Zum Tod des Künstlers Fermin Rocker (*1907-† 18.10.2004)

Der Sohn des Anarchosyndikalisten Rudolf Rocker war einer der letzten Zeitzeugen des Vorkriegsanarchismus in Europa und den USA.
Der Künstler Fermin Rocker (links im Bild, neben seiner Mutter Milly Witkop) ist im Alter von 96 Jahren in London gestorben. Der Sohn des Anarchosyndikalisten Rudolf Rocker war einer der letzten Zeitzeugen des Vorkriegsanarchismus in Europa und den USA. Mit ihm starb eine lebendige Erinnerung an die jiddischsprachige anarchistische Massenbewegung im Londoner East End, die unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs und der Russischen Revolutionen entstanden war.
Fermin Rocker, der nach dem spanischen Anarchisten Fermin Salvochea benannt wurde, wurde am 22. Dezember 1907 geboren. Er verbrachte seine Kindheit im Londoner Stadtteil Stepney Green verbracht, wie er später in dem Buch „The East End Years: A Stepney Childhood“ beschrieb, das 1998 in dem libertären Londoner Traditionsverlag Freedom Press erschienen ist.

Er hatte seinen prominenten Vater bereits in frühen Jugendzeichnungen porträtiert und war fasziniert von ihm. Rudolf Rocker, der 1873 in Mainz in einer katholischen Familie geboren wurde, flüchtete 1892 von Deutschland nach London. Seine Frau Milly Witkop-Rocker, war eine von vier Töchtern einer jüdisch-ukrainischen Familie, von der Rudolf Rocker die jiddische Sprache lernte und so in der Londoner orthodoxen, aber toleranten ostjüdischen Exilgemeinde schnell zu einem anerkannten Vorbild als Lehrer und Fürsprecher wurde. Er half bei der Gründung einer eigenen Gewerkschaft, unterstützte den TextilarbeiterInnen-Streik 1912 und gab von 1898 bis 1914 die jiddischsprachige Zeitschrift „Der Arbeterfraynd“ („Der Arbeiterfreund“) und ab 1899 das Magazin „Germinal“ heraus. 1902 gründete sich eine Föderation jüdischer anarchistischer Gruppen und Rudolf Rocker wurde als deren Delegierter zum Internationalen Anarchistischen Kongress geschickt, der 1907 in Amsterdam stattfand.

So kam Fermin Rocker schon früh mit anarchistischer Philosophie in Kontakt. Er saß nächtelang bei politischen Treffen, wie denen im Jubilee Street Club, und kannte auch die elterlichen Gäste, wie Emma Goldman, Erich Mühsam, Augustin Souchy, Buenaventura Durruti, Peter Kropotkin und Errico Malatesta. Er spürte die hoffnungsvolle Aufbruchstimmung in der Szene der East-End-Radikalen jüdischer Herkunft, die voller Freiheitsideale und sozialer Utopien gewesen war. Noch kannte man nicht die bodenlosen Abgründe der europäisch-christlichen Zivilisation, die später ihren vernichtenden Rassefeldzug von Nürnberg nach Auschwitz führten.

Doch die Zeiten der Repression nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs machten auch vor der Familie Rocker nicht halt, der prominente Vater wurde als „feindlicher Ausländer“ verhaftet und Fermin besuchte ihn im Sammellager Alexandra Palace in Nord-London. Nachdem auch Milly Witkop-Rocker in Haft genommen wurde, blieb der Familie nur der erneute Weg ins Ausland. Zum Ende des Ersten Weltkrieges fanden sie in Amsterdam wieder zusammen und kehrten 1919 in das Deutsche Reich zurück, wo die sozialistische Novemberrevolution Kaiser Wilhelm II gestürzt und den Weg für die Weimarer Republik frei gemacht hatte.

