Ein Bericht des Schwiegersohnes von Anton Rosinke über den Widerstand….


Ein Mitglied der illegalen FAUD in Düsseldorf war der Buchhalter Ernst Binder. Wie sein Schwiegervater, der ermordete Anton Rosinke, hatte auch er die Jahre bis 1937 aus der Sicht des aktiven Widerstands erlebt. In seinem Bericht schildert er Ereignisse, die sein Leben unter der faschistischen Herrschaft in Deutschland prägten. Dabei beschränkt er sich nicht nur auf die Darstellung der Widerstandstätigkeiten in einer Düsseldorfer Arbeitersiedlung, man erhält darüberhinaus auch einen Einblickin den Alltag derer, die sich nach 1933 der faschistischen Diktatur in Deutschland nicht ohne weiteres beugten. Wir halten diesen Bericht für so wichtig und eindrucksvoll, daß wir ihn fast vollständig an dieser Stelle wiedergeben:
Quelle: www.anarchismus.at

Aufzeichnungen von Ernst Binder, Düsseldorf-Eller

Wann der Kampf gegen den Nationalsozialismus für uns in ein aktives Stadium trat, kann ich heute nicht mehr recht sagen. In den rheinischen Industrie-Städten waren wir es gewohnt, die Frage, ob und wie Hitler jemals eines politische Machtstellung einnehmen werde, mit einem Lächeln abzutun. Tatsächlich waren noch im Jahre 1932, als uns die Gefahr der Hitlerbewegung brennend auf den Hals rückte, und wir längst in Wort und Schrift und zeitweilig handgreiflich gegen die Nazis im Kampf standen, die braunen Uniformen der SA noch etwas absolut ungewohntes in unserem Stadtbild.

In diesem Jahr fuhren wir, fünf Kameraden aus der Arbeitersängerbewegung und meine Frau, zu einer Tagung nach Berlin, die den Anschluß unserer Bewegung an die antifaschistische Kampforganisation („Antifa“) zum Ziel hatte. Die allgemeine Erwerbslosigkeit erlaubte uns nur so wenig Mittel, daß wir unsere Reise mit dem Fahrrad machten. Fünf Tage hin, fünf Tage zurück. Dazwischen die Tagung in einem Berliner Arbeiterviertel. Auf dieser Reise sahen wir erst recht, wie das ländliche Deutschland bereits von Hitler in Besitz genommen war. Während bei uns noch (im Sommer 1932) die Arbeiterschaft ihren Abwehrwillen in verhälnismässig großen Demonstrationen und Manifestationen ausdrückte, beherrschte in den kleinen Städten und Gemeinden Mitteldeutschlands, die wir durchfuhren, bereits die SA die Straße mit Aufzügen, deren Ausmaß uns, bis dahin, hätten wir es nicht selbst erlebt, unglaubhaft erschienen wäre. Das Bewußtsein der durch den schrankenlosen Nationalsozialismus uns drohenden Gefahr hatten wir seit Jahren. Jetzt aber wußten wir, daß diese Gefahr bereits über uns hereingebrochen war und, wenn nicht äußerste Wachsamkeit es verhinderte, uns eines Tages erschlagen würde.

Ich will keineswegs den historischen Ablauf der Geschehnisse festhalten. Aber ich muß mich der Eigenart der damaligen Stellung zu den Dingen erinnern, die nicht nur meine persönliche war, sondern sich weitgehend mit der allgemeinen Stellungnahme der Arbeiterschaft deckte. Man kannte die Gefahr, war sich aber des Gefühls sicher, daß man sie letztenendes doch noch bannen würde. Inzwischen stand aber die große Zahl der, durch Arbeitslosigkeit und Not zermürbten, indifferenten Arbeiterschaft schon halb im Lager des Gegners. In den Amtsstuben der Behörden sah man mehr und mehr Gesichter auftauchen, die einem irgendwie schon mal als Hitleranhänger begegnet waren. Das Bürgertum, soweit es sich nicht offen zu Hitler bekannte, stand auf dem Standpunkt, man muß die Nazis einmal an die Regierung lassen, damit sie zeigen, was sie können. – Und so war die Katastrophe unvermeidlich.

