Bis Ende 1919 organisierten sich 5000 Metallarbeiter in der „Freien Vereinigung“ die sich nun „Freie Arbeiter-Union Deutschlands (Anarcho-Syndikalisten)“, kurz FAUD, nannte. Die Mülheimer Lederarbeiter gehörten fast vollständig der FAUD an; Bauarbeiter, Bergarbeiter und auch die Verkehrsarbeiter traten in hoher Zahl der anarchistischen Gewerkschaft bei. Die Mülheimer Polizeiverwaltung meldete am 30. April 1921 der Meldestelle der Regierung Düsseldorf: „Die Freie Arbeiter-Union (Syndikalisten) zählt in hiesigem Bezirk etwa 8000 Mitglieder.“ Auch andere anarchistische Gruppierungen erhielten regen Zulauf. Der „Anarchistische Freibund“ hatte hier mehrere hundert Mitglieder, anarchistische Jugend- und Frauengruppen bildeten sich und Kulturorganisationen wie die „Freien Sänger“, die relativ eng mit der FAUD zusammenarbeiteten, gewannen an Einfluß.
Um die Anfänge der anarchistischen Bewegung in Mülheim-Styrum zu verstehen, ist es notwendig, die Auswirkungen des „Sozialistengesetzes“ auf die Arbeiterbewegung zu umreißen. Das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ wurde am 19. Oktober 1878 im Reichstag verabschiedet, um eine Handhabe zur Zerschlagung der anwachsenden Organisationen der Arbeiterbewegung zu haben. Was folgte war eine lang anhaltende Repressionswelle. Verhaftungen und Hausdurchsuchungen waren an der Tagesordnung, viele wurden zur Auswanderung gezwungen. 1500 Personen wurden zu rund 1000 Jahren Gefängnis verurteilt, 1300 Druckschriften verboten und 322 Organisationen aufgelöst.
Das Gesetz sollte über zwölf Jahre, bis zum 1. Oktober 1890, Bestand haben. Es hatte Auswirkungen für die Entwicklung der Sozialdemokratie: Die Führungsorgane der Partei, besonders die Reichstagsfraktion, zeigten in den achtziger Jahren die Tendenz, keine weiteren Anlässe zu Repressionsmaßnahmen zu geben und gewissermaßen mit dem Sozialistengesetz zu leben. Da ja der Staat mit Hilfe des Reichstags sein Ja und Amen zu dem Ausnahmegesetz gegeben hatte, wurde dieses Gesetz jedoch von vielen Parteimitgliedern als staatliche Kampfansage empfunden und führte in der Folge zu einer grundsätzlichen Ablehnung des Staates. Dies führte natürlich zu Spannungen zwischen aktionsorientierten, temperamentvollen Sozialdemokraten und dem Legalitätskurs der Parteispitze. Infolge des Sozialistengesetzes fiel ausgerechnet der Reichstagsfraktion als dem einzig legal handlungsfähigen Rest der Parteiorganisation die Funktion der Parteiführung zu, was diese Spannungen noch verstärkte. Der Sozialrevolutionären Stimmung weiter Teile der Parteibasis fehlte jedoch noch eine organisatorische und geistige Grundlage; ihre Träger waren durchaus noch innerlich autoritäre Sozialisten, die sich zwar durch das Sozialistengesetz radikalisiert hatten, aber mangels weiterer Perspektiven über eine Ablehnung der bisherigen friedlichen Taktik der Sozialdemokratie nicht hinauskamen.
Der Parteiführung gelang es, die Opposition zu isolieren und schließlich auch ihren Wortführer Johann Most im August 1880 aus der Partei auszuschließen. Johann Most, der schon 1878 aus Deutschland fliehen mußte, gab von London aus die „Freiheit“ heraus, eine Zeitung, die sich bis zu seinem Parteiausschluß in sozialdemokratischen Bahnen bewegte und später zu einem Sprachrohr der deutschen Anarchisten wurde. Er prägte den sogenannten „Aktions-Anarchismus“ unter dem Schlagwort der „Propaganda der Tat“. Mosts Verständnis vom Anarchismus kommt in seiner Broschüre „Der Kommunistische Anarchismus“ von 1889 zum Ausdruck: „Die Anarchisten sind SOZIALISTEN, indem sie eine Gesellschaftsverbesserung erstreben; sie sind KOMMUNISTEN, indem sie überzeugt sind, daß eine solche Umgestaltung nur in der Etablierung allgemeiner Gütergemeinschaft gipfeln kann.“
Nach Most begnügen die Anarchisten sich nicht damit – sie streben zudem noch einen sozialen Zustand an, „bei welchem keinerlei Beherrschung der einen Menschen durch die anderen mehr stattfindet, so daß also von einem Staat, einer Regierung, von Gesetzen oder anderen Zwangsmitteln keine Rede mehr ist und wirkliche Freiheit für alle waltet.“ Diese Ablehnung von Herrschaft liegt aber nicht zwangsläufig in der Natur des Sozialismus oder Kommunismus. In Abgrenzung zu allen autoritär-marxistischen Bestrebungen entstanden die Begriffe des „Kommunistischen Anarchismus“ bzw. des „freiheitlichen Sozialismus“. Nach der Aussetzung des Sozialistengesetzes am 1. Oktober 1890 gelang es wiederum den „Legalisten“ innerhalb der Sozialdemokratie, die Opposition kaltzustellen und auf dem Erfurter Kongreß im Oktober 1891 ihre Sprecher aus der Partei zu verstoßen. Von dieser Gruppe wurde sogleich ein „Verein unabhängiger Sozialisten“ gebildet, der sich immer offener dem Anarchismus zuwandte.
