Von Vera Bianchi in >neues Deutschland<, 08.11.2017 Lesedauer: 4 Min.
Solche Knopfpessare zur Empfängnisverhütung gab es schon in den 1920er Jahren. Derartige Mittel empfahl auch der Syndikalistische Frauenbund.
Foto: Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch
Sie organisieren gemeinsame Waschtage, Nähabende und unterstützen sich gegenseitig in der Kinderbetreuung, im Wochenbett und auch finanziell bei Krankheit oder Gefängnisaufenthalt des Ehemannes.
Ein Publikumsmagnet der Syndikalistischen Frauenbünde sind aber die Informationsabende zur Geburtenkontrolle, an denen auch ganz konkrete Tipps zur Empfängnisverhütung gegeben werden. Üblicherweise ziehen diese Vorträge über hundert Frauen an. Das bisherige Privileg der bürgerlichen Frauen, sich mit Verhütung auszukennen, wird nun auch den Arbeiterinnen zuteil, die sich vorher oft lebensgefährlichen Abtreibungen unterzogen, um nicht weitere Kinder in Armut und Hunger aufziehen zu müssen. Erstaunlich ist, wie viele Verhütungsmethoden bereits in den 1920er Jahren bekannt sind: fast alle außer der hormonellen Empfängnisverhütung (»Pille«).
Die syndikalistischen Frauen organisieren die Veranstaltungen zur Geburtenkontrolle, um ihr Wissen mit anderen Frauen zu teilen – auch mit dem Risiko, strafrechtlich verfolgt zu werden. Traudchen Caspers, aktive Gewerkschafterin und Mitglied des Syndikalistischen Frauenbundes Süchteln im Rheinland, wird 1925 zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie durch die Empfehlung empfängnisverhütender Mittel auf einer Informationsveranstaltung in Düsseldorf die verbotene »Unzucht« gefördert haben soll.
Eng mit diesem Thema verbunden ist das Thema »Gebärstreik«. Dabei werden die biologischen und praktischen Erklärungen zur Verhütung verknüpft mit der politischen Forderung nach dauerhaftem Frieden. »Um nie wieder Söhne als Kanonenfutter für die nationalistischen Ideen der Herrschenden« bereitstellen zu müssen, wird der Gebärstreik propagiert. Zu einer Veranstaltungsreihe des Syndikalistischen Frauenbundes Groß-Berlin zu diesem Thema kommen im April 1921 über 2200 Zuhörer_innen.
Die Anarchistin Milly Witkop-Rocker schreibt hierzu 1922: »Große Proletarierfamilien bedeuten für den Unternehmer billiges Ausbeutungsmaterial und weniger Risiko in den unvermeidlichen Wirtschaftskämpfen zwischen Kapital und Arbeit – für den Staat willkommenes Kanonenfutter im Falle eines Krieges.«
Milly Witkop-Rocker hatte im Dezember 1919 gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Rudolf Rocker die syndikalistische Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) gegründet – war aber nicht ganz zufrieden mit der Ausrichtung der Organisation. Der Syndikalismus ist eine anarchistische Weiterentwicklung des Gewerkschaftskonzeptes, das auch die proletarische Aneignung von Produktionsmitteln vorsieht. Aber auch der Syndikalismusgedanke zielt auf die Organisierung von Fabrikarbeitern und Fabrikarbeiterinnen in den Betrieben.
Da viele Frauen aber außerhalb von Fabriken tätig sind, als Hausfrau, Mutter, als Dienstbotin oder Heimarbeiterin, hält Milly Witkop-Rocker das Konzept für die Organisierung von Frauen nur bedingt für geeignet. Außerdem ist die FAUD nicht nur im Bereich der Mitglieder, sondern auch bei ihren führenden Köpfen männlich. Um den Stimmen der Arbeiterinnen mehr Gewicht zu geben, beschließt Milly Witkop-Rocker, gemeinsam mit anderen Frauen innerhalb der anarchosyndikalistischen Bewegung eine eigene Frauengruppe zu gründen: den Syndikalistischen Frauenbund. In Orten verteilt über ganz Deutschland gründen sich Syndikalistische Frauenbünde; die geografischen Schwerpunkte sind die Regionen, in denen die anarchistische Bewegung stärker ist: Berlin, die Rhein-Ruhr-Region und Sachsen.
Die Ortsgruppe Groß-Berlin, die von Milly Witkop-Rocker initiiert wird, ist mit 208 Mitgliedern der größte Syndikalistische Frauenbund. Von den ungefähr 100 000 Mitgliedern der FAUD Anfang der 1920er Jahre sind ungefähr 1000 Frauen in Syndikalistischen Frauenbünden organisiert. Wie viele Frauen insgesamt je Mitglied im Syndikalistischen Frauenbund sind, ist nicht bekannt.
Im Unterschied zu bisherigen politischen Gruppen und Gewerkschaften konzentriert sich der Syndikalistische Frauenbund nicht auf den Bereich der Produktion, sondern bezieht auch den Bereich der Konsumtion in den politischen Protest mit ein. Neben dem Streik im Betrieb kämpfen die Frauen mit dem Boykott von Waren für die Durchsetzung ihrer Forderungen. Beide Protestformen sind für Milly Witkop-Rocker gleichberechtigt. Viel häufiger als in politischen Protestformen werden die Syndikalistischen Frauenbünde allerdings bei alltäglichen Problemen der Arbeiterinnen aktiv.
Die Frauen bezeichnen sich selbst nicht als Feministinnen, weil der Begriff für sie mit der bürgerlichen Forderung nach dem Frauenwahlrecht verknüpft ist. Wie die männlichen Anarchosyndikalisten glauben die Frauen des Syndikalistischen Frauenbundes nicht, dass durch parlamentarische Wahlen eine freie Gesellschaft für alle und eine Wirtschaftsdemokratie erreicht werden kann, daher sehen sie im Wahlrecht keine Verbesserung ihrer Situation.
Milly Witkop-Rocker und viele andere Aktivistinnen kämpfen für die Gleichberechtigung der Frauen und ihrer Bedürfnisse innerhalb der anarchistischen Bewegung und der Gesellschaft. In der Zeitschrift »Der Frauen-Bund«, die von 1921 bis 1929 erscheint, betonen die Autorinnen immer wieder, dass es ihnen nicht um Frauenrechte, sondern Menschenrechte geht und dass die Menschheit nicht frei sein kann, bevor nicht alle Frauen frei sind, was nur in einer Gesellschaft ohne kapitalistische Ausbeutung möglich ist.
Drei Jahre bevor die Gruppe von den Nationalsozialisten verboten wird, gibt es kaum noch Aktivitäten, da fast alle Frauen mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise 1929 zu kämpfen haben, um sich und ihre Familien zu ernähren. Im »Dritten Reich« verliert sich die Spur der meisten im Exil, in Konzentrationslagern oder in der inneren Emigration. Die kämpferischen Frauen und ihre fortschrittlichen Ideen verdienen es, dass wir uns mit ihnen beschäftigen.