Simone Weil
Als wir dieses Zitat von Simon Weil – einer linksradikalen Französin – lasen, dachten wir unwillkürlich an die vielen Gespräche und Diskussionen, die wir das Glück hatten mit Überlebenden der syndikalistischanarchistischen Jugend Deutschlands (SAJD) in Wuppertal zu führen.
Einer von ihnen, der Anstreicher August Benner verstarb nach langer Krankheit, 75-jährig in Wuppertal im Juni dieses Jahres. Als wir ihn 1982 kennenlernten, saß uns ein alter, gebrechlicher Mann gegenüber, der uns mit einer Mischung aus Distanz und Neugierde begegnete. Distanz, weil wir Studenten waren, mit denen er im Leben nie etwas zu tun hatte. Neugierde, weil er sich anfangs nicht erklären konnte, warum wir uns gerade so genau für seine und die Geschichte seiner Genossinnen interessierten: Ereignisse ansprachen, an die er lange nicht mehr gedacht und Diskussionen, die er lange nicht mehr geführt hatte, die in einem ganz „praktischen“ Sinn für ihn abgeschlossen waren. Mit denen er nicht mehr die Träume und Hoffnungen seiner Jugend verband, die ihm und so vielen seiner Generation in den Folterhöllen der Gestapo, den Knästen und KZ’s ausgetrieben und in der Nachkriegsrestauration endgültig zertrümmert wurden, die sie zu Statisten wider Willen im politischen Leben machten.
Sie die vieles hätten erzählen können, machten die Erfahrung, daß „das Volk“ sich wenig oder gar nicht für ihre Leiden und Erfahrungen interessierte, es sei denn, sie dienten als Staffage für antifaschistische Gedenktage, zur Beruhigung eines wenn überhaupt vorhandenen schlechten Gewissens.
Und noch viel weniger für das, warum sie soviel ertragen mußten: ihren Kampf für die soziale Revolution, für den sie bereit gewesen wären ihr Leben hinzugeben. Sie warteten im Januar 1933 auf das Signal zum Losschlagen, waren bereit auch bewaffnet den Hitler-Banden entgegenzutreten. Daß dies nicht geschah, daß die Besten und Entschlossensten des revolutionären Proletariats kampflos in die KZ getrieben wurden ist die größte Katastrophe in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung und wirkt gerade bei denen in leidvollster Weise nach, die am wenigsten dafür verantwortlich waren, die keinen Grund hatten und haben, sich irgendetwas vorzuwerfen.
August Benner kam Ende der 20er Jahre durch seine Brüder Fritz und Willi zur anarcho-syndikalistischen Bewegung. In den revolutionären Kämpfen der Jahre 1918-23 hatten die Anarcho-Syndikalisten einen großen Einfluß auf die radikalen Teile des Wuppertaler Proletariats. Im größten Betrieb der Stadt, den Eisenwerken Jäger (heute Kugel-Fischer) waren sie die dominierende Gewerkschaftsorganisation. Repression, Massenentlassungen bei Jäger und eine allgemeine Resignation nach den verlorenen Kämpfen 1923 hatten sie auf eine kleine Gruppe zusammenschrumpfen lassen, die nicht mehr in der Lage war, aus eigener Kraft Kämpfe zu initiieren. Neben der FAUD bildete sich ab 1929 aber eine sehr aktive Jugendgruppe, meist Kinder und Verwandte von FAUD-Mitgliedern – der auch Eugen Benner angehörte. Diese Jugendlichen fühlten sich als die „Träger des Neuen“, waren voller Energie und Vitalität, die es ihnen ermöglichte „unter unmenschlichen Bedingungen ein menschliches Leben zu verwirklichen“ und zu „verzichten auf das zum Leben Notwendige zugunsten dessen, was das Leben würdig macht“.
Ihre Flugblätter druckten sie auf einer alten Wäsche-Wringemaschine. Sogar eine kleine Zeitung wurde in dieser „Druckerei“ hergestellt. Eugen Benner hatte ein besonderes Geschick in der Anfertigung von Linolschnitten für Plakate und Portraitpostkarten anarchistischer Größen, die auch in der eigenen Druckerei hergestellt wurden.
