländischen Syndikalisten, die zu dieser Zeit nur ca. 3000 Mitglieder hatten, die zumeist arbeitslos waren, aber dennoch zehn illegal lebende deutsche Emigranten unterstützten. Helmut verwies immer wieder auf die dort erfahrene Solidarität.

Als die DAS-Mitglieder vom Ausbruch des Krieges erfuhren, war sofort klar, dass sie dorthin wollten. In Spanien konnten sie endlich nachholen, was für sie in Deutschland nicht möglich war: Der bewaffnete Aufstand gegen den Faschismus! Zusammen mit Fritz Benner, der 1935 emigrieren musste, und zwei weiteren Genossen fuhr Helmut mit gefälschten Papieren nach Spanien. An der Grenze wurden sie von anarchistischen Milizionären überschwänglich empfangen. In Barcelona wohnten sie zunächst in einem kollektivierten Luxushotel, wo Helmut den ersten Pyjama seines Lebens trug. Später zogen sie in die Villa des ehemaligen Landesleiters der NSDAP in Spanien, eines Prokuristen der Firma Merck. Der kleinen Gruppe DAS, die zu diesem Zeitpunkt rund 40 Mitglieder zählte, war von der mächtigen CNT/FAI in Barcelona die Kontrolle über alle deutschsprachigen Ausländer in Katalonien übertragen worden.

In diese Arbeit wurde Helmut mit eingebunden. Als Anarchist versah er die Funktion eines „Ausländerpolizisten“, wie er das später ausdrückte. Nach internen Querelen in der Gruppe DAS ging Helmut im Februar im Februar 1937 an die Front; er kämpfte in der Internationalen Kompanie der Kolonne Durruti. Bei Kämpfen bei Tardienta im April 1937 wurde die Internationale Kompanie aufgerieben. Fast die Hälfte der 102 Angehörigen fiel oder wurde schwer verletzt. Obwohl Helmut immer wieder die Notwenigkeit des bewaffneten Kampfes immer wieder betont hat, lag es ihm fern, diesen Kampf zu glorifizieren. Im Gegenteil: Noch in seinen Erinnerungen wirkt die Erschütterung über die Erlebnisse nach: „Ich hatte noch nie in meinem Leben solche Angst gehabt, ich war so entsetzt, dass ich mir schlicht und einfach in die Hosen schiß. Trotzdem kämpfte ich weiter, aber ich schob alles beiseite, solange der Kampf andauerte.“

Am 2. Mai 1937 begannen die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Stalinisten und Anarchisten in Barcelona. Die danach folgende Repression richtete sich vor allem gegen die POUM und auch gegen die ausländischen Sympathisanten der CNT/FAI. Helmut wurde mit anderen Anarchosyndikalisten verhaftet und saß zunächst in kommunistischen Geheimgefängnissen in Barcelona und Valencia und bis April 1938 in einem staatlichen Gefängnis in Segorbe.

Nach seiner Entlassung konnte er nicht in Spanien bleiben. Helmut lebte zunächst einige Monate in Frankreich und den Niederlande und gelangte schließlich Anfang 1939 nach Göteborg. Dort lebte er zusammen mit seinen Wuppertaler Genossen Fritz Benner und Hans Vesper, einem Seemann, der in der Internationalen Transportarbeiterföderation organisiert war, die im Widerstand gegen den Nationalsozialismus eine große Bedeutung hatte. In Zusammenarbeit mit der ITF war Helmut während des Krieges illegal tätig in Schweden.

1940 lernte er seine spätere Frau in Göteborg kennen. Wie wichtig dies für sein Leben war, schreibt er in seinen Erinnerungen: „Gerade in diesem Jahr, 1940, ging es mir psychisch und finanziell besonders dreckig. In dieser Situation war es wunderbar, einem Menschen zu begegnen, der sich für mich interessierte.“

In den 50er Jahren trennte sich Helmut von der syndikalistischen Bewegung; politische Gründe aber auch Enttäuschungen über ihm nahe stehende Genossen waren dafür maßgeblich. Er schloss sich 1968 wieder der Kommunistischen Partei in Schweden an, nachdem diese Stellung gegen den Einmarsch der Sowjetunion in die Tschechoslowakei bezogen hatte. Dennoch hat Helmut seine anarchistischen Wurzeln nie verleugnet und seit den 90er Jahren hatte er wieder enge Kontakte zur SAC.

In den letzten 15 Jahren seines Lebens wurde Helmut in Schweden eine Figur des öffentlichen Lebens. Als deutscher Antifaschist und Spanienkämpfer genoss er großes öffentliches Ansehen und er war ein gefragter Zeitzeuge in Schulen, Universitäten und bei politischen Jugendorganisationen. 1998 erschienen seine von dem Journalisten Richard Jändel verfassten Erinnerungen, für die er den Kulturpreis des schwedischen Arbeiterbildungsvereins erhielt.