Die Anarchisten hatten schon während des Sozialistengesetzes versucht, in Deutschland Fuß zu fassen und unzufriedene Sozialdemokraten zu organisieren, was ihnen zumindest im Ruhrgebiet erst nach dem Sozialistengesetz gelang. Von großer Bedeutung hierbei war ihre Presse, die im Ausland von Exilgruppen herausgegeben und ins Deutsche Reich eingeschmuggelt werden mußte.
Entgegen der Sozialdemokratie, die legal und parlamentarisch geworden war und sich entsprechend ungehindert betätigen durfte (bereits Ende September 1890 verfügte sie über 60 Zeitungen mit 250.000 Abonnenten), wurden anarchistische Propagandisten weiter verfolgt und ihre Publikationen konnten nach wie vor nur vom Ausland eingeschmuggelt werden. Schon ihre Verbreitung oder Verbindungen zu ihren Herausgeberkreisen führte in der Regel zu einer Verurteilung nach den noch heute gültigen §§ 128 und 129. So konzentrierte sich die Tätigkeit anarchistischer Gruppen auch noch nach dem Sozialistengesetz auf die Verbreitung ihrer illegalen Presse. Mitte 1891, also ein Jahr nach dem Sozialistengesetz, wird die Polizei im Bürgermeisteramt Styrum zum ersten Mal auf anarchistische Aktivitäten aufmerksam. In der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober wurde ein Flugblatt, betitelt „Der 11. November“ in den Straßen und Hausfluren in einer Bergarbeitersiedlung in Altstaden verteilt. Das Flugblatt, dessen Inhalt auf der Rückseite auch in tschechischer Sprache wiedergegeben wurde, schlug radikale Töne anläßlich des Jahrestages der Hinrichtung von fünf Anarchisten in Chicago an: „Ja, leider müssen wir uns gestehen, dass wir bisher als Revolutionäre nicht unsere Pflicht gethan haben. Wie Viele sind schon für unser Princip gefallen, und wo sind ihre Rächer? Und wie Viele fallen täglich in ihren industriellen Berufszweigen dem Kapitalismus zum Opfer, wie Viele sterben den Hungertod? Tragen wir nicht Mitschuld an ihrem Untergang durch unsere Untätigkeit, durch unser müssiges Zusehen? Warum vergelten wir nicht Gleiches mit Gleichem? Warum hängen wir nicht Diejenigen, welche auf unsere gerechten Forderungen damit antworten, dass sie den Tod in unsere Reihen senden, warum hängen wir sie nicht verdientermassen an den Laternenpfählen auf? … Ohne Opfer keinen Kampf, ohne Kampf keinen Sieg.“
Die Verbreiter dieser Flugschrift blieben trotz intensiver Recherchen der Styrumer Polizeiverwaltung und der Staatsanwaltschaft unerkannt. Der Flugzettel war in London bei der Zeitung „Die Autonomie“ hergestellt und ins Ruhrgebiet geschmuggelt worden.
Auf gefahrvollen Wegen wurde das Agitationsmaterial immer noch wie unter dem Sozialistengesetz ins Ruhrgebiet gebracht. Der Duisburger Buchbinder Sepp Oerter übernahm für die „Autonomie“ ab November 1892 den Schriftenschmuggel über die holländische Grenze und nahm so den durch die Verhaftung seines Vorgängers unterbrochenen Vertrieb wieder auf. In seinen Lebenserinnerungen stellt er anschaulich seine Tätigkeit als Schriftenschmuggler dar: „Duisburg wurde nun mein Hauptquartier. Ich erhielt von London aus die nötigen Versandadressen…. So oft ich konnte, fuhr ich über Emmerich oder Cleve oder Salzbergen nach Arnheim, um die Zeitungen über die Grenze zu bringen. Jetzt packte ich mir die Schriften nicht mehr auf den Körper, denn ich wollte nicht noch einmal durch meine Mißgestalt auffallen. In einer Anzahl von Heftumschlägen, Buchdeckeln und dergleichen verpackte ich in Arnheim die Zeitungen und Broschüren. .. .War der eine Koffer mit meiner Bibliothek vollgepackt, dann kamen noch zwischen die Wäsche des anderen und in alle Taschen weitere Schriften. Es war immer ein ganz unglaubliches Quantum, welches auf diese Weise über die Grenze gebracht wurde… In den Zollstationen hatte ich keine Ungelegenheiten. Ich zeigte meine Koffer, war den Beamten behilflich, wo ich nur konnte und kam immer gut durch…. In Duisburg angelangt, wurden die Schriften dann verpackt und versandt, oder ich brachte einen Teil zu Kühl und Grasser, welche sie weitervertrieben.“
Nun erschienen in den anarchistischen Zeitungen auch immer häufiger Berichte und Meldungen aus dem Ruhrgebiet. Der in London hergestellte „Lumpenproletarier – Organ der Unterdrückten“ schrieb in seiner ersten Ausgabe im April 1893: „Das oben bezeichnete Kohlenrevier ist ein Platz, dessen Beackerung sich seitens der revolutionären Elemente noch verlohnt. Sind sich die Bergarbeiter erst mal ihrer Macht bewußt, dann – ade! mit deiner Herrlichkeit, du deutsches Michelland.“
