Direkte Aktion – Zum Verständnis eines Konzeptes

Dieser Beitrag, der sehr ausführlich das für den Anarcho-Syndikalismus zentrale Element der „Direkten Aktion“ behandelt, erschien im Sommer 2000 in der US-amerikanischen Zeitschrift „Anarcho-Syndicalist Review“ (vormals „Libertarian Labor Review). Der Autor Harald Beyer-Arnesen ist ein Anarchosyndikalist aus Norwegen.

Zum besseren Verständnis des Inhaltes ist es vielleicht wichtig zu wissen, dass es einen konkreten Anlass für den Artikel gab. Er besteht in einer Auseinandersetzung mit der Renaissance des Begriffes „Direkte Aktion“ in Folge der Auseinandersetzungen um das Treffen der Welthandelsorganisation (WTO) im Jahre 1999 in Seattle.

Der Autor setzt sich damit auseinander, ob es es sich bei den Aktionen gegen das Treffen tatsächlich um Formen direkter Aktion handelte. Diese Bezüge scheinen vielleicht nicht so wichtig, die entsprechenden Passagen wurden aber dennoch beibehalten, weil davon ausgegangen werden kann, dass sich ähnliche Aktionen in den nächsten Jahren häufen werden; die Auseinandersetzung darum also nichts an Bedeutung verlieren wird.

Da der Beitrag wichtige Argumentationen dafür liefert, dass es die Kampfform der direkten Aktion nicht losgelöst von Organisierung und Klassenbezug geben kann, sollten diese Passagen also nicht einfach überlesen werden.

Unabhängig vom konkreten Anlass, stellt der Autor sehr ausführlich das Konzept der direkten Aktion vor, gibt Beispiele, versucht einzugrenzen und setzt die direkte Aktion in Bezug zu anderen Kategorien wie z.B. Solidarität, Organisierung, Propaganda durch die Tat.

Direkte Aktion

Die Direkte Aktion, zu ihrem endgültigen und logischen Ende gedacht, ist die libertäre soziale Revolution: die Übernahme, Neuorganisation, Transformation und Zerstörung (dort wo sie nicht den menschlichen Zielen dient) der Produktionsmittel (die die materiellen Werkzeugen der Freiheit sind) durch die Arbeiterklasse und die Entwaffnung der Kräfte, die die alte Ordnung beschützten. Wenn wir von einer wahrhaft sozialen Revolution sprechen, kann diese nichts anderes bedeuten, als die kollektive, direkte Aktion der Arbeiterklasse, die in diesem Prozess sich selbst als Klasse aufhebt und damit auch den Staat und die Klassengesellschaft und uns alle auf diese Weise zu BewohnerInnen einer von uns selbst geschaffenen Welt macht.

Es gibt viele, die in diesen Tagen von direkter Aktion sprechen, doch die Zahl derer, die versucht ihre Bedeutung zu ergründen und sich die Frage stellt, um welch eine Art von Werkzeug es sich bei ihr handelt, ist geringer. Diese Frage hat nichts mit Wortklauberei zu tun, es geht bei ihr um etwas Grundsätzliches. Sie berührt den Kern des gesamten anarchistischen, sozialrevolutionären Projekts, in dem die „Emanzipation der arbeitenden Klassen von den arbeitenden Klassen selbst durchgesetzt werden muß“ und in dem die Mittel von den Zielen bestimmt und in ihnen enthalten sein müssen.

Aus dieser Sicht heraus können wir direkte Aktion als eine Aktionsform definieren, die von niemandem als uns selbst durchgeführt wird und in der die Mittel immer auch die Ziele sind. Oder in der zumindest – wie z.B. in einem Lohnstreik ohne Vermittlung irgendeiner Gewerkschaftsbürokratie – die Mittel (die Verminderung des Profites durch unsere Nicht-Arbeit und dadurch auch die Reduzierung der Macht des Bosses) in einem direkten Zusammenhang zu unseren selbstdefinierten Zielen stehen (die Erhöhung unserer Löhne und damit die Ausdehnung unserer eigenen Macht). Eine erfolgreich durchgeführte direkt Aktion hat stets eine Neuzusammensetzung der bestehenden Lebensbedingungen durch den gemeinsamen Kampf der direkt Betroffenen zur Folge.

