„Boxcar“ Bertha Thompson, Eisenbahntramp

Ihr Name ist in keinem Geschichtsbuch zu finden, sie hat keine Reichtümer erworben und keinen Ruhm. Bertha Thompson war eine Landstreicherin, eine Frau aus der ansonsten anonymen Masse von Hunderttausenden, die sich im Amerika am Anfang des 19. Jahrhunderts durchs Leben schlugen. Auf der Suche nach Arbeit und aus Neugier auf die Welt reiste sie 15 Jahre lang als blinde Passagierin auf Güterzügen kreuz und quer durchs Land. Nur aus Zufall ist ihre Lebensgeschichte überliefert. Antje Schrupp über eine Frau, die das Leben von allen Seiten kennen lernen wollte und immer an die Stärke der Frauen glaubte.

Ein Text von Antje Schrupp. Quelle: http://www.antjeschrupp.de

Sprecherin Bertha: Ich wollte wissen, was für ein Leben ein Landstreicher führt, ein Radikaler, eine Prostituierte, ein Dieb, ein Sozialarbeiter und ein Revolutionär. Nun weiß ich es. Jawohl, ich bereue nichts.

 

Bertha Thompson ist gut dreißig Jahre alt, als sie diese Bilanz zieht, und nach landläufiger Meinung hätte sie durchaus einiges zu bereuen: Denn Bertha Thompson ist eine Landstreicherin, ein Hobo, wie es damals hieß. Sie ist Mutter eines unehelichen Kindes und hat mehrfach im Gefängnis gesessen. Das wäre heutzutage schon schlimm genug, damals aber, im Amerika der 1930er Jahre, war es skandalös. Sie selber freilich sieht sich nicht als Opfer der Verhältnisse.

Sprecherin Bertha: Mir ist, als hätten Polizei, Verhaftungen, Gefängnis, Klapsmühle und Spelunke von Anfang an zu meinem Leben gehört. Wenn ich wusste, dass ein Mann stahl oder eine Frau auf den Strich ging, dass irgendein armes Mädchen durchdrehte oder ein Kerl sich dünnmachen musste – dann kam mir das alles ganz natürlich vor, eine Einstellung, die ich von meiner Mutter gelernt hatte, für die niemals etwas schrecklich, unanständig oder widerlich war. Unserer Familie ging es niemals schlecht, weil wir nie etwas als schlecht empfanden, und wir wurden niemals beschämt, weil es nichts gab, was wir als Schande gelten ließen.

Bertha ist das Älteste von vier Kindern, von denen jedes einen anderen Vater hat. Geboren auf der Farm ihres Großvaters in Kansas zieht sie schon in ihrer Kindheit von Ort zu Ort. Die meiste Zeit arbeitet ihre Mutter als Köchin in Baustellen-Camps entlang der Eisenbahnlinien. Weil die Güterwaggons, auf Englisch Boxcars, ihr erster Spielplatz sind, hat Bertha bald ihren Spitznamen weg: Boxcar Bertha. Schon als kleines Mädchen ist sie fasziniert von dem freien Leben auf der Schiene.

Sprecherin Bertha: Zu jener Zeit gab es nur wenig weibliche Hobos. Einmal sah ich eine, in einem schmutzigen schwarzen Pullover und gestreiftem Arbeitsanzug, auf einen Güterzug aufspringen. Sie klammerte sich unter dem Wagen fest, und so fuhr sie direkt aus unserem Camp heraus und winkte Mutter zu, die an unserer Türe stand, und den Männern, die vor Staunen ihre Schaufeln sinken ließen. Ein paar Minuten zuvor hatte ich noch gesehen, wie sie auf Mutters Tisch ihr Bündel schnürte. Sie hatte ein Buch dabei. Sie war in Detroit gewesen. Sie sprach von einem Kind in Memphis. Sie wollte als Rednerin zu einem Gewerkschafts-Treffen an der Westküste. Sie und Mutter hatten miteinander darüber gelacht, dass die Männer nicht an sie heran könnten, wenn sie unter dem Wagen hinge. Ihr Gesichtsausdruck, als sie von ihrer Fahrt nach Westen sprach, und die Sicherheit, mit der sie sich unter den Güterwagen schwang, entflammten meinen Kinderverstand. Wenn man so lebte, war das Leben leicht. Sogar für Frauen. Das begriff ich da zum ersten Mal.