Im großen Bergarbeiterstreik 1889, aber auch in den kleineren Ausständen 1891 und 1892, waren unmittelbar von den Belegschaften Streikdelegierte gewählt worden, welche radikaler als die Knappenvereine aber auch als der nach dem Streik gegründete Bergarbeiterverband, auftraten. Diese kampfbetonte Ausrichtung der Zechendelegierten prägte den Bergarbeiterverband schon in seinen Anfängen deutlich und ermöglichte radikalen Sozialdemokraten, aber auch den Anarchisten, größtmögliche Einflußnahme. Der Verbandsführer Otto Hue schilderte 1900 in seinem Werk „Neutrale oder parteiische Gewerkschaften“ die Situation des Bergarbeiterverbandes um 1892 so: „Um jene Zeit war der Verband, bzw. sein Blatt schon nicht sozialistisch, sondern näherte sich stark dem Anarchismus. Die Sache wurde nicht mehr von der Person getrennt, sondern für alles waren die ‚Grubenprotzen‘ und ‚Geldsäcke‘ verantwortlich. Gar nicht verwunderlich ist, daß nun sogar Diejenigen, welche ehedem als Ultramontane oder Parteilose zum Verband kamen, nicht nur zur Sozialdemokratie abschwenkten, sondern auch am stärksten den anarchistischen Ideen zuneigten. Bekannt ist ja, daß Josef Jeup-Gelsenkirchen, der Drucker der Verbandszeitung, dem Anarchismus huldigte und ich weiß aus persönlicher Erfahrung, daß er es verstand, eine Anzahl unklarer Köpfe, die erhitzt waren aus Wuth über die schmähliche Verfolgung des Verbandes, für seine Phantastereien einzunehmen. Garnicht merkwürdig ist, daß die tatsächlich der Sozialdemokratie angehörenden Führer das mäßigende Element bildeten.“
Diese abfälligen Bemerkungen Hues trafen im Kern die damalige Situation: Die Führer der SPD versuchten die Bewegungen zu bremsen, sie in legale parlamentarische Bahnen zu lenken und den Einfluß der Radikalen mit allen Mitteln zu brechen. Trotzdem gewannen anarchistische Ideen unter den Bergarbeitern zunehmend an Einfluß.
Der erste Staatsanwalt beim Königlichen Landgericht in Duisburg verfaßte am4. Mai 1893 eine „Darstellung anarchistischer Umtriebe im Ruhrkohlengebiete“, in der es heißt: „Im Frühjahr des vorigen Jahres kam jedoch die Polizeibehörde des Styrum benachbarten Orts Oberhausen einer Vereinigung auf die Spur, deren größtenteils dem Bergmannstande angehörige Mitglieder sich zu der extremsten Richtung der Sozialdemokratie bekannten, und welche die Absicht hatten, in einem so genannten Volksvereine, der in Styrum seinen Sitz haben sollte, einen Mittelpunkt für ihre Agitation zu gewinnen. – Haussuchungen, die im Mai v.Js. bei den Verdächtigen vorgenommen wurden, ergaben, daß dieselben sich im Besitz verschiedener im Verlage der ‚Autonomie‘ erschienener Blätter befanden.“ Am 28. Mai 1892 meldete die „Autonomie“: „In Oberhausen nahe Essen haben bei mehreren Genossen Haussuchungen stattgefunden, nachdem die Polizei einen nach hier adressierten Brief gestohlen. Zwei Genossen wurden verhaftet, jedoch wieder in Freiheit gesetzt.“
Einer der Verhafteten war der Bergarbeiter Leichsenring, der den am 10. April 1892 aus der Mülheimer Sozialdemokratischen Partei ausgeschlossenen Arbeiter Julius Leonhardt unangemeldet etwa zwei Monate bei sich beherbergt hatte. Leichsenring war Kolporteur sozialdemokratischer Schriften und noch im Januar auf dem sozialdemokratischen Parteitag in Koblenz Delegierter für Oberhausen und Styrum gewesen. Die Partei erklärte in der Niederrheinischen Volkstribüne am 19.Mai 1892, nachdem die bürgerlichen Blätter Leichsenring in Verbindung zu den Anarchisten gebracht hatte, daß „nichts von alledem wahr ist“. Schon in der vorhergehenden Ausgabe hatte sie verlauten lassen, „daß hier in Oberhausen anarchistische Schriften unbekannte Dinge sind“.
Zusammen mit Julius Leonhardt hatte Leichsenring, wie aus dem von der Polizei beschlagnahmten Brief hervorging, die Genossen der „Autonomie“ um Zusendung des Blattes und anderer anarchistischer Publikationen „für unsere gerechte Sache“ ersucht. Die Schriften sollten an den Oberhausener Fabrikarbeiter Adam Schwab gehen, der in dem in der Gründung begriffenen Volksverein die Bibliothek betreuen sollte. Welch große Bedeutung die Styrumer Polizei dieser Entdeckung anarchistischer Aktivitäten beimaß, geht noch einmal aus der Darstellung des ersten Staatsanwaltes hervor: „Verkohltes Druckpapier, das sich auf seinem Kochherd vorfand, ist mit Hülfe des Berliner Polizei-Präsidiums als Rest zweier Nummern der ‚Autonomie‘ festgestellt worden…. Die eifrigen Bemühungen, die Verbreiter der revolutionären Schriften zu entdecken, blieben vergeblich.“
Diese waren aller Wahrscheinlichkeit nach in dem Kreis um den Schreinergesellen Leonhard Bach und dem Bergarbeiter Blasius Grasser zu finden. Schon seit April 1892 bezog Grasser anarchistische Zeitungen aus London und gab sie vornehmlich an Styrumer Bergleute weiter.
