Mein Beitrag im Sammelband (erschienen März 2025):
Anarchismus und Antisemitismus
1.
Als ich angefragt wurde einen Beitrag zu einem Buch unter dem Arbeitstitel „Anarchismus und Antisemitismus“ zu schreiben, war ich hin und her gerissen.
Zum einen ist das Thema interessant, und vor allem sehr wichtig.
Zum anderen bin ich nicht der Typ, der „wissenschaftlich“ schreibt.
In sofern fällt dieser Beitrag jetzt ein wenig aus dem Rahmen dieses Buches.
Ich hoffe, dass der Platz, den mein Text beansprucht, nicht verschwendet ist.
2.
Meine „erste“ Begegnung mit Antisemitismus in der anarchistischen / anarchosyndikalistischen Bewegung war 1993.
Ich war in Barcelona und habe die „Exposición Internacional del Anarquismo“ besucht. Dort habe ich nicht nur zahlreiche Anarchistinnen getroffen, über die ich nur wenige Tage zuvor noch etwas gelesen hatte, sondern auch zahlreiche „junge“ Anarchistinnen aus ganz Europa und Kanada.
Ich schloss mich einer kleinen multinationalen Gruppe an.
Dort lernte ich eine junge Anarchistin kennen. Sie war nicht nur Kanadierin, sondern auch Jüdin. Mit anderen zusammen zogen wir nachts um die Häuser und besuchten die anarchistischen Bars der Stadt. In einer der letzten Kneipen erzählte ein Anarchist aus Großbritannien, der als Jobvermittler beim Arbeitsamt arbeitete, dass er selbst ja nix gegen Juden habe, er aber nachvollziehen könne, dass viele Menschen etwas gegen die reichen „Geldjuden“ hätten.
Immerhin sei das schon auffällig,…. –
In meiner Erinnerung haben sie und ich uns kurz angeblickt. Irgendwie war klar, dass wir mit einem Betrunkenen nicht anfangen werden zu diskutieren.
Wir sind stattdessen gegangen.
Diese Begegnung ist mir besonders deutlich in Erinnerung geblieben.
3.
Meine nächsten Begegnungen mit Antisemitismus innerhalb der anarchistischen Bewegung, waren nicht nur von „außen“.
Vielmehr war ich oft genug selbst das Problem.
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre fiel es mir noch sehr leicht vom „Apartheidstaat Israel“ zu reden.
Zum Glück hatte ich Genossinnen in meinem Umfeld, die Zeit und Geduld aufbrachten, um mir zu erklären was und warum das, was ich so alles von mir gab, Teil der antisemitischen Erzählung ist. In die selbe Zeit fallen die Gewerkschaftsproteste gegen internationale (meist US-amerikanische) Finanzinvestoren.
Die Gewerkschaften haben dabei häufig das Bild der alles vereinnahmenden Krake oder der alles auffressenden Heuschrecke verwendet.
Innerhalb der Gewerkschaften gab es aber auch Menschen, die sich gegen diese beiden (und noch ein paar andere) Erzählungen gestemmt haben.
Insgesamt hatte ich also das Glück, dass antisemitischen Erzählungen offen und öffentlich widersprochen wurde.
So hatte ich die Chance mich mit den antisemitischen Bildern und Erzählungen, die ich in meinem Leben, ohne es zu wollen, erlernt hatte, auseinander zu setzten.
Dieser Prozess ist sicher noch nicht abgeschlossen.
4.
Der Massenmord der islamistischen Hamas an über 1.000 Israelis am 7. Oktober 2023 war eine Zäsur.
Mich haben die verschiedenen „roten“ Gruppen nicht überrascht, die das Massaker und die Entführung von über 200 Menschen als „legitimen Widerstand“ verklärt haben.
Aufgrund ihres marxistischen/leninistischen Antiimperialismus hatte ich von diesen Gruppen nichts anderes erwartet.
Überrascht haben mich queere, feministische und vor allem anarchistische/anarchosyndikalistische Gruppen/Organisationen und Menschen, die in ein ähnliches Horn bliesen.
Seit dem Angriff der Hamas und ihrer Verbündeten haben antisemitische Angriffe in der BRD (Europa/weltweit) zugenommen.
Im Schnitt haben sie sich im Vergleich zum Vorjahreszeitraum verdoppelt.
Hat mich schon das Schweigen vieler Gruppen verunsichert, so hat mich so manche Äußerung wirklich erschüttert.
Das Schweigen, auch meiner eigenen Organisation, konnte ich mir eine Zeit lang noch damit erklären, dass die Leute erst einmal intern diskutieren müssen.
Schließlich ist das Thema Israel/Palästina ein „heißes Eisen“ und komplex.
Aber je länger das Schweigen dauerte und die Angriffe auf Juden und Jüdinnen weltweit weiter gingen, desto mehr wurde mir das Versagen (auch das eigene) bewusst.