Niemand muß mit dieser Definition bis in Letzte übereinstimmen, aber ich finde sie logisch. Die direkte Aktion ist darüberhinaus ein sehr mächtiges Instrument im Prozess der Entwicklung einer Praxis, in der die zukünftige Gesellschaft in der Eierschale der alten geboren wird. Unter allen Umständen aber muss für uns als Anarchisten und Sozialrevolutionäre die direkte Aktion ein Bestandteil unseres Projektes von menschlicher Emanzipation sein. Direkte Aktion ist allerdings nicht wie schwanger sein, also etwas das man entweder ist oder nicht. Elemente von direkter Aktion können manchmal auch in solchen Aktionen enthalten sein, die nicht alle Bedingungen erfüllen. Ein Teil unserer Aufgabe besteht im Versuch, diese Elemente so dominant wie möglich zu machen, wann immer das geht. Dafür benötigen wir eine brauchbare Definition, etwas das wir anstreben können und an dem wir unsere Aktionen messen können, um auf diese Weise auch ein größeres Bewußtsein von den Quellen unserer Stärken und Beschränkungen zu entwickeln.

Wir werden nicht immer die Stärke haben um unsere Ziele durch direkte Aktion erreichen zu können. Mehr als jede andere Aktionsform verlangt die direkte Aktion nach einer kollektiven, organisierten Kraft. Das wird sich am deutlichsten in der direkten Wiederaneignung der Instrumente für Produktion und Freiheit durch die Arbeiterklasse zeigen. Wir können gemeinsam alles erreichen. Diese Gemeinsamkeit aber herzustellen, das ist die schwierige Aufgabe und wie bei einem unbenutzten Muskel wird die Kraft kollektiver Aktionen durch Passivität geschwächt.

Auf der lokalen Ebene, wo immer noch die meisten unserer Aktionen stattfinden, wird, ebenso auf internationaler Ebene durch die koordinierten Aktionen innerhalb eines kleinen Sektors der Arbeiterklasse, unsere Möglichkeit zur Durchführung direkter Aktionen dadurch beschränkt sein, dass sie noch kein verallgemeinertes Mittel ist. Wir werden sie manchmal anwenden können, aber nicht immer, wenn wir nicht durch die Mächte gegen die wir aufgestanden sind zerschmettert werden wollen. Wenn du rausgeschmissen wirst, kann ein Sitzstreik deinen Job retten. Wenn du aber der einzige bist, der sich hinsetzt, kann es u.U. eine gute Idee sein, zu einem Anwalt oder irgendeinem Gewerkschaftsbürokraten zu gehen.

An diesem Punkt stellt sich übrigens die Frage, wie das Konzept der direkten Aktion mit einem anderen alten Wort im Vokabular der Kämpfe der Arbeiterklasse zusammenhängt, nämlich praktischer Solidarität. Solidarität bedeutet nicht Mildtätigkeit und kann nicht auf Selbstlosigkeit reduziert werden. Sie ist vielmehr etwas, das aus einem Verständnis von gemeinsamen Interessen entspringt. Dem alten IWW-Slogan „ein Angriff gegen Eine ist ein Angriff gegen Alle“ liegt mehr als nur eine moralische Ökonomie zugrunde. Der Satz beschreibt auch eine Tatsache des sozialen Lebens.

