Du bist vor ein paar Tagen 85 Jahre alt geworden. Deine Ideale aus der Jugend hast Du nicht aufgegeben?
Nie! Nach der Verfolgung durch die Nazis, der Flucht aus Deutschland, dem Kampf im Spanischen Bürgerkrieg und der Emigration nach Schweden löste ich mich 1956 zwar von den Anarchosyndikalisten, gab meine linke Gesinnung aber nicht wie einen Mantel an der Garderobe ab. Die anarchistische Grundidee gilt weiterhin für mich. Und ich blieb aktiv, halte jetzt vor allem Vorträge vor jungen Leuten in Schweden und Deutschland. Kein nostalgisches Schwelgen in Erinnerungen. Ich warne mit dem Beispiel der Vergangenheit vor den Gefahren für Gegenwart und Zukunft. Dafür erhalte ich DrohBriefe und muß mir Beschimpfungen am Telefon anhören – alles anonym, aber ich weiß, daß es Neonazis sind.
Helmut Kirschey im Spanischen Bürgerkrieg.
Du bist nicht nur viel auf Vortragsreisen. Kürzlich hast Du ein wichtiges Zeitdokument ins Deutsche übersetzt.
Der junge deutsche Historiker Dieter Nelles stöberte während eines Besuches bei mir in meinem Bücherschrank und fand das nun schon fast antike Buch des schwedischen Anarchisten Rudolf Berner: »Die unsichtbare Front«. Es war auf der Grundlage eines konspirativen Berichtes für die in Spanien kämpfenden deutschen Kameraden 1940 in Schweden veröffentlicht worden. Berner war 1937 nach Deutschland gereist, um verlorengegangene Kontakte zu den dortigen Anarchisten zu knüpfen. Nelles war fasziniert und bat mich um eine Übersetzung für den Libertad Verlag Berlin / Köln. Als besonders aktuell empfand er Berners Worte: »Wenn die Solidarität tiefer verwurzelt gewesen wäre, wäre dieses Elend nie über uns gekommen.« Es geht in dem Buch ja nicht nur um die Anarchisten, deren Geschichte in Deutschland weitgehend ignoriert wird. Linke und überhaupt progressiv eingestellte Menschen überall auf der Erde müssen lernen, zusammenzuhalten – über Meinungsverschiedenheiten hinweg. Denn wollen wir nicht alle eine lebenswertere und gerechtere Welt? Berners Buch zeigt solidarische Handlung. Seine damalige geheime Mission bedeutete eine Vitaminspritze für die Anarchisten in Deutschland. Sie erfuhren über den internationalen Kampf in Spanien und waren dankbar, daß man sie nicht vergessen hatte.
Berners Bericht war auch Appell zum Kampf gegen die Nazi-Diktatur und Warnung vor nachgiebiger Haltung. De schwedische Neutralitätspolitik hatte zu Verhaftungen von deutschen Flüchtlingen geführt. Das Buch war Protest. Deutlichen Protest benötigt man heute wieder. Beispielhaft ist ebenso, daß Berner nicht die berühmten Helden beschrieb. Er erzählte von den sich täglich widersetzenden »kleinen Leuten« und verschweigt auch nicht die Zweifel, die jene Einzelkämpfer mitunter hatten bezüglich ihrer Möglichkeit, den Nazi-Koloß zu stürzen und die Menschen in Deutschland wieder zu lebendigen Wesen zu erwecken.
Der Verlag Libertad hat sich etwas Originelles einfallen lassen …
Ja, Verlag und Herausgeber entwickelten die Idee des »lebendigen Buches«. Auf ihrer Website (http://www.free.de/ dada/berner.htm) können Zeitzeugen ihre Erinnerungen und Erfahrungen mitteilen. Gerade im rheinischen, Berliner und sächsischen Raum bestanden zur Nazi-Zeit starke Zentren des anarchistischen Widerstandes. Zugleich kann über Internet derart ein Gespräch zwischen Generationen, Gleichgesinnten und von über die heutige Entwicklung in der Welt besorgten Menschen beginnen. Ein Anfang zur gemeinsamen Suche nach Lösungen. Es ist ermutigend, wie intensiv dieses »lebendige Buch« genutzt wird.
Wie schätzt Du die Chance ein, die Dominanz des Kapitalismus zu brechen?
Im Gegensatz zu meinem Optimismus in der Jugend denke ich, daß eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Zustände noch in weiter Ferne liegt. Aber ein Aufgeben des Kampfes um dieses Ziel sehe ich als selbstzerstörerisch an. Berners Bericht zeigt, daß selbst zeitweises Unterliegen nicht zum Anpassen an ein verabscheutes System führen muß. Deshalb sollten wir ebenso wieder mehr seinen Lieblingsdichter Erich Mühsam lesen. Wir brauchen Mut zum widerspenstigen Denken und Handeln.
Ich bin auch Berners Uberzeugung, als er den Geschichtsverlauf reflektierte: »Revolution – Reaktion – Revolution – Es ist, wie wenn man einem Gänseblümchen die Blütenblätter abzupft: Ja, Nein, Ja… Welche historische Entscheidung fällt mit dem letzten Blatt dieses Gänseblümchens? Wird es mit Reaktion enden? Oder wird das letzte Blütenblatt ein befreiendes >JA< verkünden, wird es rufen: >Revolution!< ? – Ich glaube, es wird letzteres tun.«
Fragen: Katia Davis, aus: Neues Deutschland, 14./15. Februar 1998, S. 15. Siehe auch die Buchbesprechung von Günter Wernicke „Anarchistischer Widerstand – Ein vergessenes Kapitel“ im Neuen Deutschland vom 9. Mai 1997