In unseren kleinen Gruppen taten wir, was wir konnten. Die von uns gegründete Druckerei lief nur noch, um Flugblätter zu drucken. Hunderttausende wurden in Rheinland und Westfalen verbreitet. Klebezettel, die in kurzen und prägnanten Sätzen die Arbeiterschaft auf die Allianz der Nazis mit den Industriebaronen, Junkern und Militaristen hinwiesen, jede Möglichkeit der öffentlichen Propaganda nahmen wir wahr.

Und doch war bei alledem etwas faul in der Gesamtpropaganda der Arbeiterorganisationen. Die Einheitsfront wurde allenthalben propagiert, blieb aber nur Schlagwort, da es jeder politischen Richtung innerhalb der linksgerichteten Arbeiterorganisationen auch noch sehr wichtig war, der anderen ihre Sünden und Fehler vorzurechnen. Die so notwendige Schlagkraft war jedenfalls nicht vorhanden.

Die Ereignisse warfen ihre Schatten voraus. Selbst die Veranstaltungen unserer Kulturorganisationen wurden überwacht. So wurde ich schon 1932 mehrmals als Vorsitzender des „Bundes freier Sexualreformer“ und auch als Vorstandsmitglied der „Freien Sängervereinigung“ vor die damalige politische Polizei, Vorläufer der Gestapo, zitiert. – Unser Haus, schon von jeher eine Durchgangsstation für politische Flüchtlinge, wurde nicht mehr leer. Viele italienische Freunde, darunter auch der Anarchist Angelo Bartolomeo, die bis dahin illegale Zuflucht in Deutschland gefunden hatten, wurden von uns nach Aachen und von dort durch unseren Genossen Simon Wehren über die Grenze geleitet.

Alles wies auf die kommenden Ereignisse hin, und doch traf uns der 30. Januar 1933 wie ein Schlag. Die SA begann zu wüten. Jeder Lausejunge war mit einem Revolver ausgestattet und machte auch Gebrauch davon. Unzählige Freunde und Genossen wurden des nachts aus den Betten geholt und in die berüchtigten Folterstätten, deren schlimmste der „Schlegelbräu-Keller“ und die Waggonfabrik in der Kölnerstraße waren, verschleppt. — Viele wurden zu Tode geprügelt, viele auf ewig zu Krüppeln geschlagen.

Unsere abgelegene Siedlung blieb von diesen ersten wahnsinnigen Exzessen verschont. Aber vergessen wurden wir nicht. Die ersten Hausdurchsuchungen setzten schon kurz nach dem Reichstagsbrand ein. Morgens um 6 Uhr poltern an der Türe sechs Kriminalbeamte. Sichtlich gut informiert gingen drei in die Parterre, das galt Anton, meinem Schwiegervater, drei aufwärts zur ersten Etage, das galt mir. Ein unbeschreibliches Durcheinander in Kisten und Kasten ließ uns nach zweistündiger Durchsuchung mit unseren verstörten Familien zurück. Natürlich hatten wir nichts Verfängliches im Haus, das heißt, wir hatten bereits Vorsorge getroffen und für illegales Material sichere Verstecke geschaffen. Diese Besuche kamen nun häufiger, immer das gleiche Bild hinterlassend. Irgendwie mußten sie Wind bekommen haben, und äußerste Vorsicht war geboten.

Anton entwickelte eine fieberhafte Tätigkeit. Aus der Not heraus wurden wir unsere eigenen Schriftsteller und Verleger. Alles uns erreichbare Material sammelten wir, und besonders Anton wurde außerordentlich produktiv in der Verarbeitung dieses Materials zu Artikeln. Ich korrigierte diese und schrieb sie in unserer Druckerei auf der Schreibmaschiene zu druckreifen Manuskripten ab. (Die Druckerei wurde von unserem Genossen Paul Hellberg noch weitergeführt. Er stellte Geschäftspapiere und Vereinsdrucksachen her und war beherzt genug, zwischendurch immer noch ein Flugblatt für die KPD herzustellen.)

Wir selbst aber hatten durch den treuen und zuverlässigen Genossen Simon Wehren aus Aachen Gelegenheit, ein Mitteilungsblatt in Vals in Holland, unweit der Grenze bei Aachen, drucken zu lassen. Die Manuskripte in der Druckerei abzuschreiben, wurde mittlerweile zu gefährlich. Kam ich doch eines Tages dort an, nachdem gerade fünf Minuten vorher Max Brosig, der berüchtigste Düsseldorfer Gestapobeamte eine Durchsuchung abgehalten hatte. So wurden denn auch Hellberg und sein getreuer Helfer, der Bauarbeiter Joseph Könen, bald Opfer der Spitzeltätigkeit der in Düsseldorf unrühmlich bekannten Gebrüder Huppertz. Beide wanderten auf zwei Jahre ins Konzentrationslager Börgermoor. Ohne Prozeß und ohne Urteil, man hatte ihnen nichts nachweisen können. „Schutzhaft“.