Auf Leonhard Bach wurde die Styrumer Polizei Mitte September 1892 aufmerksam, da er sich offen zum Anarchismus bekannte. Er galt als „Mann der Tat“, als Vertreter des Mostschen Aktions-Anarchismus. Ein von ihm nach London abgesandter und als unzustellbar zurückgekommener Brief fiel der Polizei in die Hände. Ein Auszug des Briefes gibt die Romantik und Abenteuerlust, aber auch den ungebändigten Hass wieder, der bei vielen anarchistischen Akteuren dieser Zeit tonangebend war: Er spricht darin von beabsichtigten Dynamitdiebstählen, Attentaten, Deckadressen, dem Zusammenhalten der Genossen, dem Anfertigen falschen Geldes und dem Schwur jeden Verräter zu töten. Der Brief endete: „Tod und Verderben habe ich der Bande geschworen und werde auch nach vollbrachten Thaten freudigen Muths auf dem Schaffott oder beim Straßenkampf sterben. Es lebe die sociale Revolution. Hoch die Anarchie und dreimal Hoch unser baldigst gestohlenes Dynamit. Mitrevolutionärem Gruß L. Bach“.
Bachs Arbeit beschränkte sich in der Tat nicht nur auf die Agitation, die Verbreitung der „Autonomie“ und des „Anarchist“ – er bereitete sich auch auf eine bewaffnete Auseinandersetzung gegen den Staat und seine Organe vor. Den Styrumer Bergarbeiter Joseph Schmitz forderte er im Sommer 1892 auf, ihm von der Zeche Dynamit zu beschaffen. Bach verfügte auch über Kontakte zu einer Gruppe belgischer militanter Anarchisten um Peter Schiebach, mit denen er in Lüttich in der Nacht vom 28. auf den 29. April 1894 einen Anschlag auf die Kirche St. Jacques verübte. Nach einer bei ihm abgehaltenen Hausdurchsuchung im September 1892 floh er nach London, von wo aus er seine Styrumer Genossen mit anarchistischen Schriften versorgte und ihnen für ihre Arbeit kleine Geldbeträge zukommen ließ.
Der Treffpunkt der Sozialisten in Styrum war zu dieser Zeit die geschlossene Gesellschaft „Germania“, das sogenannte Schnapskasino. Hier trafen sich zum Meinungs- und Informationsaustausch Sozialisten aller Richtungen: Sozialdemokraten, Unabhängige und Anarchisten. Doch die Mehrheit der Mitglieder dieser Gesellschaft verhielt sich den Anarchisten gegenüber ablehnend. Nach der Flucht von Leonhard Bach setzten nun die Gemäßigten durch, daß seine Gesinnungsfreunde aus der Gesellschaft ausgestoßen wurden. Von nun an trafen diese sich in der Wohnung des Bergmanns Friederich Vesper – im selben Haus, einige Stockwerke über dem Gesellschaftslokal. Friederich Vesper gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Zahlstelle des Bergarbeiterverbandes in Styrum. Der Verband zählte im Dezember 1892 über 23 Mitglieder. Er war auch Vertrauensmann des Verbandes, so daß anzunehmen ist, daß die Anarchisten unter den Bergarbeitern über Sympathien verfügten. In guten Beziehungen standen die Styrumer Anarchisten zu gleichgesinnten Genossen in Oberhausen, Alstaden, Frintop und Borbeck, später auch durch die Bemühungen Blasius Grassers zu einer sehr aktiven Gruppe von tschechischen Bergleuten in Gelsenkirchen. Durch den von Sepp Oerter wieder aufgenommenen Schriftenschmuggel Anfang November 1892 verstärkte sich die Zusammenarbeit dieser Gruppen und ihre agitatorischen Aktivitäten. Rudolf Rocker erinnerte sich in seinen Memoiren: „Wir waren natürlich sehr zufrieden, als uns die verbotenen Blätter und Broschüren wieder regelmäßig zugingen und wir unsere unterirdische Tätigkeit im größeren Umfange aufnehmen konnten. Das ging so einige Wochen, bis die ganze Herrlichkeit ein Ende mit Schrecken nahm.“
Im Dezember 1892 konnte die Polizei durch ein gezieltes Vorgehen der Bewegung in Styrum großen Schaden zufügen. Sepp Oerter berichtete: „Als wir – mein Bruder und ich – am Sonntag, den 11. Dezember 1892 zu Kühl nach Styrum kamen, fanden wir dessen Frau, ein sonst sehr wackeres Weib, weinend vor. Sie erzählte uns, daß im Laufe der Woche Haussuchungen stattgefunden hätten; ihr Mann hätte Winke bekommen, sich so bald wie möglich fortzubegeben.“
Zusammen mit den Bergarbeitern Friederich Vesper und Jacob Küsters flüchtete Julius Kühl, der vor allem die Verbreitung der anarchistischen Presse in Styrum organisierte, am 8. Dezember nach London und von dort aus in die Vereinigten Staaten. Dort fanden sich bereitwillige Helfer. Von den Herausgebern der in New York erscheinenden Zeitung „Anarchist“ wurden, laut Ausgabe vom 21.1.1893, „für drei gänzlich mittellos hier angekommene Kohlengräber zur Weiterreise nach Arbeitsplätzen ihres Geschäftes“ Subscriptionslisten ausgegeben.