Direkte Aktion wurde als Aktion ohne Vermittler definiert. Diese Definition benötigt Erklärung. Aus einer anarchistischen Sichtweise heraus hat direkte Aktion nicht nur etwas mit Solidarität zu tun, sondern auch mit etwas, was die Voraussetzung für Solidarität und das ihr zugrundeliegende Prinzip von direkter Demokratie ist: Nichthierarchische menschliche Kommunikation. Eine solche Kommunikation bildet die Grundlage für das, was direkte Aktion immer ist: individuelle und kollektive Stärkung der eigenen Kraft. Da die direkte Aktion immer ihr Ziel beinhaltet, finden sich in diesem selbstdefinierten Ziel auch immer die Mittel. Je deutlicher die Ziele in den Mitteln sichtbar werden, desto direkter ist die Aktion.

Prostestieren gegen die modernen Päpste und Zaren

Wenn du kein Wasser hast, kann es sein, dass du einen Brunnen graben mußt und dieses Brunnengraben ist eine direkte Aktion. Es kann sein, dass du dazu die Hilfe von anderen brauchst, denen es vermutlich genauso geht, was aus der Sache eine kollektive Aktion macht. Aber innerhalb einer Klassengesellschaft liegen die Dinge meistens nicht ganz so einfach. Es kann sein, dass das Land einem auswärts lebenden Landbesitzer gehört und vermutlich wird ein Zwangsapparat zur Durchsetzung von dessen Besitzrechten existieren. Einfach hinzugehen und einen Brunnen zu graben wäre demnach illegal. Allerdings ist Illegalität nicht zwangsläufiger Bestandteil einer direkten Aktion. Kollektive Selbstschulung zum Beispiel ist eine Form von direkter Aktion, die oft, wenn nicht sogar immer absolut legal ist.

Wir könnten uns vorstellen, dass wir, statt einen Brunnen ohne Genehmigung zu graben, einen Sitzstreik außerhalb des Wohnsitzes des Landbesitzers, des Königspalastes oder des Parlaments organisieren. Vielleicht hätten wir die Presse eingeladen und angekündigt, dass wir sitzenbleiben, bis der abwesende Landbesitzer, eine gesetzgebende Körperschaft oder sonstjemand mit Autorität uns das Recht zugesteht, den Brunnen zu bauen – oder bis wir weggetragen oder sonstwie vertrieben werden.

Das wäre sicherlich ziviler Ungehorsam, ein Rechtsbruch, aber wäre es auch eine direkte Aktion? Kaum. Wir hätten versucht Druck auf eine Autorität auszüben, damit sie ein Entscheidung fällt oder eine andere zurücknimmt. Damit hätten wir ihr uns ihrer Macht oder ihrer Autorität unterworfen eine solche Entscheidung fällen zu dürfen. Anstelle unser Ziel nur von unseren eigenen Bemühungen und Werkzeugen (die in diesem Fall Spaten und Schaufeln gewesen wären) abhängig zu machen, hätten wir die Regeln einer anderen Autorität zwischen unsere Ziele und Mittel gestellt.

Die Werkzeuge ja, die Instrumente von Produktion und Zerstörung, ebenso unsere eigene Kreativität: Verkaufte Stunden unseres Lebens, verwandelt in Instrumente unserer eigenen Ausbeutung. Wir sind diejenigen, die diese Werkzeuge anwenden, aber nicht für unsere eigenen Pläne, Notwendigkeiten und Wünsche. Selten verwenden wir sie als Mittel von direkter Aktion. Die lohnarbeitende Köchin kocht nicht für die Armen als Teil eines kollektiven Projekts in der Zeit, in der sie sich an eine fremde Macht verkauft hat. Stattdessen gibt sie in ihrer unentlohnten Zeit einem Stimmzettel ab, unterzeichnet eine Petition, nimmt an einer Demonstration teil, schmeißt eine Fensterscheibe ein oder bläst ein Gebäude in die Luft. Nichts davon erzeugt etwas unmittelbar Verzehrbares.