Als wir uns im Mai in Wuppertal verabschiedeten, sprach er davon, dass es vermutlich ein Abschied für immer sei. Er sah seinem Tod gelassen entgegen. Halb ernst, halb spaßhaft sagte er immer, jeder Tag, den er Hitler überlebt habe, sei für ihn ein Geschenk.

Dieter Nelles

Anmerkungen:

PS.: Die deutsche Übersetzung von Helmuts Erinnerungen ist unter dem Titel „A las Barricadas. Erinnerungen und Einsichten eines Antifaschisten“ im Buchhandel erhältlich oder direkt beim Verlag: Edition Wahler

Originaltext: http://www.graswurzel.net/284/kirschey.shtml

Aus: Graswurzelrevolution Nr. 314 (Dezember 2006)
von Bernd Drücke

Helmut Kirschey und die Spanische Revolution – Ein Leben gegen den Faschismus

Im Oktober 2001 hatte ich das große Glück, den damals 88-jährigen Helmut Kirschey persönlich kennen zu lernen. Der Anarchismusforscher Dieter Nelles machte zu dieser Zeit gemeinsam mit dem Spanienkämpfer eine Veranstaltungsrundrundreise, auch um die mit dem Kulturpreis des schwedischen Arbeiterbildungsvereins ausgezeichnete Biographie „Helmut Kirschey: A las Barricadas. Erinnerungen und Einsichten eines Antifaschisten“ vorzustellen. Als GWR-Redakteur und Infoladen-Bankrott-Kollektivist hatte ich die Veranstaltung in Münster mitorganisiert.

Auch hier erzählte Helmut Kirschey mit dem Elan eines 30-Jährigen seine Lebensgeschichte.

Gelebtes Leben

1913 in Elberfeld geboren, aufgewachsen in proletarischen Verhältnissen in Wuppertal, engagierte sich Helmut früh in kommunistischen Zusammenhängen, löste sich aber 1931 unter dem Eindruck der „Hexenprozesse“ in der Sowjetunion vom kommunistischen Jugendverband und trat der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) bei.

„Der Grund dafür, dass ich die kommunistische Bewegung verließ, war der Zentralismus und wie Stalin seine Macht missbrauchte. Wir waren es auch müde, ständig zu hören ‚Stalin ist das Licht, Stalin ist die Sonne‘ und all dieses Geschwafel. Außerdem war die Partei zentralistisch, und man durfte Kritik nicht einmal andeutungsweise äußern. Es hieß einfach: ‚Die Partei hat es so beschlossen.'“

Die von AnarchistInnen vertretenen Ansichten über die Machtverteilung zwischen unten und oben und der dezentrale Organisationsaufbau der FAUD zogen ihn an.

„Die anarchosyndikalistische Bewegung in Deutschland war eine gewisse Zeitlang eine Massenbewegung mit Hunderttausenden von Mitgliedern gewesen, aber als ich eintrat, bestand sie nur noch aus etwa 4.000 Personen und war auf wenige Städte konzentriert. Trotzdem war die Organisation aktiv.“

Die antifaschistischen Aktivitäten der Wuppertaler AnarchistInnen, an denen sich Helmut beteiligte, hatten Folgen. 1933, nach der nationalsozialistischen Machtübernahme, wurde er verhaftet. Nach acht Monaten Haft im KZ Dinslaken floh er in die Niederlande und engagierte sich bei den Deutschen Anarchosyndikalisten (DAS). Als Exil-Organisation produzierten die DAS Zeitschriften wie Die Internationale, die getarnt als Deutschtum im Ausland ins Reichsgebiet geschmuggelt und dort konspirativ von anarchistischen Untergrundgruppen verbreitet wurden.

Als sich im Sommer 1936 eine anarchosyndikalistische Massenbewegung erfolgreich gegen den Franco-Faschismus wehrte und eine soziale Revolution in Gang setzte, entschlossen sich Kirschey und andere Mitglieder der DAS die anarchistischen KämpferInnen in Spanien zu unterstützen. Nach einer gefährlichen Reise gelang es ihm, „aus der tiefsten Illegalität in Holland nach Port Bou zu kommen, wo es nur so wimmelte von Symbolen der CNT-FAI [Confederación Nacional del Trabajo, ‚Nationale Föderation der Arbeit(er)‘ – Federación Anarquista Ibérica, ‚Anarchistische Föderation Spaniens‘]: auf Armbinden, Mützen, Halstüchern und Fahrzeugen. Wir waren so überglücklich, dass wir weinen mussten.“

In Barcelona produzierten die DAS unter anderem die deutschsprachige Zeitung Soziale Revolution, sowie Radiosendungen, die über Kurzwelle ins Deutsche Reich ausgestrahlt wurden.

