von Norbert Hinrichs (Syndikat-A)
Da liegt bei dem Verfasser dieser Zeilen morgens im Briefkasten die Zeitung „Graswurzelrevolution“. Nanu, habe ich doch gar nicht im Abo. Direkt auf der ersten Seite ein Artikel von Torsten Bewernitz zum Themenkomplex „Rätekommunismus“ (1). Da wir vom Syndikat-A immer wieder gern rätekommunistische Lektüren veröffentlichen, war der Artikel vom Bewi sozusagen der Aufhänger, um auch noch ein paar Zeilen zum Thema loszuwerden.
Schon zu Beginn unserer Broschürenproduktion des Syndikat-A Ende der achtziger Jahre (wo es noch richtig gute Mucke gab) war uns „der“ Rätekommunismus ein Anliegen. Da wussten viele unserer werten anarcho-syndikalistischen Mitstreiterinnen noch gar nicht, was das für ein Verein ist bzw. war. Sogar die rätekommunistische Gruppe „Red Devil“, deren „rätekommunistische Streitschrift“ wir ein paar Jahre später in Buchform veröffentlichten, existierte da noch nicht. Wir brachten damals zwei Broschüren von Paul Mattick heraus, einem der bekannteren rätekommunistischen Theoretiker. Voll die Bestseller, die Broschüren lagen mit ihren im marxistischen Slang verfassten Analysen wie Steine in unserem Buch-Lager. Es war kaum Interesse vorhanden. Das aktuelle Buch von Felix Klopotek, das nach Torstens Dafürhalten wohl ein kleines Revival in Sachen Rätekommunismus (RK) ausgelöst haben soll, habe ich nie gelesen. Räusper. Daher hatte uns diese Lektüre auch nicht dazu verleitet, mit dem RK zu sympathisieren, oder gar mit der recht neuen Bourrinet Broschüre über die holländische Rätegruppe GIK auf einen ominösen und letztendlich nicht vorhandenen Zug aufzuspringen, um hohe Verkaufserlöse zu generieren (das sagt man heutzutage so). Schon damals wurden wir aber gefragt, warum wir solche drögen „Marxisten“ in einem anarcho-syndikalistischen Miniverlag veröffentlichen.
Gemeinsamkeiten
Damals wie heute gilt: Weil sich das revolutionäre Subjekt, die sogenannte Arbeiterinnenklasse, einfach nicht bewegen wollte und will! Für mich als damaliger Stahlarbeiter war es nicht nachzuvollziehen, warum sich die Leute von ihrer Existenz als Lohnarbeiterin nicht freistrampeln wollten und sich auch geistig von der sozialpartnerschaftlichen Hochkonjunktur im eigenen Kopf nicht im geringsten emanzipierten. Diese „Problemstellung“ brachte uns dazu, auch über andere Themen wie (kritische) Psychologie, Pädagogik, später Neurobiologie – und hier vor allem die Epigenetik – nachzudenken. Alles wurde auf einen emanzipatorischen Gehalt abgeklopft … wir suchten einfach Antworten. Und das ist heute noch so. In dem Zusammenhang war und ist der Rätekommunismus mit seinen freiheitlichen Grundsätzen selbstverständlich für uns auch interessant.
Auch der Rheinhausener Stahlarbeiterstreik, den ich als Betroffener hautnah miterleben durfte und wo meine oft solidarischen, aber ansonsten lethargischen Kolleginnen mich mit ihren direkten Aktionen mehrmals links überholten, war letztendlich doch nur ein laues Lüftchen. Ich spürte nur das Potential dieser Klasse, wenn sie sich denn mal bewegt. Warum tut sie es also nicht? Höchstens mal eine Art von Aufbäumen und das nur in Konjunkturen, wenn sie wirklich mit dem „Rücken zur Wand steht“.
Da kam der Mattick mit der marxistischen Krisentheorie als einem von diversen Erklärungsansätzen umme Ecke. Nach dem Motto: Die Menschen machen ihre Geschichte, aber sie werden dazu „freiwillig“ gezwungen. Solange der Laden läuft und der große Teil der Bevölkerung nett konsumieren kann und halbwegs zufrieden ist, wird sich kein Mensch bewegen. Aktuell fühlt sich die „Klasse“ einfach zu nichts „freiwillig gezwungen“. Außerdem gab Mattick uns den väterlichen Rat, sich als Arbeiterklasse knallhart an die eigenen politisch-wirtschaftlichen Interessen zu halten. Nach dem Motto: Mehr ist zur Zeit nicht drin! Das kam mir als Anhänger des Anarcho-Syndikalismus (AS) sehr entgegen und wirkte mental etwas als persönliche „Entlastung“, vielleicht sogar als Trost.