Einige versuchen jede außerparlamentarische Aktion als direkte Aktion zu definieren, z.B. jede Demonstration auf der Straße. Aber eine Stellungnahme dazu abzugeben, dass wir irgend etwas wollen oder nicht wollen, wird keinen Berg bewegen. Wenn das alleinige Aussprechen der Worte „Stoppt die Bomben“ dazu führen würde, Bomben mitten in der Luft anzuhalten, wäre die Welt ein besserer Ort. Es ist übrigens auch nicht eben wahrscheinlicher, dass zersplitternde Fensterscheiben einen solchen Effekt hätten.

Der Umstand, dass symbolische Aktionen und Aktionen, die ihre Effizienz aus der schieren Macht gegen die wir kämpfen beziehen, mehr und mehr als direkte Aktionen bezeichnet werden, spiegelt unsere gegenwärtige organisatorische Impotenz, unsere soziale Zersplitterung und einen allgemeinen Mangel an Vertrauen in unsere kollektive Kraft als entlohnte und nichtentlohnte ArbeiterInnen wieder. In bestimmten Situationen können symbolische Aktionen machtvoll sein. Aber sie sollten als das betrachtet werden, was sie bestenfalls sind: Kommunikationsmittel. Ihr vielleicht darüber hinaus gehender Grad an Effizienz liegt im Wesentlichen an der Angst der Besitzer der Welt, dass sie vielleicht von direkteren Aktionsformen gefolgt werden könnten. In der augenblicklichen Situation von Unorganisiertheit oder organisierter Passivität, sind sie symbolische Aktionen oft alles, das wir haben. Aber das darf uns nicht dazu verleiten zu glauben, das sie alles sind, das wir haben können.

Oft, wie jüngst beim Treffen der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle, können wir erleben, dass Proteste, die in aufsehenerregender und manchmal gewalttätiger und zerstörerischer Weise durchgeführt werden, um die Aufmerksamkeit der Massenmedien auf sich zu ziehen, als direkte Aktion bezeichnet werden. Obwohl das oft geleugnet wird, liegt die ganze Logik solcher Aktionen darin, auf die Mächtigen, vermittelt durch den Einfluss einer vermeintlichen „öffentlichen Meinung“, Druck auszuüben. Und in den Zeiten des World-Wide-Web kann sogar eine Demonstration von einigen Dutzend Leuten als ein weltweit bedeutendes Ereignis erscheinen, solange nur die Gerüchte darum breit genug verbreitet werden. Und das obwohl du nur einige Blocks davon entfernt wohnen kannst, ohne von dem Ganzen überhaupt irgendetwas mitbekommen zu haben. Es wäre also vielleicht besser, anstelle von direkter Aktion den Begriff virtuelle oder medienvermittelte Aktion zu verwenden.

Ironischerweise tendieren übrigens sowohl große Proteste, wie die in Seattle, als auch kleinere dazu, von einer Kritik an den Massenmedien gefolgt zu werden, bei der man diesen vorwirft, die Fakten verdreht zu haben, indem sie nur über die aufsehenerregensten Aspekte berichtet haben.

Natürlich kann man, und dies nicht ganz zu Unrecht sagen, dass die Zerstörung von Eigentum in Seattle einen symbolischen Wert hatte, den sie aus dem speziellen Zusammenhang innerhalb dessen sie funktionierte bezogen hat. Ich argumentiere nicht gegen diese Aktionen, obwohl dieser Wert schnell dadurch entwertet würde, wenn das gleiche Vorgehen immer wieder wiederholt würde. Nichtsdestoweniger, wenn man vom symbolischen Wert absieht, hatten diese Aktionen keinen direkte Beziehung zu dem, was sie erreichenwollten. Die Blockade des Treffens oder die Zerstörung von Eigentum waren keine Mittel um eine unmittelbare Änderung der Handelsbedingungen, der Ausbeutung und der Unterdrückung zu bewirken. Sie haben niemanden satt gemacht, haben die Verschmutzung unserer Umwelt nicht verringert oder in sonst einer Weise das Leben der ArbeiterInnen bereichert.