Julius Kühl konnte bereits am 23. Januar 1893 seiner Frau aus Vanderbilt in Pennsylvanien schreiben. Die Genossen in New York hatten für ihn und seine beiden Begleiter 130 Mark gesammelt. Auch für ihre zurückgebliebenen Frauen wurde von London aus gesammelt. Blasius Grasser und sein Freund Gerhard Lanius gaben ihnen das Geld und unterstützten sie, soweit es ihnen möglich war.
Doch die Flucht der drei Genossen hinterließ in Styrum eine tiefe Lücke. Durch den Verlust Friederich Vespers löste sich nun die Zahlstelle des Bergarbeiterverbandes in Styrum auf. Einige Mitglieder sollen den Zahlstellen in Alstaden und Oberhausen beigetreten sein. Das Bürgermeisteramt Styrum konnte am 6. August 1893 dem Königlichen Landrat zu Mülheim melden: „Versammlungen pp. haben seitdem in Styrum von Bergarbeitern in dieser Richtung nicht stattgefunden und über anderweite Ernennung eines Vertrauensmannes ist polizeilich nichts bekannt geworden.“
Am 15. Dezember mußte der Fabrikarbeiter Johann Harzheim aus Styrum flüchten. Auch er ging nach London und schloß sich dem dortigen Klub um die „Autonomie“ an, mit dem er bereits vor seiner Flucht in Verbindung gestanden hatte. Nur drei Tages später wurden die Brüder Sepp und Fritz Oerter, die sich vorübergehend nach Süddeutschland absetzen wollten, in Mainz auf einer Arbeitslosenversammlung wegen aufrührerischer Reden verhaftet. Nun war die anarchistische Bewegung im Raum Mülheim fast zerschlagen. Trotzdem gingen die unentdeckt gebliebenen Genossen schon kurze Zeit später wiederum in die Offensive.
Seit dem 29. Dezember 1892 befanden sich die Bergarbeiter im Saarrevier im Ausstand, um eine neue Berggesetznovelle zu verhindern. Sofort fanden auch im Ruhrgebiet Massenversammlungen statt, auf denen beschlossen wurde, die Kameraden im Saarrevier durch einen Solidaritätsstreik zu unterstützen. Am 9. Januar 1893 wurde auf den ersten Zechen im Ruhrgebiet die Arbeit eingestellt. Doch der erwartete „Generalstreik“ blieb aus. Auf seinem Höhepunkt am 13. Januar waren nur 21.390 Bergleute von insgesamt etwa 145.000 in den Streik getreten.
Mit roher Gewalt gingen der Staat und die Bergwerksbesitzer gegen die Streikenden vor. Das Militär wurde eingesetzt, hunderte Streikender in die Gefängnisse geführt, die Bergarbeiterzeitung wurde unterdrückt, fast sämtliche Vorstandsmitglieder und bekannte Gewerkschaftsdelegierte verhaftet, tausende gemaßregelt und etwa 800 Bergleute entlassen. Am 20. Januar war der Streik in sich zusammengebrochen. Als Anlaß für dieses Vorgehen diente eine Serie von Dynamitanschlägen, die von der bürgerlichen Presse sensationsgierig gegen die Streikenden ausgebaut wurde. Die Gelsenkirchener Emscher-Zeitung berichtete am 14. Januar 1893: „Aber die von den Agitatoren gerufenen Geister ließen sich auch zu teuflischen Thaten hinreißen: zwei Dynamit-Attentate vor hiesigen Gasthäusern wurden verübt und sollten die Einwohnerschaft in Furcht und Schrecken setzen. Da war die strengste Überwachung der Stadt geboten, die in wenigen Tagen mit einer großen Anzahl von Gendarmen besetzt wurde… Tag und Nacht war Gendarmerie und Polizei auf dem Posten und der Umsicht und dem entschiedenen Eingreifen der Sicherheitsbeamten ist es zu danken, daß die Ruhe im übrigen aufrechterhalten blieb.“
Von Dorsten, Gelsenkirchen, Schalke und Bochum meldete die Presse teils gelungene, teils vereitelte Dynamitanschläge vor Gerichtsgebäuden, Hotels, an Bahngleisen und auf Zechen. Einige Meldungen mußten richtig gestellt werden: „Vollständig erfunden ist das Gerücht – das übereifrige Reporter schon in die Welt hinausgedrahtet haben -, daß gestern auf den Direktor der Zeche Hibernia, Herrn Raderhoff, geschossen worden sei.“ (Emscher-Zeitung, 11.1.1893) „Zu den Dynamitattentaten berichtet man auswärtigen Blättern, es seien 100 Zentner dieses gefährlichen Sprengstoffes entwendet worden. Das ist nun eine handgreifliche Übertreibung…“ (Emscher-Zeitung, 13.1.1893)
Die Bergarbeiterzeitung vermutete in ihrer Ausgabe am 4. Februar 1893, daß diese Anschläge „bestellte Arbeit“ gewesen wären, die von „verkommenen Subjekten, die für Geld zu allem fähig sind“, ausgeführt wurden. Ein Bergarbeiter, der täglich mit dem Sprengmaterial umgehe, hätte nicht „solche Stümperarbeit verrichtet“. Vorteile aus diesen Anschlägen hätten nur die „Profitschinder“ gezogen, um „Maßnahmen zur Unterdrückung der übermüthigen Arbeiter zu erzwingen“.