 

Als Bertha elf ist, treten die USA in den ersten Weltkrieg ein. Die anarchistischen Kreise, in denen ihre Mutter aktiv ist, organisieren Friedenskundgebungen. Berthas Mutter zieht in eine Landkommune nach Little Rock, Arkansas. Hier lernt Bertha Stenografie und Schreibmaschine, damit sie sich später einmal als Sekretärin ihren Lebensunterhalt verdienen kann. Während ihre Mutter zu politischen Versammlungen reist, bleiben die Kinder in der Kommune zurück – Kindererziehung ist hier eine gemeinschaftliche Sache. Bertha lernt nun auch Revolutionärinnen kennen kennen, Frauen, die Hosen tragen und politische Reden halten. Einige Jahre später zieht die kleine Familie nach Seattle an der Westküste. Doch die 17-jährige Bertha und ihre ein Jahr jüngere Schwester Ena drängt es bald, selbst auf Wanderschaft zu gehen:

Sprecherin Bertha: Ich wog siebzig Kilo und war wie ein Brauereipferd gebaut. Nichts konnte mich noch zu Hause halten. Ich ging am Hafen entlang und zu den Güterbahnhöfen. Ich betrachtete mir die Plakate, die für Ausflüge nach Osten und Süden und Norden warben. Drüben, am Gewerkschaftsbüro, traf ich eine Reihe weiblicher Hobos, die durchs ganze Land gereist waren, und ließ mir begierig ihre Geschichten erzählen. Auch Ena war unruhig, und nach und nach fassten wir den Entschluss, dass wir etwas von der Welt ansehen sollten, um selbst herauszufinden, wie sie war.

Für ihre erste Fahrt nach San Francisco kaufen sich die Schwestern noch eine Fahrkarte. Doch bald lernen sie von anderen Tramps, wie das Gratisreisen in Güterzügen funktioniert – wie man die Bremser, die blinde Passagiere aufspüren sollen, besticht oder austrickst, welche Züge geeignet sind und welche nicht. Ein älterer Landstreicher nimmt Bertha und Ena unter seine Fittiche.

Sprecherin Bertha: Der Dicke hatte einen Bremser ausfindig gemacht, der sagte, er sei auf unserer Seite, und kurz vor Mitternacht nahmen wir eine Straßenbahn hinaus zum Southern Pacific-Güterbahnhof. Der Dicke hatte jegliches Gepäck verboten. Ena und ich hatten uns die Taschen mit dem Notwendigsten voll gestopft, Papier und Bleistift, einer Nagelfeile und Seife. Wir trugen unsere Wollröcke mit Schottenmuster, Pullover und Wollmützen, und das wenige Geld, das wir hatten, steckten wir mit Sicherheitsnadeln in unserer Unterwäsche fest. Wir schlichen uns an einer Reihe stinkender schwarzer Viehwaggons und verschlossener Kühlwagen vorbei, dann kletterte der Dicke plötzlich ohne Vorwarnung durch die offene Tür in einen Güterwagen. Wir folgten ihm, und fast noch bevor wir unser Gleichgewicht wiedergefunden hatten, gab es einen Ruck, und er zog uns hinunter und zur Vorderseite des Wagens. Dann ging es los. Ena und ich waren so aufgeregt, dass wir uns gar nicht rühren konnten. Wir konnten im Dunkeln erkennen, dass andere Gestalten im Wagen waren, sie kauerten in den Ecken oder standen an die Seiten gelehnt. Dann und wann beleuchtete eine Zigarette das Gesicht eines Mannes. Wir wussten, dass es  noch einige andere Frauen gab, wir erkannten es an den Stimmen. Doch alle hielten sich zurück, denn wir kamen noch immer an Lampen vorüber. Die Straßen und Häuserzeilen flogen schneller und immer schneller vorbei, und bald erwachte alles zum Leben und jeder versuchte, es sich gemütlicher zu machen. Wir waren draußen auf dem Land.