Ausbeutung und Unterdrückung funktionieren immer auf eine konkrete Art und Weise. Die Realitäten dessen aber, wogegen man protestiert und die konkreten Punkte möglicher Änderungen sind den Protestierenden entglitten. Angesichts der Machtlosigkeit unmittelbare Änderungen durchzusetzen, wurde an den Papst und den Zaren appelliert (einige würden sagen, in weniger freundlicher Weise) ihre Kommandogewalt dazu zu benutzen, solche Änderungen vorzunehmen. Anstelle hinzugehen und die Brunnen zu graben, um das Wasser zu finden, wurde von den Hohen und Mächtigen verlangt, uns dazu aufzufordern dieses zu tun.

Und anstelle die herrschende Ordnung davon abzuhalten das Wasser zu verschmutzen, hat man von ihnen gefordert, Gesetze zu erlassen, die das verbieten oder sie aufgefordert keine zu erlassen, die Verschmutzung erlauben. Man appellierte an die Macht ihrer Gesetze und bat um bessere, man bat um einen Papst ohne Gott und einen Zar ohne Land, um einen Kapitalismus, in dem Geld keine Macht beinhaltet. Viele werden das für ein Missverständnis halten: „Wir haben eine Auflösung der WTO gefordert“, werden sie sagen. Aber das, selbst wenn es realistisch gewesen wäre – was es nicht wahr – hätte bestenfalls einen noch nicht ausdefinierten Satz von internationalen Gesetzen und Machtbeziehungen ersetzt durch die vorhandenen oder in Planung befindlichen. Es war eine völlig abstrakte Forderung.

Wenn es ausschließlich darum gegangen wäre, die Zusammenkunft der Delegierten der Welthandelsorganisation zeitweilig zu verhindern, dann hätten die Protestierenden Mittel eingesetzt (ihre Körper), die in Übereinstimmung mit ihren Zielen gestanden hätten. Aber war das wirklich das Ziel? Hoffentlich und wahrscheinlicher, haben sie das eher als Mittel betrachtet.

In der Zeit vor dem Telegrafen und dem Telefon, von moderneren Kommunikationsformen ganz zu schweigen, hätten solche Mittel vielleicht einen unmittelbareren Effekt gehabt und eine wesentlich direktere Verbindung zu den Zielen. Aber heute haben solche Treffen der Hohen und Mächtigen im Wesentlichen eine symbolische Bedeutung. Die Entscheidungsfindung und Koordinierung findet anderswo statt und nicht an einem bestimmbaren Ort zu einer bestimmbaren Zeit.

Ich gehe davon aus, dass die Protestierenden vorhatten, bestimmten zerstörerischen Praktiken im Zusammenhang mit der WTO ein Ende zu bereiten, ebenso wie andere, noch zerstörerische aufzuhalten und nicht nur zur reinen Behinderung des Zusammenkommens einiger Leute an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Wenn Ausbeutung, Unterdrückung und Zerstörung nur in den Köpfen und in den Stellungnahmen der Mächtigen existieren würden, bräuchten wir dem nicht allzuviel Aufmerksamkeit zu schenken. Die hohen Damen und Herren wären dann auch nicht besonders mächtig.

Wenn aus jeder Gemeinde, die von der Politik der WTO (oder genauer vom globalen Kapitalismus) betroffen ist, eine Person unter den Protestierenden von Seattle gewesen wäre, wären sie am falschen Ort gewesen, um Veränderun gen durch direkte Aktionen zu erreichen. Der konkrete und tägliche Ausdruck der WTO-Politik findet in den Gemeinden statt, die sich hinter sich gelassen hätten. Dort wäre der Platz für eine direkte Konfrontation mit dieser Politik gewesen. Auf der anderen Seite hätte eine solche globale Versammlung als eine Gelegenheit dazu dienen können, Aktionen überall auf der Welt zu koordinieren und weniger dazu, sich Gedanken darum zu machen, was hinter den Mauern des Kongressgebäudes vor sich geht, in dem die WTODelegierten versammelt sind.