Sie studierten monatelang Erich Mühsams Theaterstück „Staatsraison“ ein, das den Justizmord an Sacco und Vanzetti zum Gegenstand hatte, und führten es vor „großem Publikum“ in der Stadthalle auf. Ein Jugendlicher der Gruppe berichtet uns über seinen Tagesablauf in dieser Zeit: „Morgens mußte ich um 6 raus – wenn ich verschlafen hatte, hieß es ohne Frühstück aufs Fahrrad springen und nach Sonnborn, nach der Arbeit haben wir uns meistens gleich irgendwo getroffen – damals war ja immer was los: Schlägereien mit den Nazis, Diskussionen am Rathaus mit den Kakaophilosophen, Flugblätter machen oder verteilen, am Gewerkschaftshaus oder auf der Straße. Abends gingen wir zusammen zu den anderen Organisationen in ihre Versammlungen, um uns da einzumischen. Oder wir waren unter uns zusammen. Ich bin damals glaub ich selten vor zwölf ins Bett gekommen – und dann hab ich oft noch bis 3 gelesen … Nee, Langeweile haben wir damals nicht gehabt.“ (Zitat aus: Klan/Nelles: Es lebt noch eine Flamme… ; Trotzdem-Verlag 1986)
Obwohl die Jugendlichen ihre Autonomie gegenüber den Erwachsenen betonten, wurden zwei Menschen prägend für ihre politische Entwicklung, waren ihre Lehrer im besten Sinne des Wortes: Der Schneidermeister Hermann Steinacker, der als junger Mann noch während des Sozialistengesetzes in die SPD eintrat. Über die Bewegung „der Jungen“ – eine oppositionelle Strömung in der SPD, die sich nach dem Fall des Sozialistengesetzes gegen die parlamentarische Fixierung in der SPD auflehnte – kam er zum Anarchismus. Hermann Steinacker gehörte zu den wenigen SozialistInnen, die 1914 nicht vergaßen, daß sie sich in erster Linie als Mensch und proletarische KlassenkämpferInnen und nicht als „Deutsche“ verstanden. Deswegen wurde er zwei Jahre als Kriegsgegner interniert. Seine Schneiderwerkstatt in der Elberfelder Paradestraße stand für die Jugendlichen immer offen, er gehörte zu den Erwachsenen, „von denen man Antworten auf Fragen bekam“, wie eine Jugendliche der Gruppe es ausdrückte.
Hans Schmitz, revolutionärer Betriebsrat der Firma Jäger, Aktivist während der Märzrevolution 1920 und den Hungerrevolten 1923 in Elberfeld, repräsentierte die kämpferische Tradition des Anarchismus. Mutig, militant, selbstbewußt und ein begeisternder Redner, der sich auch in Versammlungen der KPD Gehör verschaffen konnte – was damals etwas bedeutete – konnte er das so bedeutende Gefühl vermitteln, auf sich selbst, auf die eigene Kraft zu vertrauen im Kampf für die soziale Revolution. Sein Verständnis des Anarcho-Syndikalismus, „jeden Arbeiter zur Persönlichkeit zu erziehen“, damit er selbst den Mut findet vor den Ausbeuter hinzutreten, ihm die Heuchlerfratze herunterzureißen“ entsprach dem Lebensgefühl der Jugendlichen, die damals fest davon überzeugt waren, die soziale Revolution noch zu erleben, und ihren Teil dazu beizutragen.
Ab 1931 wurde in Wuppertal die Bedrohung durch die Nazis immer stärker. Mit der Einrichtung einer SA-Kaserne in Unterbarmen, in dem Viertel in dem die Benners und noch zwei weitere Mitglieder der SAJD wohnten, kam es immer öfter zu gewalttätigen Angriffen der SA auf Arbeiter. Die Jugendlichen reagierten darauf mit der Bildung einer Kampfgruppe, der „Schwarzen Schar“, der auch Mitglieder der FAUD angehörten: „Wir trugen schwarze Hemden, schwarze Hosen und Stiefel und ’n Gürtel. Mancher hat mit Schuhwichse etwas nachgeholfen – wir hatten ja kein Geld. Man kann sagen, das war ’ne Uniform. Sowas hatten wir Anarchisten ja immer abgelehnt und viele andere Gruppen lehnten das auch weiterhin ab, irgendwie war das auch ne Art Anpassung: Die Rotfrontkämpfer und das Reichsbanner, die hatten Uniform, nur wir hatten nichts … Mit Sprechchören und Liedern gingen wir vor unseren Demonstrationen her… oder bei denen der anderen Arbeiterorganisationen mit… Die hatten einen Heidenrespekt vor uns – sie wußten ja nicht, wie wenige wir waren!“ (Zitat aus: Klan/Nelles: Es lebt noch eine Flamme)
Die Gruppe kaufte einige Schußwaffen, die auch in Notwehr gegen die Nazis eingesetzt wurden. Eugen Benner wurde deswegen zu einer kurzen Gefängnisstrafe verurteilt, weil er nach einem Überfall der SA Warnschüsse abgegeben hatte.