Das illegale Mitfahren in Güterzügen ist gefährlich. Immer wieder kommt es zu tödlichen Unfällen, wenn Hobos versuchen, auf anfahrende Züge aufzuspringen. Auch Bertha verliert später einen Weggefährten auf diese Weise. Werden die blinden Passagiere erwischt, droht ihnen Gefängnis, manchmal werden sie auch einfach aus dem fahrenden Zug geworfen. Frauen sind zusätzlich noch sexuellen Übergriffen ausgesetzt – sowohl von Kontrolleuren als auch von Mitreisenden. Reisende Frauen gelten als unmoralisch und damit als Freiwild. Bertha versucht der Gefahr zu begegnen, indem sie sich Gruppen von Frauen anschließt oder Freundschaften mit männlichen Mitreisenden eingeht. Sie kleidet sich bewusst unvorteilhaft und lernt, sich auch körperlich zur Wehr zu setzen. Trotzdem entzündet sich an der vermeintlichen sexuellen Freizügigkeit der Landstreicherinnen immer wieder die männliche Phantasie. Als Martin Scorsese 1972 das Leben von „Boxcar Bertha“ auf die Kinoleinwand bringt, inszeniert er sie als laszive Lolita, die im dünnen Negligé unterwegs ist und harten Rebellenführern den Kopf verdreht.

Sprecherin ältere Frau: Lass dich nie von einem Mann herumkommandieren. Der Charakter einer Frau, der Wert, den sie für die Welt hat, und ihre Liebe zu einem Mann steckt nicht in ihren Hüften, sondern in ihrem Herzen und Verstand.

An diesen Rat ihrer Mutter hält sich Berta. Sie hat Affären mit einem anarchistischen Revolutionär und einem professionellen Dieb, ist die Geliebte eines bürgerlichen Anwalts, geht sogar eine Zeitlang für einen Zuhälter anschaffen. Aber wenn es ihr nicht mehr gefällt, zieht sie weiter. Als sie mit Mitte zwanzig eine Tochter bekommt, gibt sie bei den Behörden an, ihr Kind habe keinen Vater, sie selbst sei Mutter und Vater zugleich. Auf Männer verlässt sich Bertha grundsätzlich nicht, vielleicht deshalb, weil ihr eigener leiblicher Vater sie und ihre Mutter schon kurz nach der Geburt verlassen hat. Als sie ihn einmal in New York besucht, wirft sie ihm Verantwortungslosigkeit vor.

Bertha weiß, dass ihr eigener Weg nicht typisch ist für die Frauen auf der Straße. Spätestens mit Beginn der großen Wirtschaftskrise in den dreißiger Jahren verlassen nämlich die meisten Hobos ihr Zuhause nicht aus Abenteuerlust, sondern aus nackter Not. Männer und Frauen, Jugendliche ebenso wie ganze Familien, ziehen aus in der Hoffnung, irgendwo anders vielleicht eine Arbeit zu finden. Bertha ist eine kluge Beobachterin und bewundert die Frauen und die Phantasie und Tatkraft, mit der sie sich durchs Leben schlagen:

Sprecherin Bertha: Viele arbeiteten von Zeit zu Zeit. Sie schrieben Schreibmaschine, manche arbeiteten in Registraturen und trugen Empfehlungsbriefe von Firmen bei sich, für die sie gearbeitet hatten. Eine habe ich in jenem Sommer kennen gelernt, die war ausgebildete Krankenschwester. Das einzige, was sie auf ihren Fahrten bei sich hatte, war ein biederes Kleid, das sie anziehen konnte, wenn sie sich um eine Stelle bewerben wollte. Sie blieb bei einem Kranken, bis sie wieder ein wenig Geld hatte, dann packte sie das gute Kleid ein und stellte sich in Hosen an die Straße, bis ein Autofahrer sie mitnahm.