Fermin Rocker lernte bei seinem Bruder Rudolf, einem Sohn aus der ersten Ehe seines Vaters, das Zeichnen. In Berlin, wo die Familie Rocker seit 1919 lebte, machte Fermin eine Ausbildung als Lithograph (Steindrucker) und besuchte Kurse an der Städtischen Kunstgewerbeschule. Nachdem sich Fermin mit der modernen Kunstszene in Deutschland, wie dem Herausgeber der expressionistischen Zeitschrift „Die Aktion“, Franz Pfemfert, bekannt gemacht hatte, begleitete er 1929 seinen Vater auf einer Vortragsreise in die USA und entschloss sich dort zu leben. In New York verfolgte er – noch ganz unter dem Eindruck von Käthe Kollwitz – seinen bildlichen Realismus ohne sich einer bestimmten Stilrichtung anzuschließen. Als in Deutschland die Nationalsozialisten die Macht übergeben bekamen zwang das Fermins Eltern erneut zur Flucht und so zogen sie ebenfalls in die USA, in die nahegelegene anarchistische Mohegan-Kolonie in Crompond. Fermin mußte jahrelang seinen Unterhalt mit Graphik verdienen, wie durch Comiczeichnungen beim „Popeye“-Produzenten Max Fleischer, aber auch mit Kinderbuchillustrationen und Auftragsmalerei. Seit 1937 nutzte er wieder verstärkt Steindruck und Radierungen und wird allgemein zu der Schule der Amerikanischen Realisten gezählt. Seine erste Einzelausstellung wurde 1944 in New York eröffnet, eine weitere folgte erst im Jahr 1961.

Seit den 1950er Jahren hatte Fermin Rocker in seiner Ölmalerei einen realistischen Ausdruck verfolgt, in dem die Personen seltsam isoliert erscheinen, trotz aller Bewegung und Betriebsamkeit. Ob die Gemälde eine Demonstration unter roten Fahnen zeigen, die Massendeportation baskischer Gefangener durch Francos Truppen oder zum Protest vorstürmende Arbeiter – die Bilder scheinen stets das zugrunde liegende sozial-politische Prinzip des Dargestellten zu illustrieren. In seinen Portraitbildern hingegen zeigt sich Fermin Rockers durchaus einfühlsame Detailfreude. Nicht nur die berühmte Schwarzweiss-Portrait seines Vaters, auch sein Familienbildnis fällt auf durch charakterliche Darstellung und zurückhaltende Dramatik.

Es dauerte jedoch bis in die 1970er Jahre, daß Fermin Rocker von seiner Kunst leben konnte. Zu der Zeit war er mit seiner Frau Ruth Robins (die schon 1989 verstarb) aus den USA nach London zurück gekehrt, wo er in den letzten zwanzig Jahren mit über zehn Einzelausstellungen eine gewisse Beliebtheit erlangte. Auch in der anarchistischen Szene Grossbritanniens wurde der Sohn des weltbekannten Rudolf Rocker nie vergessen. Sein Sohn Philip, der sich um den alternden Fermin kümmerte, berichtete, daß die Zeitung Freedom jeden Monat ein kostenloses Exemplar schickte, ohne daß sie abonniert worden wäre. Die Stephen Bartley Gallery in London widmete Fermin Rocker zu seinem 90. Geburtstag eine große Ausstellung und in Deutschland zeigte im Frühjahr 2002 die Berliner Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Werkschau zusammen mit einer Podiumsdiskussion über „Rudolf Rocker und der Anarchismus im Widerstand gegen Hitler“.

Fermin Rocker malte bis zu seinem Lebensende in seiner Dachgeschoßwohnung am Londoner Tufnell Park, wo er am 18. Oktober 2004 in seinem Bett an einer Grippeerkrankung verstarb. Am nächsten Tag eröffneten über hundert Trauergäste und KunstfreundInnen in der Londoner Chambers Gallery wie geplant eine Rückschau auf die siebzigjährige Kunstproduktion des verstorbenen Künstlers. Sein Leichnam wurde am 1. November in Nord-London verbrannt und seine Asche verstreut.