Gleich nach dem Ausbruch des Streiks hatte Michael Müller für die anarchistische Gruppe in Borbeck die Redaktion der „Autonomie“ gebeten, einen Aufruf an die Bergarbeiter zu erstellen, um aktiv den weiteren Verlauf des Streiks zu beeinflussen. Erst in der zweiten Hälfte des Januar wurde er in London verfaßt und gedruckt. Dieser Aufruf stellte, so die Rheinisch-Westfälische Arbeiter-Zeitung vom 23. Februar 1893, die „Durchschnittsliteratur der Anarchisten bedeutend in den Schatten“: „Auch jetzt wieder seid Ihr bereit, durch einen Generalstreik Euch bessere Lebensbedingungen zu erkämpfen, doch wenn es nur ein Streik bleibt, ist Euch nicht geholfen…. Ihr könnt Euch nur helfen, wenn ihr den Ertrag Eurer arbeit selbst einsteckt, und nicht schmarotzende Faulenzer damit füttert!! Ihr könnt aber nur den Ertrag Eurer Arbeit sichern, wenn Ihr Besitz von den Zechen ergreift und sie selbst verwaltet!! Freilich wird das nicht ohne Kampf abgehen…. Viele von Euch werden einwenden, dass das Militär aber den Kapitalisten zu Bebote stande; dafür habt Ihr eben Dynamit! … Werft nur eine einzige gut geladene Dynamit-Bombe in eine Colonne aufmarschierender Soldaten, und sie werden fallen wie die reifen Birnen…. Die Anarchie ist die Zukunft eines friedlichen, freien Menschengeschlechtes, die Anarchie kennt kein Blutvergiessen, aber erst müssen Diejenigen hinweggeräumt werden, die uns daran hindern, friedlich und glücklich zu sein, und das sind alle Kapitalisten, Fürsten, Pfaffen und solche, welche die heutigen Zustände beibehalten wollen. Glück auf!! Zum fröhlichen Kampf!!!“
Obwohl der Streik schon nach Fertigstellung des Flugblatts zusammengebrochen war, beschlossen die Anarchisten, den Aufruf trotzdem über Holland in das Ruhrgebiet einzuführen. Ausschlaggebend für diesen Entschluß war sicherlich ein im Februar unternommener Versuch, die Belegschaften zu einem neuen Kampf für die Einstellung der Gemaßregelten zu bewegen. Anstelle von Sepp Oerter wurde nun Blasius Grasser von dem Sprecher der „Autonomie“, Joseph Schütz, aufgefordert, die Schriften aus Arnheim abzuholen. Am 29. Januar brachte Grasser eine große Menge Flugblätter und verschiedene Zeitungen über die Grenze. Auf Veranlassung der Bocholter Genossen wurde ihm von Joseph Schütz der Kaufmann Heinrich Schürmann für die Verbreitung der Aufrufe empfohlen. Als Grasser am 2. Februar über 100 Flugblätter übergab, wußte er noch nicht, daß Schürmann im Auftrag der Polizei handelte. Kurze Zeit später wurde Grasser verhaftet, als er von seiner Arbeitsstelle kam, der Zeche Oberhausen. Trotzdem konnten noch einige Flugblätter in Styrum und Duisburg verteilt werden. Durch die Verhaftung Grassers flog auch ein Teil der Gelsenkirchener Gruppe auf, dessen Adressen in seinem Hutfutter gefunden wurden.
Nun wurde der Schreiner Anton Schoenberger von den Londoner Anarchisten beauftragt, Schriften nach Deutschland einzuführen und für deren Verbreitung zu sorgen. Schoenberger brachte daraufhin dem ihn in London empfohlenen Bergarbeiter Gerhard Lanius in Oberhausen nocheinmal etwa 150 Exemplare des Aufrufs. Als er am nächsten Tag den Polizeispitzel Schürmann aufsuchte, wurde er und wenig später auch Lanius festgenommen.
Damit war die Bewegung endgültig zerschlagen, das Resultat war niederschmetternd: Acht Genossen mußten ins Ausland fliehen: Aus Styrum der Schreiner Leonhard Bach, der Fabrikarbeiter und frühere Bergmann Johann Harzheim, die Bergleute Julius Kühl, Friederich Vesper und Johann Küsters; aus Bocholt die Bergleute Utter und Abelt und aus Oberhausen der Bergmann Egger.
Anton Schoenberger wurde zu achteinhalb Jahren Zuchthaus, Blasius Grasser zu fünfeinhalb Jahren Zuchthaus, Gerhard Lanius zu einem Jahr Gefängnis, Sepp Oerter zu acht Jahren Zuchthaus, sein Bruder Fritz zu einem Jahr Gefängnis und der aus Borbeck stammende Bergarbeiter Michael Müller zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Johann Harzheim wurde nach seiner Rückkehr im November 1895 nach Styrum zu einem Jahr Gefängnis verurteilt – er war während seines Aufenthaltes in London durch Spitzel des Berliner Königlichen Polizeipräsidiums überwacht worden. Leonhard Bach wurde 1895 von einem Lütticher Gericht zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt und am 12. Februar 1901 in die Irrenanstalt Grafenberg überführt. Auch gegen die Arnheimer Kontaktadresse wurde strafrechtlich vorgegangen. Am 15. März 1893 fand man dort neben einer großen Menge anarchistischer Schriften in deutscher Sprache noch etwa 7000 Exemplare des Aufrufs an die Bergarbeiter.