Uns gelang es, noch einen Teil des Schriftenmaterials zu retten und ebenfalls nach Vals-Holland zu verfrachten, wo es dann für die Herstellung illegalen Materials verwendet wurde.

Das Mitteiltmgsblatt gaben wir bis 1934 heraus. Dazu erhielten wir noch illegale Schriften, die von emigrierten Genossen in Belgien hergestellt wurden, unter anderen auch eine Schrift, die in unserem Prozeß 1937 als einziges handgreifliches Belastungsmaterial gegen uns figurierte. Das Außenblatt war einer Propagandaschrift des Reichsnährstandes nachgeahmt und trug die Aufschrift: „Eßt deutsche Früchte“. Der Text beschäftigte sich mit den Schändlichkeiten der Hitlerdiktatur und ihre Auswirkungen auf die Zukunft des deutschen Volkes. Gerichtsnotorisch wurde nachher festgestellt, daß diese Schrift eine derartige Verbreitung gefunden habe, daß sich die Kumpels im Ruhrgebiet in beziehungsvollen Scherzen auf dem Wege zum Pütt zuriefen: „Hast Du auch deutsche Früchte gegessen?“

Nebenher hatten wir fortgesetzt Flüchtlinge zu versorgen und zur Grenze weiterzubefördern. Meist Genossen, die wegen illegaler Tätigkeit heftig gesucht wurden. Ich erinnere mich eines bemerkenswerten Menschen, ein baumlanger Zimmermann, den ich per Fahrrad nach Aachen geleitete. Eine eiserne Natur, war er in häßlichstem Herbstwetter, nur ausgerüstet mit einem dünnen Schlafsack, auf einem schändlich schlechten Fahrrad von Berlin bis Düsseldorf gekommen. Nur mit wenigen Adressen versehen, mußte er durchweg im Freien übernachten. Dabei führte er noch mit sich einen Photoapparat, eine Gummiwalze und einige Chemikalien. Diese benutzte er, um Flugblätter und illegale Zeitungen in Kleinformat zu vervielfältigen. Schweren Herzens mußte er sich in Aachen von diesen Sachen trennen, denn Simon hielt es für richtig, falls sie erwischt würden, die Möglichkeit aufzuhalten, sich für harmlose Spaziergänger ausgeben zu können, die unbewußt die Grenze überschritten hätten.

In unserem Hause konnten wir natürlich längst keine Flüchtlinge mehr beherbergen, da wir stets mit Haussuchungen rechnen mußten. Eines Tages kam die Gestapo zu ungewöhnlicher Zeit in den Vormittagsstunden. Anton saß auf der Mansarde und schrieb für das Mitteilungsblatt. Ich war just auf dem Hof. Glücklicherweise war es eine Serie Beamte, die noch nicht vorher bei uns gewesen waren. Ich konnte sie in der Parterrewohnung eine Zeitlang aufhalten. Während des lief meine Frau auf die Mansarde und nahm ihrem Vater kurzerhand das gesamte Schreibmaterial weg und steckte es in unserer Wohnung ins Feuer. Inzwischen hatten die Beamten festgestellt, daß ich nicht parterre sondern erste Etage wohnte und schickten sich an, mit mir hinaufzugehen. Der Besuch galt in diesem Falle mir, da in dem Feuerbestattungsverein des ehemaligen Freidenkerverbandes illegale Propaganda festgestellt worden war, ich aber zu dieser Zeit für diesen Versicherungsverein als Agent tätig war. Nur äußerste Glücksumstände und das rasche Zugreifen meiner Frau hatten uns diesmal vor dem Entdecktwerden geschützt. Ich wurde allerdings noch einmal vor die Gestapo geladen, wahrscheinlich aber für harmlos gehalten.