Gegen das eigene Versagen kann man ja zum Glück etwas unternehmen.
Also fing ich an, nach anarchistischen Verlautbarungen zu suchen, die meiner Haltung einen Ausdruck verleihen konnten.
Ich schlug diese meinem Syndikat vor und bat darum, dass wir diese auf unserer Homepage veröffentlichen sollten.
Leider wurde das von einer kleinen Gruppe ohne Begründung und vor allem ohne Diskussion abgelehnt.
Und das war dann auch der Punkt, wo ich fast den Boden unter meinen Füßen verloren habe.
Im eigenen Syndikat, aber auch darüber hinaus gab es Anarchist:innen, die sich nicht dazu bereit fanden, den sich neu bahnbrechenden und aktionistischen Antisemitismus in Deutschland zu verurteilen.
Stattdessen kamen immer wieder andere Ausreden und jede Menge „was ist mit,…“
Getoppt wurde alles durch Schuldzuweisungen, à la „die Juden sind selbst schuld!“
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es schnell gehen kann, dass man antisemitische Erzählungen wiederkäut.
Entscheidend ist die Bereitschaft, wenn man schon darauf aufmerksam gemacht wird, sich damit auseinander zu setzten.
Denn einerseits hat man ja vielleicht etwas zu sagen.
Und andererseits ist man ja vielleicht auch kein überzeugter Antisemit.
Aus dieser Gemengelage ergibt sich meiner Meinung nach die Pflicht, sich im Zweifel noch einmal hin zu setzten und zu überlegen wie man das, was man vielleicht eigentlich sagen wollte, so mitteilen kann, dass es eben nicht anschlussfähig an antisemitische Erzählungen ist oder gar selbst eine antisemitische Erzählung wiederholt.
Stattdessen beobachtete ich eine Verhärtung der angeblich „pro“-palästinensischen Positionen und die komplette Abwehr jeglicher Kritik, egal aus welcher Richtung diese kommt.
Stattdessen beruft man sich zusehends auf „antizionistische“ Juden und bringt diese in Stellung gegen die als „Zionisten“ markierten Kritiker:innen.
5.
Aber wie kommt es, dass auch einige Anarchist:innen einerseits antisemitische Erzählungen wiederkäuen und anderseits nicht willens oder auch nur in der Lage sind in diesem Punkt Kritik anzunehmen?
Ich bin leider nicht in der Situation, um eine ausgereifte Theorie zu dieser Frage zu konstruieren. Aber ich denke, dass es an mehreren Faktoren liegt.
Zum einen wähnen sich Anarchist:innen grundsätzlich auf der „richtigen Seite“.
Unter diesem Gesichtspunkt, können sie sich keine Fehler eingestehen.
Dann haben einige von ihnen sicher auch ein sehr einfaches Konzept von Unterdrückern auf der einen Seite und Unterdrückten auf der anderen Seite.
In diesem einfachen Bild sind Juden/Jüd:innen die Unterdrücker und die Palästinenser die Unterdrückten.
Und nicht nur das – als Opfer des NS-Faschismus werden sie in ihrer Rolle als Unterdrücker mit den Nazis und ihren Methoden gleichgesetzt.
Als Anarchist:innen sind sie natürlich auch „gegen den Staat“.
Dabei vergessen sie, dass Anarchist:innen gegen die Idee des Staates insgesamt sind, und, schon seit Peter Kropotkin wissen, dass der Staat eine ganze Reihe von gesellschaftlichen (sozialen/kulturellen) Aufgaben an sich gerissen hat.
Zusammen mit der Erkenntnis, dass der Staat kein Ding ist, das man zerschlagen kann sondern ein gesellschaftliches Verhältnis zwischen den Menschen, ist eigentlich klar, dass Anarchist:innen nur dann „den Staat“ abschaffen können, wenn sie vorher schon die Keimzelle für ein neues Verhältnis gelegt haben.
Und das im globalen Maßstab.
Durch dieses „Vergessen“ fällt es ihnen leicht, die Vernichtung Israels (free palestine-from the river to the sea)/ zu fordern.
Und da sind wir auch schon wieder beim nächsten Problem:
Wann immer man versucht mit ihnen über Antisemitismus hier(!) und jetzt zu reden, gehen sie über zum Israel-Palästina-Konflikt.
Sie können Juden und Jüdinnen nur noch als Zionisten oder Antizionisten sehen.
Egal wo auf der Welt sie leben und egal was sie dort machen oder wie alt sie sind.
Nicht unwichtig scheint mir auch die, den Kritiker:innen unterstellte „Staatsnähe“ zu sein.
Mit ihrem Bekenntnis zum „palästinensischen Volk“ treten sie in Opposition zur deutschen Staatsräson.