Damit haben wir schon die erste Gemeinsamkeit zwischen dem AS und dem RK. Beide Theorien haben die Dominanz der ökonomischen Verhältnisse in menschlichen Gesellschaften anerkannt, doch ziehen beide „leicht“ andere Schlüsse daraus. Übrigens: Als orthodoxe Marxisten haben Rätekommunistinnen immer die „Kritik der POLITISCHEN Ökonomie“ zu ihrem Anliegen gemacht. Sie als Ökonomisten zu bezeichnen ist nicht wirklich nett und schlicht falsch.
Die nächste Übereinstimmung
Beide Strömungen lehnen die Organisationsform einer Partei grundsätzlich ab. Parteien sind immer bürgerlich, heißt: Sie sind immer nach dem gleichen Muster, nach gleicher Struktur gestrickt, ein Abbild der bürgerlichen Gesellschaft. Mehr oder weniger wie eine Pyramide, Parteivorstand, Zentrale Leitung, ZK oder wie sie sich gerade schimpfen. Kurz war es mal bei der Partei der „Grünen“ etwas anders, die sogar mit einem imperativen Mandat (Rotation von Funktionären, schnelle Abwählbarkeit etc.) zu Beginn ihrer Karriere kokettierten … aber – was der AS und auch der RK theoretisch schon damals klugscheißerisch vorher wussten – die bürgerliche Form einer Organisation dient nicht der Emanzipation, sondern lehrt uns, weiterhin auf Weisungen „von oben“ zu „gehorchen/zu hören“ (weil die wissen oben als Berufsfunktionäre eh alles besser) und hält die sogenannte Basis in Unmündigkeit. Und die Basis lässt sich gern in Unmündigkeit halten (dieser Sachverhalt darf nicht unter den Tisch fallen), weil: ist ja auch furchtbar bequem. Die Institution der Partei dient immer dem Erhalt des Bestehenden, die wollen bzw. werden nix grundlegend umwälzen (können). Die Leute in einer Partei werden im Laufe der Zeit durch deren Strukturen korrumpiert (wenn sie es nicht vorher schon waren) und wenn sie noch vor ihrer Karriere politisch gut drauf waren …. nach ein paar Jahren wird der ehemalige Straßenkämpfer zum Außenminister …. nicht nur vom Outfit her!
Eine weitere Gemeinsamkeit: Die Räte!
Dieses utopische Element einer Selbstverwaltung steht im RK wie im AS hoch im Kurs. Die Menschen, die in einem Haus, in einer Straße zusammenleben, organisieren diese Straße; eine Stufe höher kommt der Stadtteil, die Kommune usw. hinzu. Im Betrieb wird es nicht anders sein. Der AS redet oft von Syndikaten, die aber bei näherem Hinsehen nach ähnlichen direktdemokratischen Prinzipien wie in der rätekommunistischen Theorie organisiert sind. Das Prinzip, dass die Leute dort entscheiden, wo sie arbeiten und leben, ist eine wesentliche Übereinstimmung beider Konzepte. Das Rätesystem verlangt viel von dem „sozialistischen“ Menschen, und ob dieses System wirklich umsetzbar ist, wird sich noch zeigen, wenn die Räte überhaupt diese historische Chance noch mal bekommen. Der heutige Mensch (me too) ist m.M. nach zu sehr ein Kind dieser Gesellschaft und kann nicht von heute auf morgen powerful die Gesellschaft „von unten auf“ nach dem Räteprinzip organisieren. Wer das Gegenteil behauptet, ist noch nicht in der Realität angekommen. Die Kritik an den Parteien setzt sich in der Staatskritik der beiden ungleichen Brüder oder Schwestern fort. Die radikale Kritik an dem sogenannten proletarischen Staat führt in der Regel – und zu Ende gedacht – auch zu einer illusionslosen Bolschewismuskritik. Der RK argumentiert gerade bei dem Thema knallhart mit Marx, der AS begründet seine Kritik tendenziell eher mit einer sozialistischen Ethik. Aber auch dort kommen beide Konzeptionen auf eine erhebliche Schnittmenge.