Am 30. Januar 1933 wartete die Gruppe auf ein Signal zum Losschlagen gegen die Nazis, sie hofften, daß sich das Reichsbanner und vor allem die Kommunisten dazu entschließen würden. Trotz der starken ideologischen Differenzen gab es in Unterbarmen so etwas wie eine proletarische Einheitsfront von unten. Das Viertel wurde gemeinsam bewacht und es kam oft zu gemeinsamen Absprachen und Aktionen gegen die Nazis, aber auch, wenn es zum Beispiel darum ging, Familien, die ihre Miete nicht mehr bezahlen konnten, vor der Zwangsräumung zu bewahren. Wie wir leider wissen, kam es nicht zu größeren Erhebungen gegen die Nazis. Zwar gab es nach 1933 noch eine Demonstration und die SA wagte sich die ersten Monate noch nicht alleine in die Arbeiterviertel, aber an größere Widerstandsaktionen war nicht mehr zu denken. Schon bald gab es die ersten Verhaftungen. Als ersten erwischte es Helmut Kirschey, der auch im Hause der Benners wohnte. Er wurde auf der Straße von SA-Leuten erkannt. Sein Glück war es, daß sich ein Menschenauflauf bildete und die Polizei ihn in Gewahrsam nahm, die Festnahme durch die SA hätte seinen Tod bedeuten können.
Eugen Benner wurde im Mai 1933 zusammen mit seinen Brüdern Fritz und Willi verhaftet – Fritz Benner hatte in seinem Betrieb am 1. Mai noch eine Rede gegen die Nazis gehalten. Zusammen mit Fritz kam Eugen ins KZ Börgermoor, bis Anfang 1934.
Was das KZ-System mit den gefangenen Menschen machte, faßte Eugens Bruder in einem Brief viele Jahre später so zusammen: „…ich lernte es schon in Deutschland, schweigen zu müssen. Ich war selbst in drei Konzentrationslagern. In einem mußte ich ansehen, wie man den Menschen, den ich am meisten auf der ganzen Welt verehrte, den Menschen durch den ich revolutionär und Anarchist geworden war, langsam sadistisch zu Tode quälte. Erich Mühsam! Ich mußte schweigen. Sehr schnell merkte ich in Holland, daß auch die Elite eines Volkes der Arbeiterklasse, nicht in der Lage ist, durch Zeitungen und Bücher sich ein Bild von der wirklichen Lage eines anderen Landes zu machen. Es fehlt die praktische Erfahrung, die Phantasie…
Wie tief ein Mensch durch Mißhandlungen sinken kann, konnten die Genossen einfach nicht begreifen. Es war Pflicht, daß Du schwiegst! Wenn man etwas tun will, dann einem solchen Kerl in einer dunklen Ecke ein Messer in den Rücken stecken; das ist das einzige, was solche Lumpen verstehen. Offenheit, Ehrlichkeit, Bekennermut ist einem solchen System wie dem Nazistischen nicht am Platze. „Mit Gift, Dolch und Schlinge …“, sagt Bakunin.“ (Zit. nach einem Fritz Benner-Brief an R. Rocker, Privatarchiv Albert De Jong, Amsterdam)
Nach seiner Entlassung hatte sich auch in Wuppertal vieles geändert, es war nicht mehr möglich, die anderen Genossen legal zu treffen und nachdem zwei wegen Verbreitung illegaler Schriften verhaftet wurden, – einer der beiden war der alte Hermann Steinacker – wurde die illegale Arbeit eingestellt. Mit dem Beginn des Spanischen Bürgerkriegs setzte die illegale Arbeit wieder ein. Mit Spanien verbanden die deutschen Anarcho-SyndikalistenInnen ihre Hoffnungen, daß der Vormarsch des Faschismus in einem Land gestoppt würde, indem es eine anarchistische Massenbewegung gab. Sie sammelten Gelder für ihre GenossInnen in Spanien. Doch Ende 1936 wurde das illegale Netz im Rheinland durch einen Spitzel verraten. Insgesamt 88 Personen, davon 11 Wuppertaler wurden in einem großen Verfahren zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt.