Im Januar 1934 wurden wir dann aber doch verhaftet, teils auf Betreiben der Spitzel Huppertz, teils durch das Verhängnis, daß noch ein Zivilprozeß gegen uns als Vertreter der „Freien Sängergemeinschaft Deutschland“ lief. Eine Anzahl Genossen aus der Sängerbewegung und der „Freien Arbeiterunion“(FAU) wurden mitverhaftet. Da der Kreis der Eingeweihten sich nur auf wenige Personen beschränkte, konnte man auch diesmal nichts Wesentliches feststellen. Von den über zwei Zentnern revolutionärer Gesangsliteratur, die man in unserem Hause gefunden hatte, konnte ich glaubhaft machen, daß ich sie zur Verfügung des Gerichts gehalten hätte, da der laufende Zivilprozeß mit dem ehemaligen Verleger noch nicht entschieden war. Als besonderen Scherz mußten Anton und ich dieses Material zum Präsidium schaffen.

Mit dieser Bedingung wurden wir freigelassen. Schwerer war es, ein beschlagnahmtes Sparkassenbuch meiner Schwägerin wieder ausgehändigt zu bekommen. Man hatte es unter der Motivierung, es seien Organisationsgelder, mitgehen lassen und meine Schwägerin mußte erst an Hand von Verdienstbescheinigungen nachweisen, daß sie überhaupt in der Lage war, dieses Sparguthaben anzusammeln. Eine Reihe wahllos beschlagnahmter Bücher, durchweg unpolitisch, waren ebenfalls dahin.

Das alles läßt sich einfach und harmlos darstellen, was aber an seelischer Erregung bei solchen Gelegenheiten mitläuft, der unterdrückte Zorn, wenn teilweise vom nächtlichen Gelage noch übel riechende Gesellen wie die Vandalen in der Wohnung hausen, der Zwang, die Ruhe und Besinnung zu bewahren, während man lieber mit den Fäusten dreinschlagen möchte, alle diese Aufregungen lassen sich nicht so leicht beschreiben. Ist es doch eine Tatsache, daß meine Frau bis zum Einmarsch der alliierten Truppen noch jeweils vor Aufregung zitterte, wenn zu unpassender Zeit, frühmorgens oder am späten Abend unvermutet ein verfrühter oder verspäteter Besucher klopfte. Und diese Aufregung teilte sich mehr oder minder der ganzen Familie mit.

Bei der nächsten Haussuchung rebellierte Anton. Man nahm ihn kurzerhand mit und nun erlebte er acht Tage auf dem Präsidium, die er bei seiner Rückkehr mit folgenden Worten beschrieb: „Wenn die mich noch einmal holen, lassen sie mich lebendig nicht mehr heraus.“ Wie entsetzlich wahr! Acht Tage unter schlimmstem Druck, nächtliche Vernehmungen, bei denen dieser starke Mann Schlägen und schlimmsten Erniedrigungen wehrlos ausgesetzt war, ließen ihn ahnen, daß er das nicht ein weiteres Mal ertragen würde.

Wir nahmen uns vor, unsere Vorsicht zu verdoppeln. Aber was will man machen. Entweder man muß die Hände in den Schoß legen und nichts tun, oder man muß die Gefahr des Entdecktwerdens mit allen ihren Konsequenzen in Kauf nehmen. Für das erstere eignete sich Anton am allerwenigsten. Wenn in unserem kleinen Kreis sich die Mutlosigkeit breit machen wollte, er pulverte die Verzagten wieder auf. Rückdenkend muß ich sagen, die Situation war nicht sehr hoffnungsvoll und doch wußte er immer wieder aus den kleinsten Anlässen die Hoffnung anzufachen und uns das baldige Ende der Nazis zur Gewißheit zu machen. Ein einfacher Schmied, aber ein innerlich und äußerlich sauberer Mensch, den die Flamme der innerlichen Überzeugung über sich selbst hinaushob und ihm Einfluß auf seine Arbeitsbrüder verlieh, der nicht durch die unterschiedlichen Doktrinen in der Arbeiterbewegung begrenzt war.

Auch in Vals hatten sich inzwischen Schwierigkeiten eingestellt und unser Mitteilungsblatt konnte nicht mehr erscheinen. Genossen aus Dülken versorgten uns nun mit ausländischen Zeitungen und sonstigem Material von Interesse. Wir stellten daraus das Wichtigste zusammen und ließen es kursieren. Natürlich wurde der Kreis, auf den wir offen Einfluß nehmen konnten, immer geringer. Trotzdem machten wir noch zeitweilig mit Flugblättern, die wir aus Emigrantenkreisen erhielten, regelrechte Hauspropaganda. Natürlich nur insofern, als wir Briefkästen benutzten oder unter Beobachtung größter Vorsicht die Flugblätter unter die Wohnungstüren schoben.