Am8.September 1894 konnte der Styrumer Bürgermeister dem Landrat nach Mülheim vollen Erfolg melden: „Auf Grund der fortgesetzten polizeilichen Beobachtungen und Nachforschungen glaube ich versichern zu können, daß der Anarchismus auch im geheimen hier keine Vertreter mehr besitzt, die zu Versammlungen zusammenträten, Flugblätter herausgäben oder verbreiteten oder den anarchistischen Tendenzen sonst irgend welchen Vorschub leisteten.“
Die ersten Anarchisten in Styrum, Oberhausen und Mülheim – waren es alles nur Phantasten, ausgeklinkte Kleinbürger, realitätsfremde Spintisierer oder einfach nur verrückte Kriminelle, wie uns die bürgerlichen und sozialdemokratischen Medien weismachen wollen? Waren es überhaupt „wirkliche“ Anarchisten? Über Sepp Oerter, der im „Vorwärts“ am 1. November 1893 anläßlich seines Prozeßes als „Halbverrückter“, als ein „geistig behinderter Mensch“ charakterisiert wurde, schreibt Rudolf Rocker in seinen Memoiren: „Er verbüßte seine Strafe bis zum letzten Tage und beteiligte sich nach seiner Entlassung einige Jahre in unserer Bewegung als Redakteur des Freien Arbeiter in Berlin. Später machte er allerhand Wandlungen durch…. Nach dem Kriege wurde er Ministerpräsident von Braunschweig; er starb einige Jahre vor dem Machtantritt Hitlers. Sein Bruder Fritz entwickelte sich zu einem der begabtesten Schriftsteller der anarchistischen Bewegung Deutschlands, der er bis zu seinem Lebensende treu geblieben ist.“
Friederich Vesper war die Seele des Styrumer Bergarbeiterverbandes – nach seiner Flucht brach der Verband zusammen und konnte erst Anfang 1894 neu belebt werden. 1898 zählte er 50 Mitglieder. Auch Michael Müller war in Borbeck Vertrauensmann des Bergarbeiterverbandes. Ein aufschlußreiches Zeugnis stellten ihm nach seiner Verhaftung „Mehrere Bergleute“ in der Bergarbeiterzeitung am 1. April 1893 aus: „Die Gebrüder Müller konnten bis dato nie einer ehrlosen Handlung beschuldigt werden, vielmehr sind dieselben stets für die Interessen der Arbeiter eingetreten, umsomehr ist es unsere Aufgabe, an dem Worte festzuhalten: ‚Einer für Alle und Alle für einen!‘ Es werden sich Kameraden auf den verschiedenen Zechen finden, welche einen Beitrag in Empfang nehmen und der Mutter der Inhaftierten übermitteln werden.“
Bis auf Leonhard Bach, den schließlich die Ereignisse dieser Zeit in den Wahnsinn trieben, wurden diese ersten Anarchisten im Ruhrgebiet von vielen Arbeitern akzeptiert und hatten Einflüsse auf die lokalen SPD-und Gewerkschaftsorganisationen. Doch für fast alle späteren anarchistischen Bewegungen bleibt diese Frühphase des deutschen Anarchismus ein dunkles Kapitel, ein scheinbar unauslöschbarer Makel. Denn entgegen den ab der Jahrhundertwende eher pazifistisch gesinnten anarchistischen Bewegungen waren die frühen Anarchisten Vertreter der „Propaganda der Tat“. Rudolf Rocker urteilte später in seiner 1921 erschienenen Schrift „Anarchismus und Organisation“ über diese Zeit: „Neunundneunzig Prozent der damaligen Anarchisten in Deutschland hatten von der ursprünglichen anarchistischen Bewegung und ihren Bestrebungen überhaupt keine Ahnung. Durch die Vermittlung der im Auslande erschienenen anarchistischen Blätter und Broschürenliteratur waren sie oberflächlich bekannt geworden mit einer bestimmten Phase der Bewegung, aber die Verhältnisse, die zu dieser neuen Form der Bewegung geführt hatten, waren ihnen vollständig unbekannt. Die damaligen Anarchisten wären „junge Enthusiasten“, die den Anarchismus mehr mit dem Gefühl als mit dem Verstande erfaßt hätten. “ … Auch darf nicht verschwiegen werden, daß auf uns junge Kerle die grobkörnigen Worte Mosts damals einen größeren Eindruck gemacht haben als die sachlichen Abhandlungen Kropotkins. Psychologisch ist das leicht zu verstehen. In einem Lande, in dem jedes freie und offene Wort verpönt war, mußten selbstverständlich die radikalsten Ausdrücke die größte Wirkung auslösen, mochte auch sonst nicht viel Tiefes dahinterstecken.“
Der anarchistische Historiker Max Nettlau urteilte in seinem 1931 erschienenen Werk zur „Geschichte der Anarchie“ über diese Zeit: „Grade diese ersten Anfänge wurden durch die systematischen Verfolgungen niedergetreten und dies forderte die Rache heraus und so erschöpfte man sich in Racheakten und kam nicht dazu für die Ideen selbst eine geistige Grundlage zu legen. Es war eine Tragödie, eine Sysiphusarbeit, ein Bannkreis, den man nicht verlassen konnte, das Erbe der autoritären Vergangenheit, der man nicht entwachsen war, auch wenn man den Namen Anarchisten noch so gern und stolz akzeptierte…. Die ungeheure Opferwilligkeit so vieler hatte durch ihre Einseitigkeit die denkbar kleinsten Resultat gebracht.“