„Außerdem fungierten wir als eine Art Anlaufstelle für ausländische Journalisten, Anarchisten und Syndikalisten, die nach Barcelona kamen, um sich über die Ereignisse zu informieren. Die international bekannteste Anarchistin, Emma Goldman, kam im Oktober 1936 nach Spanien. Emma Goldman war eine phantastische Frau, und wir führten lange Gespräche mit ihr. Sie stand der CNT sehr kritisch gegenüber, weil die Organisation sich darauf eingelassen hatte, die Funktion des Staatsapparates zu übernehmen. Sie fand, es sei nicht passend für eine anarchistische Bewegung, sich mit so etwas zu beschäftigen. Wir erklärten ihr, dass wir keine Wahl gehabt hatten und dass es vielmehr darum ging, zu retten, was zu retten war. Wir kämpften gegen eine ganze Welt: Deutschland, Italien und Portugal gaben Franco ihre ganze Unterstützung.“

Anfang 1937 ging Helmut Kirschey als Milizionär der anarchistischen Kolonne Durruti an die Front. Im Mai 1937 wurde er Zeuge der Straßenkämpfe zwischen Stalinisten und AnarchistInnen.

Kurz darauf wurde er gemeinsam mit anderen deutschen AnarchosyndikalistInnen von sowjetischen Geheimagenten verhaftet und sieben Monate lang in ein Gefängnis bei Valencia gesperrt und verhört. Im April 1938 wurde er freigelassen.

Mittlerweile hatten die von Moskau unterstützten Stalinisten die libertäre Revolution erstickt: die anarchosyndikalistische CNT und die anarchistische FAI hatten ihre herausragenden Positionen verloren. Der Sieg des Faschismus rückte näher, und zudem wurden libertäre und antiautoritäre SozialistInnen von Stalins Schergen bedroht. Helmut Kirschey floh deshalb über Paris nach Amsterdam und schließlich nach Schweden.

Dort wurde er für einige Jahre Mitglied der syndikalistischen Sveriges Arbetares Centralorganisation (SAC). Trotz der Gefahr als „unerwünschter Ausländer“ ins nationalsozialistische Deutschland abgeschoben zu werden, schmuggelte er mit schwedischen Eisenbahnern Flugblätter in die Züge, in denen Soldaten der Wehrmacht durchs „neutrale“ Schweden transportiert wurden.

1943 erhielt er seine erste Arbeitserlaubnis, und 1955 wurde er schwedischer Staatsbürger.

Während seines Vortrags am 8. Oktober 2001 in der Aula der ESG Münster sparte Helmut Kirschey nicht mit Kritik an Teilen der autonomen Szene: Während der Proteste gegen den EU-Gipfel im Sommer 2001 seien Teile seiner Heimatstadt Göteborg von „angeblichen Anarchisten“ (Kirschey) verwüstet worden. Das habe rein gar nichts mit Anarchismus zu tun und sei völlig kontraproduktiv. So entspann sich eine heiße „Gewalt“-Diskussion mit den etwa 80 ZuhörerInnen, die Helmuts Meinung zu den Ausschreitungen in Göteborg nur zum Teil akzeptieren wollten.

Helmut sprach ein rheinländisches Deutsch der 20er Jahre, wie es wohl nur jemand sprechen kann, dessen Jugendsprache sich quasi „konserviert“ hat.

Als wir nach der Veranstaltung auf Helmuts Wunsch hin in das gutbürgerliche Restaurant Zum Alten Pulverturm einkehrten, war er begeistert, dass er mit Sara, einer jungen Genossin, Thorsten, einem FAU-Aktivisten, sowie einem zufällig am Nebentisch sitzenden Dänischlehrer auch Schwedisch sprechen konnte.

Helmut und Dieter übernachteten bei mir und blieben bis zum folgenden Nachmittag in Münster. So konnten wir noch lange diskutieren und uns austauschen.

Beeindruckend fand (nicht nur) mein damals achtjähriger Sohn Deniz Helmut Kirscheys riesige Pillendose auf dem Nachttisch, in der diverse Medikamente zu finden waren, die Helmut jeweils zu unterschiedlichen, genau vermerkten Tageszeiten einnehmen musste.

Helmut erzählte, dass er seine schwedische Frau 1940 kennen und lieben gelernt hatte. Die Beiden führten eine lange und glückliche Beziehung. Einmal, in den 1940er Jahren hatte er sich jedoch kurzzeitig in eine andere Göteborgerin verliebt.