Eine Schrift, die die Schrecken des Konzentrationslagers Oranienburg beschrieb, (der Name des Verfassers ist mir entfallen) erhielten wir in holländischer Sprache. Mit meinen geringen Kenntnissen der holländischen Sprache übersetzte ich diese ins Deutsche, so gut es eben ging. Die Genossinnen Mariechen und Lotte Gottschalk schrieben das umfangreiche Manuskript auf der Schreibmaschiene ab, sodaß wir an viele unserer auswärtigen Gewährsmänner je ein Exemplar weitergeben konnten, die dafür sorgten, daß es kursierte.

Der Kampf der spanischen Genossen gab im Jahre 1936 nicht nur uns, sondern allgemein der illegalen Arbeit in Deutschland einen neuen Auftrieb. Viele Genossen wurden sowohl von Dülken aus wie auch über unsere alte Stelle, durch Simon Wehren in Aachen über die Grenze geleitet und schlugen sich nach Spanien durch, um aktiv an dem so entscheidenden Geschehen teilzunehmen. Hier war der Platz, wo die in Deutschland verpassten Gelegenheiten noch einmal wahrgenommen werden konnten und es war gewiß, daß der Sieg der rotspanischen Bewegung von ungeheurer Tragweite für die revolutionäre Entwicklung in Europa werden würde.

Mit gespanntester Aufmerksamkeit verfolgten wir die Entwicklung der Dinge anhand der Zeitungsnachrichten, wie auch durch direkte Informationen, die wir über Simon Wehren von der Internationalen Arbeiter-Assoziation erhielten. Mit gesteigerter Energie entfalteten wir eine rührige Sammeltätigkeit für Rotspanien und überwiesen bis zum Herbst aus unserem kleinen Kreis trotz allgemeiner Erwerbslosigkeit mehrmals Beträge von mehreren hundert bis tausend Reichsmark. Nun, die Entwicklung der Dinge ist bekannt, und wir selbst erlebten das traurige Ende einer hoffnungsvollen Bewegung bereits hinter Schloß und Riegel.

Ungeheure Massenverhaftungen gleich denen des Jahres 1933 setzten ein, Weihnachten 1936 erhielten wir die Nachricht, daß in Mönchen-Gladbach, Viersen und Dülken eine Reihe unserer Genossen verhaftet seien. Der rührige Genosse Michael Delissen aus Mönchen-Gladbach war bereits von der Gestapo erschlagen. Simon Wehren war beim Grenzübertritt verhaftet worden, hatte aber verstanden, die Beamten zu düpieren und wurde wieder freigelassen. Im Januar 1937 kam er zum letztenmal nach Düsseldorf, um dann mit Frau und Kind den gleichen Weg über die Grenze zu nehmen, auf den er hunderte Flüchtlinge geleitet hatte.

Anton und ich konnten uns nicht so leicht lösen. Wir berieten uns mit unseren Genossen und glaubten, noch eine Chance zu haben, für dieses Mal ungeschoren davonzukommen. Leider eine Selbsttäuschung, die verhängnisvolle Folgen hatte. Als wir am 27. Januar 1937 abends nach Hause kamen, hörten wir, daß die Gestapo dagewesen war und sich nach uns erkundigt hatte. Die fadenscheinigen Versicherungen unseren Frauen gegenüber, daß nichts Besonders vorliege, konnten uns nicht täuschen und wir beschlossen, zunächst einmal die Nacht irgendwo anders zuzubringen. — Aber es war schon zu spät. Ich hatte noch eine Reparatur an meinem Fahrrad, da hörte ich ein Auto vorfahren, und wenige Augenblicke später wurde ich mit vorgehaltenem Revolver aus dem Keller geholt. Man gestattete mir nicht, noch einmal in die Wohnung hinaufzugehen. Meine Frau brachte mir die nötigsten Utensilien herunter. Ein kurzer Abschied von unseren Lieben. Unausgesprochen hatten sie alle die Gewißheit, daß es ein Abschied für lange sei. Mein damals neunjähriger Junge verfolgte mit großen Augen die Szene, halb verständnislos, halb ahnungsvoll begann er zu weinen, als wir abgeführt wurden. Im Polizeigefängnis auf dem Präsidium wurden unsere Personalien aufgenommen und unsere an sich geringen Habseligkeiten auf Zahnbürste, Kamm und Seife reduziert. Dann noch ein langer Blick – ich sollte nur noch einmal Gelegenheit haben, einen solchen mit Anton zu wechseln.