Unterschiede
Den AS zeichnet im Gegensatz zum Rätekommunismus m.M. nach aus, dass er schon im Hier und Jetzt die Gesellschaft im Kleinen für das Morgen vorbereiten möchte. Er predigt die Praxis (die er ab und wann auch hat) und nicht nur eine (sicher nicht ausgereifte) Analyse. Daher sind anarcho-syndikalistische Organisationen sehr auf möglichst flache Strukturen aus, Koordination statt Weisungsbefugnis (die GeKo in der FAU hat zum Beispiel nur eine koordinierende Arbeit zu leisten), keine bezahlten Funktionäre etc. Er schafft sich Strukturen, die gewisse Missstände wie Korruption, Elitedenken, Seilschaften etc. ausschließen sollen und befördert das selbstständige Denken und Handeln des Einzelnen. Was den AS in dem Zusammenhang auch auszeichnet ist die sogenannte „Politik in der ersten Person“. Eigentlich eine Begrifflichkeit, die dem autonomen Slang der achtziger Jahre zugehörig war. D.h. wir mischen dort mit, wo wir unseren Alltag leben, und wenn es sein muss, auch darüber hinaus. Wer es aber schon nicht geschissen bekommt, in „seinem“ Betrieb, in seinem gelebten Alltag was auf die Beine zu stellen und lieber in einer der zahlreichen AGs Papier produzieren möchte, passt nicht so toll in das anarcho-syndikalistische Projekt. Darüber kann mensch natürlich auch streiten. Wer sich in die Niederungen dieser „Politik in der ersten Person“ begibt, macht unweigerlich Fehler über Fehler und driftet schnell in eine Art Sozialarbeiterinnentum ab (als erstes gründet eine FAU Gruppe in der Regel eine Sozialberatung), in eine Spielart von gut gemeintem Reformismus. Rätekommunistinnen würden die Anhängerinnen des AS übrigens per se als Reformisten bezeichnen.
Dabei ist für den AS Reform nicht gleich Reform. Auch hier differenzieren wir: „Reformen sind immer Bestandteil des Kampfes der Ausgebeuteten und Unterdrückten gewesen. Sie sind alltägliche Schritte zur Verbesserung der Lebenssituation. Die Verbesserung der unmittelbaren Lebens- und Arbeitsbedingungen ist ein berechtigtes Interesse der ausgebeuteten und unterdrückten Klassen. Ebenso die Festschreibung erkämpften Rechte und die Begrenzung von Ausbeutung gegenüber dem Kapital. Wir sind keine Gegner von Reformen, aber wir lehnen den Reformismus als Strategie ab. Jede reale Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, jedes größere Maß politischer Freiheit ist Teil (wie Bedingung) des Kampfes für eine bessere Gesellschaft, bedeutet die Erweiterung der Macht von unten. Solche konkreten Verbesserungen abzulehnen ist sektiererisch (zumal in nichtrevolutionären Situationen). Allerdings verbleiben Reformen in den Grenzen der real existierenden Eigentums-und Machtstrukturen, im Rahmen der kapitalistischen Gesellschafts(un)ordnung. Mehr noch: Die Beschränkung auf Reformen, auf die ,,Reformierung“ der Gesellschaft trägt letztlich nur zur Stabilisierung der Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse bei.
Die schärfsten Konflikte werden gemildert, die unvereinbaren Widersprüche in der Gesellschaft entschärft, einige der gröbsten ,,Fehlfunktionen“ des Kapitalismus repariert – zeitweilig. Die Strategie, durch Reformen ,,Schritt für Schritt“ zu einer neuen Gesellschaft zu kommen, ist eine Illusion.“ (zitiert nach der alten Prinzipienerklärung der FAU/1989)
Wobei noch ergänzt werden müsste, dass es Reformen gibt, die der AS ablehnt, aber ebenso Reformen existieren, die mit unserer Zielsetzung, unserer konkreten Utopie sehr harmonieren. Einfaches Beispiel: Die vor Jahrzehnten mal aufgestellte Forderung nach Vergesellschaftung der Stahlindustrie, die im Kapitalismus immer zu einer Verstaatlichung führen würde, lehnte das Metallsyndikat der FAU damals ab. Diese Forderung hatte nichts mit unserem Wollen zu tun. Im Gegensatz dazu unterstützten wir prinzipiell die Forderung nach einer Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich. Das wäre eine reale Umverteilung von Oben nach Unten gewesen und für uns eine Reform, die prima rüberbrachte, dass es sowas wie eine Klassengesellschaft gibt, wo die Reichen reicher und die Armen ärmer werden (diese Aussage ist selbstverständlich relativ und nicht absolut zu verstehen).