Kinderbuch-Illustrationen von Fermin Rocker:
– Natalie Savage Carlson: „A pet for the Orphelines“ (in Braille-Schrift, die Druckversion wurde illustriert von Fermin Rocker), Cincinnati 1964.
– Betty Horvath: „Hoory for Jasper“ (Illustrated by Fermin Rocker), New York 1966 (ISBN 0531016889).
– William Sydney Porter (Pseudonym: O. Henry): „The gift of the magi, and five other stories“ (Illustrated by Fermin Rocker), New York 1967.
– Carol Ryrie Brink: „Winter cottage“ (Drawings by Fermin Rocker), New York 1968.
– Carol Ryrie Brink: „Two are better than one“ (Drawings by Fermin Rocker), New York 1968.
– Karin Anckarsvard: „Struggle at Soltuna“ (Illustrated by Fermin Rocker), New York 1968.
– Elizabeth Jane Coatsworth: „Indian mound farm“ (Drawings by Fermin Rocker), New York 1969.
– Jean Bothwell: „The Mystery Candlestick“ (Illustrated by Fermin Rocker), New York, 1970.
– Lorraine Henriod: „Marie Curie“ (Illustrated by Fermin Rocker), New York 1970,
– Patricia Miles Martin: „Thomas Alva Edison“ (Illustrated by Fermin Rocker), New York 1971.
– Charles P. Graves: „The Wright brothers“ (Illustrated by Fermin Rocker), New York 1973.
– Winifred Cawley: „Gran at Coalgate“ (Illustrated by Fermin Rocker), Oxford 1974 (ISBN: 0192713663).
– Peter Carter: „The Gates of Paradise“ (Illustrated by Fermin Rocker), Oxford 1974 (ISBN 0192713671).
– Johanna Reiss: „The Journey Back“ (Illustration by Fermin Rocker), Oxford 1977 (ISBN 0192714031).
– Johanna Reiss: „The Upstairs Room“ (Illustrated by Fermin Rocker, Cover by Sarah Simpson), London 1979.
– Bernard Ashley: „The Trouble with Donovan Croft“, (Illustration by Fermin Rocker), Oxford 1980 (ISBN 0192771019)

Literatur zu Fermin Rocker:
– Fermin Rocker: „East End. Eine Kindheit in London“, Edition Thelème, Münster 1993 (ISBN 3-927982-21-0), (englische Ausgabe: „The East End Years: A Stepney Childhood“ Freedom Press, London 1998, ISBN 0900384921).
– Peter Wienand: „Der ‚geborene‘ Rebell: Rudolf Rocker. Leben und Werk“. Mit einem Geleitwort von Fermin Rocker. Karin Kramer Verlag, Berlin (West) 1981 (ISBN 3-87956-106-0).
– William J. Fishman: „East End Jewish Radicals“, 1975,
– Ralf Sotscheck: Porträt Fermin Rockers im TAZ-Magazin Nr. 7501 (22. März 2003, http://www.taz.de/pt/2003/03/22/a0348.nf/text).
– Anthony Rudolf: „Fermin Rocker. Anarchist’s artist son likened to Edward Hopper“, The Independant (October 20, 2004).
– Andrew Whitehead: „Fermin Rocker. Painter from a family of London anarchists“, The Guardian (October 26, 2004).

Film über Fermin Rocker:
„Nicht aus der Haut – ein Film über Fermin Rocker“, Deutschland 2004, 27 Min, Beta SP, von Karin Schlicht und Angelika Waniek ( angel@muthesius.de),

Infomedia

Links zu Fermin Rocker:

East London History
RosaLux
Rosa-Luxemburg-Stiftung
Chambers Clockend
Internationales Institut für Soziale Geschichte
Ainfos.ca
Art Critical
Nothingness

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