Die Zelle, die mich aufnahm, war trostlos. Ein schmaler Raum, ein Meter von der Türe und ein Meter vom vergitterten Fenster nochmals abgeteilt durch Gitter. Der noch verbleibende Raum faßte in seiner Länge noch das hochklappbare Bett und ließ auf der anderen Seite noch eben Platz für einen kleinen Tisch und Schemel. Ein Käfig für Raubtiere, das war mein Aufenthalt für die nächsten elf Tage.

Die erste Nacht schlief ich nur wenig, mit gespannter Aufmerksamkeit die fremden Geräusche aufnehmend. Eine Schreibmaschine hörte ich klappern. Unter meiner Zelle war der Vernehmungsraum und häufig hörte ich noch nächtlicherweile die Geräusche. Oftmals auch wie von fernher wildes Schreien. – Dann wußte ich, da wurde eine der berüchtigten nächtlichen Vernehmungen vorgenommen, bei welchen die Opfer, aus denen man glaubte, Geständnisse herauspressen zu können, in viehischer Weise geschlagen und mißhandelt wurden. Kriminalsekretär Brosig nannte das mit satanischem Lächeln „…eine Spritze geben“.

Der nächste Tag lief ab, ohne daß etwas anderes geschah, als daß sich die Türe zum jeweiligen Essensempfang öffnete. Nun, bei der letzten Verhaftung wurde ich erst am dritten Tag vernommen, und so faßte ich mich in Geduld. Das ist jedoch eine harte Probe. Tag und Nacht erwägt man die vielen Möglichkeiten, die einem bei der Vernehmung entgegentreten können und legt sein Verhalten zurecht. Auch nach drei Tagen wurde ich noch nicht vernommen, und es sollten drei Wochen darüber vergehen.

Wie schon gesagt, kam ich am elften Tag, wer weiß durch wessen Eingebung, in eine freundlichere Zelle. Vor allem die peinigenden Gitter fehlten. Ich hatte etwas mehr Bewegungsfreiheit und, oh Wunder, auch zum morgendlichen Spaziergang wurde mir aufgeschlossen.

Ich hoffte Anton zu sehen, aber weder er noch sonst ein Bekannter war bei dem sturen Rundgang, der sich übrigens für mich in der ganzen Zeit, die ich im Präsidium zubrachte, nur noch zweimal wiederholte. Ich hatte bald heraus, daß da ein ausgeklügeltes System in Anwendung war, die Leute, die im gleichen Zusammenhang verhaftet waren, bei keiner Gelegenheit zusammenkommen zu lassen. Wenn das doch geschah, war es entweder eine Nachlässigkeit des wachhabenden Beamten, oder man mußte annehmen, daß Absicht vorliegt und man irgendwie beobachtet wurde. Das letztere nahm ich an, als ich eines Tages in den Baderaum geschickt wurde und dort nur Anton allein antraf, ohne daß ein Beamter zugegen war. Auch Anton schien das gleiche zu empfinden, und wir suchten uns im Flüsterton zu verständigen. Anton war bereits einmal vernommen worden. Er war etwas gedrückter Stimmung aber im Ganzen wohlauf. Dann kamen andere Häftlinge mit dem Wachtmeister herein, der uns auseinandertrieb. — Das war meiner Schätzung nach etwa drei Tage vor seinem Tod und das letztemal, daß ich Anton sah.

Am 17. Februar, das Datum entnehme ich meinem improvisierten Kalender, wurde ich vernommen. Die Vernehmung zielte darauf ab, meinen Schwiegervater gegen mich auszuspielen. Man las mir Auszüge aus einem angeblich von seiner Vernehmung stammenden Protokoll vor. Erfindung und Wahrheit waren darin so sehr gemischt, daß es sich nur um ein Machwerk handeln konnte. Ich verlangte eine Gegenüberstellung. Brosig erklärte mir, „so1che Mätzchen machen wir heute nicht mehr“. Kein Wort aber davon, daß Anton längst tot war.