Zwei von ihnen wurden während der Haft ermordet. Der Arbeiter Hermann Hahn wurde in der psychiatrischen Anstalt Grafenberg (Düsseldorf) zu Tode gespritzt, Hermann Steinacker wurde im KZ Mauthausen ermordet.
Eugen Benner wurde zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, die er in Münster absaß. Menschen wie er empfanden den 8. Mai als Befreiung, doch es war ihm nur für kurze Zeit möglich, Rache an seinen Unterdrückern zu nehmen. Zusammen mit anderen Antifaschisten war er als Hilfspolizist bei den Amerikanern angestellt. Sie hatten den Auftrag bekannte Nazis und Gestapo-Leute zu verhaften. Diese Arbeit gab er aber schnell auf, als die Amerikaner auch Informationen über Kommunisten haben wollten.
Eugen Benner arbeitete in den Antifaschistischen Ausschüssen mit und trat auch für kurze Zeit in die KPD ein. Er beendete seine Mitgliedschaft, nachdem er wieder Briefkontakt zu seinem Bruder Fritz in Schweden aufnehmen konnte, der in Spanien gekämpft hatte und auf Grund seiner dortigen Erfahrungen erklärter Gegner der Kommunisten geworden war, nicht zuletzt auch deswegen, weil schnell erkennbar wurde, daß die KPD-Führung nicht willens und bereit war, eine von Stalins Direktiven unabhängige Politik zu machen. Eugen war dann bis Anfang der 50er Jahre in der Föderation Freiheitlicher Sozialisten stark engagiert, in der sich ehemalige Mitglieder anarcho-syndikalistischer Organisationen zusammengefunden hatten. Die Aktivitäten dieser Gruppe waren fast ausschließlich auf die Herausgabe einer Zeitung (Die Freie Gesellschaft, Anm. SF-Red.) und von Büchern (z.B. Augustin Souchys „Nacht über Spanien“; Anm. SF-Red.) konzentriert. Politisch konnten sie keinen Einfluß nehmen. In Zeiten des Kalten Krieges war kein Platz für eine beide Systeme ablehnende Sozialrevolutionäre Position, die viele der Mitglieder auch nicht mehr teilten. Aus revolutionären Anarchisten waren durch die Ereignisse „Anarcho-Liberale“ geworden. Die Wuppertaler standen kritisch zu der Zeitung, da sie zu theoretisch war, zu vergeistigt, nicht dazu geeignet, die Massen zu gewinnen oder wie Fritz Benner es ausdrückte: „Wenn wir, neben den freiheitlichen Gedanken, das Aggressive vergessen, verlieren wir unsere Seele, jede Werbekraft!“
Entscheidend hinzu kam aber, daß die Leiden während der Nazi-Zeit und die materiellen Entbehrungen der Nachkriegsjahre nicht spurlos an ihnen vorbei gegangen waren. Die „faschistischen Banden“ und auch „Hunger und Kälte“ hatten ihnen einen großen Teil „jener Energie“ geraubt, „die die Quelle des Lebens ist“. Sie waren nicht mehr die begeisterten Jugendlichen, die mit einer revolutionären Hoffnung im Kopf dies hätten vielleicht verkraften können. In einem unserer Gespräche erzählte uns Eugen: „Als ein Genosse uns zum ersten Mal nach dem Krieg aus Schweden besuchte, meinte er zu uns, wir seien alte Männer“. Und verbittert fügte er hinzu: „Und er hatte recht, wir waren’s nach all diesen Erfahrungen auch.“
Eugen Benner war seitdem politisch nicht mehr aktiv, was aber nicht heißt ohne politische Haltung. So meinte er mit lächelndem Gesichtsausdruck, bei einem unserer letzten, ausführlichen Gespräche, zu den militanten Auseinandersetzungen anläßlich des Besuchs des amerikanischen Vizepräsidenten Bush in Krefeld 1983: „Politisch finde ich das heute falsch, aber ich kann ’s verstehen, wir waren damals ja auch ‚Berufsdemonstranten‘, haben keine Demonstration ausgelassen.“
Bei dieser Gelegenheit fiel ihm auch wieder eine Strophe ein, des von seinem Bruder Willi verfaßten Liedes für die „Schwarze Schar“, das sie damals auf Demonstrationen sangen:
Wenn Generalstreik tobt im ganzen Lande
und schwarze Scharen führen letzte Hiebe gegen Hitlers Banden!
STURM UND REVOLTE? WIR: SCHWARZE SCHAR
Gescannt von anarchismus.at