So wie die Dinge liegen, waren allerdings nicht Menschen aus allen Gemeinden diesen Planeten in Seattle versammelt. Mehr noch, diejenigen, die dort zusammen gekommen sind, waren exakt aus dem Grund dort (so sehr sie vielleicht auch an die Option der direkten Aktion gedacht haben mögen), dass sie (oder besser wir) unfähig sind, die Organisation auf die Beine zu stellen, die nötig wäre, um zuhause durch direkte Aktionen die WTO anzugreifen.

Eine Neubewertung von Propaganda durch die Tat und Solidarität

Ein kritischer Dialog über die Suche nach Aktionsformen, die das Netzwerk von WTO, Internationalem Währungsfond (IWF) und Weltbank ganz, oder im Moment realistischer, teilweise aushebeln könnten, ist kaum jemals angestrebt worden, trotz aller – oder vielleicht sogar wegen aller Behauptungen, man bediene sich Praktiken der direkten Aktion.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass die Hafenarbeiter der Westküste einen politischen Streik gegen die WTO durchgeführt haben. So positiv das auch als Zeichen der kommenden Zeiten sein mag, ging es doch nicht über eine symbolische Aktion hinaus. Die Hafenarbeiter (Docker und Schauerleute) und die Transportarbeiter im Allgemeinen, sind diejenigen Lohnarbeiter mit der offensichtlich größten Fähigkeit, direkt und materiell in die Strukturen des Welthandels einzugreifen. Deswegen auch all die Versuche der letzten Jahre ihre Kraft zu zerstören. Aber diese Arbeiter würden unter keinen Umständen in der Lage sein eine solche Macht über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten , wenn ihre „Propaganda durch die Tat“ nicht direkte Aktionen durch die entlohnten und unentlohnten Arbeiter weltweit oder zumindest maßgeblicher Teile von ihnen zur Folge hätte.

Der Begriff „Propaganda durch die Tat“ erzeugt starke Assoziationen von Bomben, individuellen Verzweiflungstaten oder sozialer Ohnmacht. Aber er muß sich nicht auf so etwas beziehen. Wenn wir mit weltweiten Aufgaben konfrontiert sind, könnte man lokale direkte Aktionen mit dem Ziel kleinere Veränderungen im Hier und Jetzt zu erzielen, oder internationale, die von einem kleinen Sektor der Arbeiterklasse durchgeführt werden, für nicht mehr als einen Tropfen auf den heißen Stein halten. Wenn sie aber erfolgreich sind, verbreiten direkte Aktionen eine Nachricht, die über ihre unmittelbaren Ziele hinausgeht und die die eigentliche Saat einer libertären sozialen Revolution mit sich trägt. Akte von unmittelbarer kollektiver Stärkung der eigenen Kraft neigen dazu beispielhaft zu wirken. Sie zeigen Wege auf, die abseits von bürokratischen Vermittlern und parlamentarischer Vertretung gegangen werden können. Direkte Aktion ist immer „Propaganda durch die Tat“.

Das alles bringt uns zurück zur Frage der Solidarität und nach deren Verhältnis zur direkten Aktion. Diese wurde ja als Aktion definiert, die von niemandem anderen durchgeführt werden kann. Wer sind die direkt Betroffenen und an welchem Punkt hört eine Aktion auf, eine direkte zu sein, weil sie nicht von den direkt Betroffenen durchgeführt wird? Was uns hier interessiert sind natürlich die politischen Auswirkungen der Antwort auf diese Frage.