Die Vernehmungen waren nicht nur eine Tortur physischer Art durch die offen angewandte Brutalität der Vernehmenden, sondern auch durch die Druckmittel, mit denen man Geständnisse erpressen wollte, das seelich Zermürbenste, was ich bis dahin erlebte. Mir drohte man unausgesetzt, meine Frau und meine Schwiegermutter zu verhaften, wenn ich nicht sprechen wollte.

Dann hieß es wieder: „Wir haben genug Material vorliegen, um deine ganze Familie zu verhaften.“ Wenn ich mit Aufbietung meiner ganzen Willenskraft nach außen hin die Ruhe bewahrte, so schlug mir doch jedesmal das Herz bis in den Hals hinein, wenn ich wieder in meine Zelle kam. Eine schlaflose Nacht folgte auf jeden Fall.

Dann kamen ruhige Tage, und ich erhielt einen Zellengenossen. Er kam nicht von Draußen, sondern vom Untersuchungsgefängnis. Zehn Monate Untersuchungshaft hatte er schon hinter sich. Er war in einen Prozeß verwickelt, der unter der Bezeichnung „Komplex Schlagewerth“ bekannt geworden ist, in welchem Zusammenhang an die 300 Personen vor das Sondergericht gestellt wurden. Lose Beziehungen zu dieser Sache bestanden – auch zu unserem Prozeß – insofern, als die Verhaftungen von Mönchen-G1adbach, dem Wohnort Schlagewerths, ihren Ausgang genommen hatten.

Mein Zellenkumpan war nicht etwa ein weltanschaulich sehr stark fundierter Mensch, sondern hatte, wie viele Arbeiter, mehr in instinktmäßiger Weise Bindungen mit der Arbeiterbewegung. Ich glaubte es ihm aufs Wort, als er mir erzählte, er wäre derartig geschlagen worden, daß er überhaupt nicht mehr gewußt habe, was er aussagte. Von der Untersuchungshaft aus hat er dann seine Aussagen widerrufen und gleichzeitig eine Beschwerde wegen Mißhandlung losgelassen. Der Erfolg war, daß man ihn wieder der Gestapo übergab, die ihn so behandelte, daß er zu weiteren Beschwerden keine Neigung mehr hatte. Auch jetzt war er wieder zu einer Nachvernehmung zum Präsidium geschafft worden. Es ging diesmal glimpflich ab, und nach drei Tagen wurde er wieder ins Untersuchungsgefängnis überführt, mir die bittere Lehre hinterlassend, daß Auflehnung gegen die finstere Gewalt der Gestapo sinnlos sei.

Dann kam das Glück, soweit man unter den gegebenen Umständen von Glück reden kann, gleich haufenweise. Ich erhielt ein Paket von daheim und einen Brief. Dieser war zwar etwas merkwürdig, da er mehr verschwieg als offenbarte. Jedenfalls mußten andere Briefe ihm vorausgegangen sein, die ich nicht erhalten hatte. Immerhin ein Lebenszeichen, das meine Befürchtungen über die angedrohte Verhaftung meiner Familie grundlos machte. Sodann bekam ich einen neuen Zellengenossen, den Kunstmaler Peter Ludwigs. Er war ein feingeistiger Mensch, mit dem mich schon nach wenigen Gesprächen, in denen wir viele Berührungspunkte zu gemeinsamen Bekannten und in weltanschaulicher Beziehung fanden, eine innige Freundschaft verband. Da er nicht imstande war, aus seinem Herzen eine Mördergrube zu machen, hatte man ihn wegen kommunistischer Propaganda angeschwärzt, was zu seiner Verhaftung führte. Ich muß es mir versagen, hier auf sein tragisches Schicksal einzugehen. Als ich nach etwa zwei Wochen von ihm schied, ich wurde zum Untersuchungsgefängnis überführt, wußten wir, daß wir uns wiedertreffen würden.

Vom Präsidium ging der Weg erst vor den Untersuchungsrichter. Hier bekam ich zum erstenmal eine ungefähre Vorstellung, welche Kreise die Sache gezogen hatte. Genossen aus dem ganzen Stadtkreise Düsseldorf, aus Viersen, Dülken, Duisburg und Elberfeld sah ich dort neben solchen, die ich überhaupt nicht kannte. Anton war nicht dabei.