 

Von staatlichen oder karitativen Wohlfahrtsprogrammen hält Bertha nicht viel. Sie widersetzt sich den sozialarbeiterischen Absichten, die Landstreicherinnen wieder fit zu machen für Arbeit und Familie, um ihnen den Weg zurück zu einem ehrbaren Leben zu weisen. Für Bertha heißt das, sich wieder patriarchalen Rollenerwartungen zu unterwerfen und die Freiheit zu verraten, die die Frauen sich auf der Straße erkämpft haben. Sie will ihnen lieber ganz praktisch das Leben leichter machen. Bei einem Hobo-Treffen in New York arbeitet sie mit Gleichgesinnten Vorschläge aus:

 

Sprecherin Bertha: Jedes Rasthaus, so planten wir, sollte für reisende Frauen Räumlichkeiten bereithalten, in denen sie ihre Kleider reinigen und ausbessern konnten, ausgestattet mit allen Maschinen, mit Flickzeug, Farben, Schusterwerkzeugen, Waschmaschinen. Es sollte eine Küche mit mehreren Herden geben, Geschirr und Speiseräume. Auch eine Bibliothek sollte es geben, mit Büchern und Zeitschriften, die auf Frauenfragen spezialisiert sind. Die größte Aufmerksamkeit wurde dabei der persönlichen Hygiene zuteil, mit allen Einrichtungen zum Baden und zur hygienischen Prophylaxe. In jedem Rasthaus sollte es eine Beraterin geben, die freundschaftlich in Fragen von Liebe, Geldnot, Schwangerschaft und Schwangerschaftsverhütung zur Seite stehen sollte.

 

Insgesamt fünfzehn Jahre lang reist Boxcar Bertha als blinde Passagierin in Güterwaggons kreuz und quer durch die USA – eine von schätzungsweise 300.000 Frauen, die damals auf der Straße lebten. Etwa im Jahr 1936 trifft sie in Chicago den Arzt und Revolutionär Ben Reitman. Der ehemalige Geliebte der berühmten Anarchistin Emma Goldman betreibt dort eine Krankenstation, in der er Obdachlose kostenlos behandelt. Er ist fasziniert von den Geschichten, die Bertha erzählt, und schreibt sie auf. So ist eine außergewöhnliche Autobiografie entstanden, die Einblicke gibt in ein Milieu, das in den meisten Geschichtsbüchern – auch den feministischen – fehlt: Das Leben der weiblichen Tramps, der Frauen aus der Unterschicht, die nicht wie ihre bürgerlichen Schwestern für gleiche Rechte kämpfen, sondern ums nackte Überleben. Und die trotzdem von einer besseren Welt träumen.

Sprecherin Bertha: Ich habe viel darüber nachgedacht, warum Frauen wohl ihr Zuhause verlassen und auf die Straße gehen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es in den meisten Fällen ökonomische Gründe sind. Sie wollen der Realität entkommen, fort von dem Elend und dem bedrückenden Milieu, in dem sie leben. Andere treibt es auf die Straße, weil sie zu Hause nicht zu sich selbst finden können oder ihre Eltern zu streng sind. Wieder andere packt einfach die Wanderlust. Die Reichen können Globetrotter werden, aber wer kein Geld hat, wird Hobo.

 

Vom späteren Lebensweg der Bertha Thompson ist nichts bekannt. Doch der Enthusiasmus und die Begeisterung, mit der sie für „eine freiere und mutigere Generation von Frauen auf der Straße“ eintrat, um mit ihren eigenen Worten zu sprechen, sind heute noch ansteckend.

Radiosendung in der Reihe „Neugier genügt“, WDR 5, 18.11.2005

Für die Anregung zur Lektüre der Biografie von Boxcar Bertha bedanke ich mich bei Sabine vom Anares-Buchladen in Bremen, die mir das Buch mit heißen Empfehlungen vor einigen Jahren geschenkt hat!

[ssba]