Die Befürworter der Ideologie der repräsentativen Demokratie, Sozialdemokraten und Leninisten, nehmen alle für sich in Anspruch stellvertretend für „die Leute“, im Interesse „der Leute“ zu handeln. AnarchistInnen haben nicht nur immer abgelehnt, dass die Repräsentanten dieser Ideologien so etwas tun, sondern selbst die dahinter liegende Einstellung, dass sie so etwas auch nur tun könnten. Oder noch weitergehend, selbst wenn sie es könnten, würden wir für uns in Anspruch, dass dies nicht in unserem Interesse wäre, weil der Umstand, dass wir über uns selbst bestimmen nicht mehr und nicht weniger ist, als die Grundlage für unsere Existenz als menschliche Wesen. Was im Übrigen nicht bedeutet, sich dem Einfluß und der Kritik anderer zu entziehen, denn ohne sie wären wir nichts.

Auf der anderen Seite halten wir unsere Prinzipien der gegenseitigen Hilfe und der Solidarität hoch; dass ein Angriff gegen eine ein Angriff gegen uns alle ist und deshalb auch die Sache aller. Wir können über die absurdesten Interpretationen von Nichtvertretung hinweggehen, wie z.B. „Wenn wir eine Person ertrinken sehen, ist das nicht unsere Sorge“. Ob die Rettung oder Nicht-Rettung eines Ertrinkenden als direkte Aktion definiert werden sollte, ist keine Frage von Interesse. Hier geht es nicht um philosophische Rätsel sondern um die Grundlagen der menschlichen Emanzipation.

An dieser Stelle führt die Antwort auf unsere Frage zu einer anderen. Wer hat die Definitionsmacht? Ich definiere die geringen Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen in der Firma X, egal wo diese sich auf der Welt befindet, als meine Besorgnis. Nicht nur aus moralischen Erwägungen, sondern – in Anlehnung an Bakunin – weil in den Händen der Besitzer der Welt, die Ausbeutung und Unterdrückung der anderen zu einem Instrument meiner eigenen Unterordnung wird. Wenn man diese Erwägungen zu ihrem logischen Ende denkt, bringt uns das ganz schnell zurück zur Stellvertretung und zu aufgeklärtem Despotismus. Die Definitionsmacht muß bei den Arbeitern der Firma X liegen. Allerdings würde mich die Teilnahme an einer direkten Aktion auf ihre Initiative hin, oder durch eine gemeinsame Initiative und Zusammenarbeit zum Teil dieser direkten Aktion machen, wenn meine Handlungen sich an die Regeln halten, zum Beispiel durch eine Blockade während eines Streiks. Wir haben unser gemeinsames Interesse verwirklicht.

Es gäbe noch eine ganze Menge, das zu diesem Punkt gesagt werden könnte. Wesentlicher ist aber seine besondere Bedeutung zu verstehen, damit eine vorgeblich direkte Aktion uns nicht auf einen Weg bringt, der uns zu Elitedenken führt und damit weg vom anarchistischen Projekt der individuellen und sozialen Emanzipation.

Wieder einmal sind wir zu der Regel gelangt, dass, je größer die Aufgabe ist, desto kollektiver die Aktion sein muß. Wir sollten nie den Blick darauf verlieren, dass das Konzept der direkten Aktion aus Menschen herrührt, die etwas mit ihrer eigenen Situation tun. Dies ist der Grund, warum es eine so zentrale Stellung innerhalb der Tradition des Anarchismus und des revolutionärem Syndikalismus einnimmt. Die direkte Aktion ist ein Ausdruck der eigenen Macht über unser Leben, unser „Empowerment“. Direkte Aktionen sind einfach schon deshalb vorrangig, wenn nicht sogar ausschließlich, verknüpft mit Formen kollektiver Aktion, weil wir als ArbeiterInnen nur zusammen die Stärke haben, direkt und oft unmittelbar, unsere Lebensbedingungen zu verändern. Je weniger Beteiligte, desto symbolischer werden unsere Aktionen, könnte eine weitere Regel lauten. Sie neigen dann dazu, nicht Mittel zur sofortigen Umgestaltung von Teilen unserer Realität durch unsere eigenen Bemühungen zu sein, sondern in erster Linie der Ruf nach der Macht von anderen.