Der Haftraum im Justizgebäuue hatte nicht genug Zellen, und so wurden wir in einer Stuhlreihe hintereinander aufgebaut. Der Genosse Nattermann saß vor mir und erzählte mir, häufig gestört durch den Wachhabenden, daß Anton erschlagen worden sei. Ich wollte es nicht glauben, obwohl ich schon bei meiner Vernehmung und nachher durch den Brief meiner Frau das Gefühl nicht los werden konnte, daß mit Anton etwas geschehen sei. Nattermann sagte mir, daß er selbst noch die Beerdigung mitgemacht habe. Meine Erschütterung war so groß, daß ich beim Untersuchungsrichter auf die Verlesung des von der Gestapo aufgenommenen Protokolls verzichtete. Das war vielleicht ein Fehler, aber angesichts der furchtbaren Nachricht war dies alles wesenlos. — Unerheblich dagegen auch die noch bis zum Januar 1938 dauernde Untersuchungshaft, die nachfolgende Farce von Prozeß und die Zeit im Zuchthaus mit ihren tausenden Demütigungen und Erniedrigungen.

Der Tod ist unwiderruflich, und hier wurde der Tod eines Mannes durch ein Verbrechen herbeigeführt, der keine andere Schuld hatte, als daß er mit Leib und Seele für die Arbeiterklasse, der er entstammte, lebte, fühlte und stritt. Ein Leben wurde vernichtet, das nicht aufgewogen werden kann mit dem Leben derer, die die Welt als den Tummelplatz ihres Cäsarenwahns ansahen und heute, soweit die Weltgeschichte nicht bereits die Akten über sie geschlossen hat, im humansten aller politischen Prozesse, die seit Hitler in Deutschland verhandelt wurden, die erstaunte, in Deutschland leider auch zum großen Teil noch gläubige, Mitwelt von ihrer absoluten Harmlosigkeit überzeugen wollen.

Von unserem Prozeß ist noch zu sagen: 96 Personen standen vor dem Sondergericht. Abgetrennt waren etwa zehn Mann vor dem Volksgerichtshof in Berlin bereits verurteilt. In zwei Verhandlungsgängen wurde einmal gegen 40, einmal gegen 46 Personen verhandelt, in einer Rekordzeit von insgesamt 20 Tagen. — Wie es mit der Beweisaufnahme und Verteidigung aussah, läßt sich ermessen.

Für die Beweisaufnahme waren die Protokolle der Gestapo ausschlaggebend. Einsprüche wurden als Renitenz angesehen. Die gestellten Offizialverteidiger stützten durchweg die Anklage. Wir selbst hatten nichts zu sagen. Fazit: Für die 46 Mann, in deren Reihe ich verurteilt wurde, nach meiner schwachen Schätzung cirka 150 Jahre Gefängnis und Zuchthaus; für die 40 Personen können ungefähr ebensoviel angesetzt werden, dazu die Urteile des Volks gerichtshofes, sodaß mit weit über 300 Jahren Zuchthaus und Gefängnis zu rechnen ist. Dazu drei Morde. In vielen Fällen haben die Genossen die Haft nicht überlebt oder sind kurz nach ihrer Entlassung gestorben. Andere haben körperliche und geistige Schäden für Lebenszeit davongetragen.

Das war aber nur ein Prozeß in der Reihe der Massenprozesse, die 1933 begann und erst 1945 mit der endgültigen Zerschlagung des Nazi-Terrors durch die Alliierten ihr Ende fand. Die übergroße Mehrzahl ihrer Opfer hatten die Arbeiterorganisationen aller Schattierungen gestellt. Zum geschlossenen Widerstand hatte es leider 1933 nicht gereicht, und so mußten die besten Kräfte der Arbeiterbewegung in einem hoffnungslosen Kleinkrieg verzettelt werden. Wenn aber die Arbeiterschaft aus den Erfahrungen die Lehre zieht, daß die geschlossene Abwehr zur rechten Zeit die weitaus ökonomischere Kräfteanwendung ist, dann sind diese Opfer wenigstens nicht sinnlos gewesen.

Ernst Binder, Düsseldorf-Eller 24. August 1946

Aus: Theissen / Walter / Wilhelms: Anarcho-Syndikalistischer Widerstand an Rhein und Ruhr. Zwölf Jahre hinter Stacheldraht und Gitter. Originaldokumente. Ems-Kopp-Verlag 1980. Digitalisiert von www.anarchismus.at

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