So kann man sich ohne großes persönliches Risiko noch einmal rebellisch fühlen und gegen „die da oben“ aufbegehren.
Ein Argument, das ich immer wieder gehört habe, war, dass die Anarchist:innen „auf der ganzen Welt“ für das „palästinensische Volk“ wären.
Und dass nur in Deutschland Anarchist:innen Antideutsche (das meint „zionistische“) Positionen übernommen hätten.
So als ob die Mehrheit automatisch recht hätte oder Deutschland nicht der Staat wäre, der den Holocaust organisiert und weltweit antisemitische Gruppen und Organisationen unterstützte.
Vielleicht spielt auch die Art und Weise, wie die Palästinenser gegen Israel kämpfen, eine Rolle.
So herrscht angesichts der eigenen Ohnmacht vielleicht eine klammheimliche Freude darüber, dass es Gruppen gibt, welche den vermeidlich übermächtigen Feind mit der Waffe in der Hand gegenüber treten..
Zu guterletzt scheint es mir auch so, dass einige Anarchist:innen von Rassismus und Antisemitismus falsche Vorstellungen haben.
Der grundlegende Unterschied zwischen beiden Konzepten scheint nicht allen klar zu sein. Deshalb erscheint es ihnen wie ein einzelnes Phänomen.
6.
Bei einigen Anarchist:innen habe ich jede Hoffnung aufgegeben, dass sie noch einmal ihren Antisemitismus überdenken.
Bei allen anderen bleibt nur die Hoffnung.
Was es zuallererst braucht, ist die Bereitschaft Kritik anzunehmen und sich ernsthaft damit auseinanderzusetzten.
Aber das reicht nicht aus.
Es braucht auch den Willen, zu akzeptieren, dass wir als Bewegung weit davon entfernt sind realpolitische Macht entfalten zu können.
Eben weil das so ist, werden „wir“ auch nicht den Israel-Palästina-Konflikt lösen.
Darum geht es auch nicht.
Es geht um Antisemitismus hier und jetzt.
Dabei ist es besonders wichtig den Antisemitismus in den eigenen Reihen zu thematisieren.
Wenn wir dies tun, dann können wir klar gegen jeden Antisemitismus Stellung beziehen und uns schützend neben Juden und Jüd:innen stellen.
Entgegen der Behauptung derjenigen, welche die antisemitischen Erzählungen weiter verbreiten, werden wir dabei auf zahlreiche neue Verbündete treffen.
In erster Linie Menschen, die Erfahrungen mit islamistischen Gruppen und Regimen machen mussten.
Der Widerstand gegen den Antisemitismus, so wie er sich seit dem siebten Oktober 2023 Bahn gebrochen hat, nimmt weltweit zu.
Er ist multiethnisch und vor allem von Frauen getragen.
Diese Begegnungen werden nicht einfach sein. Aber sie werden sehr fruchtbar sein insbesondere wenn wir allesamt gemeinsam von den jeweiligen Erfahrungen lernen wollen.
Anmerkungen:
Frederik Fuß (Hg.) – Anarchistische Scheidewege
Zum Verhältnis von Anarchismus und Antisemitismus
Sammelband | 196 Seiten | März 2025
ISBN 978-3-949036-16-3
Der 7. Oktober 2023 markiert eine Zäsur. Der größte Massenmord an Jüdinnen und Juden seit der Shoa geht in seiner Bedeutung und den Auswirkungen weit über Israel hinaus. Als Zäsur betrifft er nicht nur Jüdinnen und Juden, gleichwohl diese vorrangig unter dem weltweit grassierenden Antisemitismus leiden, er zwingt auch alle anderen sich in der Debatte zu verhalten, wenn nicht zu positionieren.
Das anarchistische Lager bildet hier keine Ausnahme und so divers der Anarchismus ist, so verschieden sind die Sichtweisen auf den 7. Oktober und seine Folgen. Tragischerweise geraten auch die erklärten KämpferInnen für die Freiheit immer wieder auf antisemitische Abwege, wobei dies keineswegs neu ist. Im historischen Anarchismus hat es sowohl Antisemitismus wie auch dessen entschlossene Bekämpfung gegeben.
Der Sammelband beleuchtet sowohl den historischen Anarchismus sowie aktuelle Debatten und versucht zu intervenieren, wo es nötig ist. Dabei gehen die Einschätzungen und Meinungen der Beiträge durchaus auseinander. So bleibt der Versuch bei einem viel diskutierten Thema den Dialog im libertären Lager nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern zu fördern.
Mit Beiträgen von:
Thorsten Bewernitz, Olaf Briese, Andreas Fischer, Frederik Fuß, Timo Gambke, Gerhard Hanloser, Kacper Konar, Rudolf Mühland, Jürgen Mümken, Sam Oht,
Werner Portmann, Maurice Schuhmann, Kristian Williams