Während viele dem Trugschluß erliegen, dass wir durch direkte Aktionen der Notwendigkeit zur Organisierung entfliehen könnten, ist genau das Gegenteil der Fall. Direkte Aktionen verlangen generell ein höheres Maß an Koordination. Der Grad unserer eigenen Desorganisation ist der Grad, in dem unser Leben durch andere organisiert wird. Wir sind es, die die Welt schaffen, aber wir machen das als Kollektiv (momentan unter dem Kommando und der Vermittlung der Besitzer der Welt) und deshalb sind es auch wir, die zusammen direkte, grundlegende Änderungen ohne die Vermittlung von außerhalb stehenden Kräfte durchführen können und, in letzter Instanz, die Welt und die Macht über unsere eigenen Schicksale (zurück)erobern können.

Direkte Aktion kann als eine Art von Sprache gesehen werden. Eine Sprache der praktischen Artikulation. Als solche verfügt sie auch über eine symbolische Kraft, die weit über jede rein symbolische Aktion hinausgeht, besonders deshalb, weil die Nachricht in den Mitteln enthalten und nicht von ihnen getrennt ist. Viel von den Gründen unserer derzeitigen Unfähigkeit uns in direkten Aktionen auszudrücken, liegt in der immer mehr zunehmenden Arbeitsteilung innerhalb des modernen Kapitalismus. Nicht so sehr in der Teilung selbst als in dem Mangel, diese in unseren Köpfen und durch Organisierung und Aktion zu überbrücken.

Wir müssen wieder unsere Mittel mit unseren Zielen verbinden. Zurückkehren zu den Lohnstreiks, die bedeuteten und das oftmals immer noch tun, die Bosse durch Streiks dort zu treffen, wo es ihnen am meisten wehtut, bei ihren Bankkonten, indem wir unsere Fähigkeit zur Arbeit verweigern. Warum aber haben die Arbeiter der sich in „öffentlichem Besitz“ befindlichen Straßenbahnen von Melbourne vor zehn Jahren gestreikt, indem sie – die Werkzeuge, die ihnen nicht gehören – zum Nulltarif fahren ließen, während die Bosse zurückgeschlagen haben, indem sie die Bahnen gewaltsam stillgelegt haben? Der Grund ist offensichtlich. Wie es so oft beim öffentlichen Dienst der Fall ist; die Arbeitsverweigerung der Straßenbahnfahrer hätte die Stadtverwaltung keinen Cent gekostet. Es hätte ihr sogar die Ausgaben für die Löhne der Arbeiter gespart. Kostenloser öffentlicher Nahverkehr hingegen, kostete sie etwas.

Was aber noch wichtiger ist. Dies war ein Ausdruck von Arbeitern , die die Werkzeuge, welche ihnen nicht gehören, verwandelt haben sowohl in Mittel für ihre eigenen Ziele, als auch für die Arbeiterklassen-Community in ihrer Gesamtheit. Was ware geschehen, wenn alle entlohnten und nichtentlohnten Arbeiter von Melbourne sich nichthierarchisch organisiert hätten, um das Selbe zu tun, und sei es nur für einen Tag oder eine Woche?

Das wäre ein wirklich machtvolles Symbol unserer Stärke durch direkte Aktion gewesen. Die Realität ist immer noch konkret. Das sollten wir nicht vergessen. Auch im Kampf gegen die Politiken der Welthandelsorganisation, des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank sollten wir nach Möglichkeiten suchen, auf lokaler und globaler Ebene die Werkzeuge, die uns nicht gehören für unsere selbst definierten Notwendigkeiten anzuhalten oder ins Spiel zu bringen.

[ssba]