Johann Most schrieb über die von ihm so verherrlichte „Propaganda der Tat“ bereits im September 1892 in der Freiheit: „Wer die Gesamtbilanz betreffs des Nutzens und Schadens dieser Art der Agitation ziehen könnte, dem würde ein moralisches und faktisches Defizit in das Antlitz starren, daß ihm Hören und Sehen vergehen machte.“
Obwohl im gesamten Ruhrgebiet in dieser Zeit nicht ein Attentat von Anarchisten verübt worden war, wurde nun der Anarchismus diffamiert – jeder Anarchist war eine Bombenleger, nichts weiter. Am Ende blieben der Bewegung nur ein Haufen Märtyrer und viel zerschlagenes Porzellan. Bis zum Ende des 1. Weltkrieges sollte der anarchistischen Bewegung eher ein Schattendasein in der Arbeiterbewegung beschieden sein. Anfang 1914 gehörten in Mülheim der anarchistisch beeinflußten syndikalistischen „Freien Vereinigung“ 60 Personen an, vor allem Bergarbeiter und Bauarbeiter. Doch nach der sogenannten Novemberrevolution 1918 sollten die anarchistischen Organisationen einen unerwarteten Aufschwung nehmen. Theodor Schuster besuchte im Auftrag der Freien Vereinigung der Metallarbeiter Mülheim und schilderte seine Eindrücke in der ersten Ausgabe des „Syndikalist“ am 14.12.1918: „Was ich in diesen acht Tagen sah, das wird mir unvergesslich sein. Nichts mehr von resignierten Gesichtern, leuchtenden Auges wurde von den Versammelten berichtet, wie die Umwälzung vor sich gegangen. Überall hatten sich syndikalistische Organisationen gebildet. Der Same, der vor Jahren ausgestreut und anscheinend auf unfruchtbaren Boden gefallen waren, war aufgegangen. In Mülheim an der Ruhr leisten unsere Gesinnungsgenossen im Arbeiter- und Soldatenrat praktische Arbeit. Bei der Ausschußwahl auf der Friederich-Wilhelm Hütte wählten die Arbeiter in der Mehrzahl für unsere Genossen….“
Bis Ende 1919 organisierten sich 5000 Metallarbeiter in der „Freien Vereinigung“ die sich nun „Freie Arbeiter-Union Deutschlands (Anarcho-Syndikalisten)“, kurz FAUD, nannte. Die Mülheimer Lederarbeiter gehörten fast vollständig der FAUD an; Bauarbeiter, Bergarbeiter und auch die Verkehrsarbeiter traten in hoher Zahl der anarchistischen Gewerkschaft bei. Die Mülheimer Polizeiverwaltung meldete am 30. April 1921 der Meldestelle der Regierung Düsseldorf: „Die Freie Arbeiter-Union (Syndikalisten) zählt in hiesigem Bezirk etwa 8000 Mitglieder.“ Auch andere anarchistische Gruppierungen erhielten regen Zulauf. Der „Anarchistische Freibund“ hatte hier mehrere hundert Mitglieder, anarchistische Jugend- und Frauengruppen bildeten sich und Kulturorganisationen wie die „Freien Sänger“, die relativ eng mit der FAUD zusammenarbeiteten, gewannen an Einfluß.
Die anarchistische Bewegung war nun fast über nacht aus ihrem Debattierzirkel-Dasein zu einer Massenbewegung angewachsen. Doch nicht jeder, der in dieser Zeit radikal auftrat und ein Mitgliedsbuch der FAUD bei sich führte, war auch ein Anarchist. Die Bewegung war ja nicht kontinuierlich gewachsen. Als die mit der FAUD verbundenen Hoffnungen auf eine baldige revolutionäre Umwälzung enttäuscht wurden, verließ ein Großteil der Mitglieder die FAUD und zog sich resigniert aus dem politischen Leben zurück. In einem Schreiben der Polizeiverwaltung an den Regierungspräsidenten in Düsseldorf am 2. September 1924 heißt es: „Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands (Anarcho-Syndikalisten), welche in den Jahren 1920 bis 1922 eine der stärksten und größten gewerkschaftlichen Organisationen im hiesigen Bezirk war …, ist in den letzten beiden Jahren stark zurückgegangen und zählt nur noch einige 100 Mitglieder.“ Die Mitgliederversammlungen wurden nur noch äußerst schwach besucht. Eine öffentliche Veranstaltung im August 1924 unter dem Thema „Nie wieder Krieg“ brachte es nur auf 100 bis 120 Teilnehmer. 1931 gehörten der FAUD in Mülheim nur noch 32 Bauarbeiter und 102 Metallarbeiter an.
Die Anarchisten hatten sich während der Dauer des gesamten Kaiserreichs nicht von ihrer Niederlage nach dem Sozialistengesetz erholen können. Das kurze ‚Gastspiel‘ der Anarcho-Syndikalisten Anfang der Weimarer Republik konnte die über 30 Jahre gefestigte Vorherrschaft der autoritär-marxistischen Parteien nicht brechen.
Aus: Schwarzer Faden Nr. 34 (1/1990)
Publizierte Quellen: Sepp Oerter, Acht Jahre Zuchthaus. Lebenserinnerungen von Sepp Oerter, Berlin, 1908 Rudolf Rocker, Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten, Frankfurt a.M., 1974
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