Um die Ehe mit seiner geliebten Frau nicht zu gefährden, hatte er dann aber nach kurzer Zeit den Kontakt zu seiner Freundin abgebrochen.

50 Jahre später, seine Frau war schon gestorben, trafen sich beide unverhofft im Altenheim wieder. Die alte Liebe flackerte wieder neu auf, und so schwebte der 88-jährige Helmut auf rosa Wolken, als er uns mit leuchtenden Augen erzählte, wie er nun mit seiner Freundin Hand in Hand durchs Leben gehe.

Zu seiner Freude konnte ich ihm einen kleinen Schatz präsentieren: Ausgaben der oben schon erwähnten Internationale(n) und der Soziale(n) Revolution. Ich hatte diese anarchosyndikalistischen Zeitungen in den 1990ern im Zusammenhang mit den Forschungsarbeiten für meine Dissertation über „Libertäre Presse“ im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG Amsterdam) und in der Geschichtswerkstatt Dortmund gefunden und kopiert. Helmut war begeistert, nach so langer Zeit die von ihm mitproduzierten (und noch heute sehr lesenswerten!) Organe des Anarchosyndikalismus wieder in den Händen zu halten. „Die habe ich seit über 60 Jahren nicht gesehen!“

Und da spielte es auch keine Rolle, dass ich nur Kopien hatte.

Am 23. August 2003 starb Helmut Kirschey im Alter von 90 Jahren in Göteborg

„Er war vermutlich der letzte überlebende deutsche Freiwillige, der im Spanischen Bürgerkrieg in der legendären ‚Kolonne Durruti‘ kämpfte. (…) In den letzten 15 Jahren seines Lebens wurde Helmut in Schweden eine Figur des öffentlichen Lebens. Als deutscher Antifaschist und Spanienkämpfer genoss er großes öffentliches Ansehen, und er war ein gefragter Zeitzeuge in Schulen, Universitäten und bei politischen Jugendorganisationen. (…) Als wir uns im Mai in Wuppertal verabschiedeten, sprach er davon, dass es vermutlich ein Abschied für immer sei. Er sah seinem Tod gelassen entgegen. Halb ernst, halb spaßhaft sagte er immer, jeder Tag, den er Hitler überlebt habe, sei für ihn ein Geschenk“, so Dieter Nelles in einem bewegenden Nachruf.

A las Barricadas – Ein Film über Helmut Kirschey

Drei Jahre nach Helmut Kirscheys Tod und 70 Jahre nach Beginn der Spanischen Revolution haben Volker Hoffmann, Dieter Nelles, Jörg Lange und Angelika Feld eine DVD über den Spanienkämpfer vorgelegt: „A las barricadas“. Der knapp einstündige Film des Wuppertaler Teams begleitet Helmut Kirschey auf einer Erinnerungsfahrt nach Spanien an die Stätten, wo er zwischen 1936 und 1939 aktiv an den Kämpfen des Bürgerkriegs teilnahm.

Der 1989 und 2006 produzierte Streifen ist liebevoll und einfühlsam gemacht. Geschichte von unten, im besten Sinne. Für die, die Helmut Kirscheys Biographie gelesen und ihn bei einem seiner zahlreichen Vorträge erlebt haben, bietet er zudem schöne dejá vues. Vieles von dem, was Helmut dort berichtet hatte, erzählt er auch hier, an den Originalschauplätzen des Spanischen Bürgerkriegs. Der Film ist nicht nur allen zu empfehlen, die sich für die Geschichte des Bürgerkriegs und für das gelebte Leben des Revolutionärs und großen Menschenfreunds Helmut Kirschey interessieren. „Wenn ich erzähle, versuche ich, der Zeit zwischen 1914 und 1945 ein Gesicht zu geben, und die Reaktionen darauf sind immer sehr positiv. Viele Male habe ich Sätze gehört wie: ‚Die Lehrer haben davon erzählt, und wir haben nicht alles verstanden, aber wenn Sie darüber sprechen, ist es etwas ganz anderes.‘ Das freut mich zu hören, dabei habe ich nur das erste Jahr der Hitlerzeit mitgemacht, das Allermeiste blieb mir erspart.“

Der Film sollte nicht nur in Libertären Zentren, sondern unbedingt auch in Schulen und Universitäten gezeigt werden. Denn das sozialrevolutionäre Feuer, das ein Leben lang im Herzen des Antifaschisten Helmut Kirschey loderte, könnte auch jene erfassen, die dieses dokumentarische Werk sehen.

http://www.graswurzel.net/314/kirschey.shtml

[ssba]