Solche Herangehensweisen sind dem RK völlig fremd. Das ist das abtörnende bei vielen Rätekommunisten … Durch die prinzipielle Verweigerung von realen Kämpfen entsteht eine Art von „Elfenbeinturmdenken“. Daher kommt dann auch in der Realität – wie gerade auch beim Ukrainekrieg – eine etwas distanzierte Haltung des RK zum tragen. Dann geht es z.B. nur um zwei imperialistische Systeme und dass sich die Arbeiterklasse nicht von den entsprechenden Machtblöcken einspannen lässt (lassen soll). Das ist für mich als Anarcho-Syndikalisten eine etwas grobschlächtige und unzulängliche Analyse. Besser müsste die eben skizzierte Beschreibung als eine allgemeine/abstrakte Ebene der Analyse bezeichnet werden, und wenn man auf dieser Ebene bleiben möchte, ist natürlich alles easy und liegt auch irgendwie richtig. Nun gibt es aber auch konkrete Ebenen, wo man solche Geschehnisse wie z.B. den Krieg auch in den Blick nehmen muss/sollte. Das nenne ich dann eine differenzierte Sichtweise und man bekommt doch recht schnell mit, dass diese abstrakten Begriffe wie Arbeiterklasse auf den konkreten Menschen „heruntergebrochen“ werden (müssen), um besser zu „sehen“ und zu verstehen. Dann wird beispielsweise der Krieg in der Ukraine sehr viel komplexer, die Motivationen, warum Menschen zur Waffe greifen sind vielfältig und nicht nur dadurch wird auch eine Beurteilung dieses Krieges komplexer. Und nicht nur abstrakt stellt sich dann auch unter anderem die Frage, welcher Machtblock gerade der größere oder der kleinere Scheißhaufen ist. Das kann für die Menschen dort existentiell sein … was eine Couchpotato, die sich hierzulande anmaßt „die Lage beurteilen zu können“, nie in seinem Leben kennenlernte und hoffentlich auch nicht kennenlernen muss.
Solcherart Fragen stellen sich mir im übrigen auch bei historischen Sachverhalten, wie z. B. der sozialen Revolution in Spanien, wo dann Anarcho-Syndikalistinnen der CNT letztendlich auch das Geschäft der Republikaner mit erledigt haben und dafür der kompromisslosen Kritik der Rätekommunisten, aber auch diverser Anarchistinnen ausgesetzt waren, gar als bürgerliche Antifaschisten abgekanzelt und zu Konferenzen ausgeladen wurden. Da ist dann Schluss mit den „ungleichen Brüdern“. Wenn man sich nicht ins Getümmel begibt, kann man sich auch nicht die Hände schmutzig machen. Denn diese anarcho-syndikalistischen Genossinnen, die sich zu Beginn für eine soziale Revolution (in Spanien) einsetzten und auch ins Gras bissen und am Ende freiwillig gezwungen dem Faschismus als der menschenverachtendsten Form des Kapitalismus Paroli boten, haben objektiv dem Kapitalismus in Form einer etwaigen oder zukünftigen bürgerlichen Republik fast den Arsch gerettet. Subjektiv war es aber nicht ihre Motivation. (Gerade die Ebene gewechselt.)
Wo wir gerade mal wieder versuchen zu differenzieren, es gilt: Wie auch beim „dem“ Anarcho-Syndikalismus gibt es „den“ Rätekommunismus so pauschal nicht. Otto Rühle z.B., der auch Betriebsorganisationen wie die A.A.U. unterstützte, der ähnlich wie Sperber oder Reich den orthodoxen Marxismus um die Pädagogik und die Psychologie erweitern wollte, kann nicht unbedingt mit einem Paul Mattick in einen Topf geworfen werden. Mit dem rätekommunistisch orientierten Franz Pfemfert (Hg. der Zeitung „Die Aktion“) hatte sich Rühle sogar wegen dessen unterschiedlichen Ansichten völlig zerstritten. Bei etlichen Rätekommunistinnen ist schon „die Psychologie“ gleich welcher Art tendenziell eine bürgerliche Wissenschaft, die abzulehnen ist. Das sehe ich als Anarcho-Syndikalist ganz gewiss nicht so, denn wenn wir uns heute fragen, warum nirgends im entwickelten Kapitalismus eine revolutionäre Bewegung im Entstehen begriffen ist, muss mensch sich schon mal mit Themen wie z.B. dem „autoritären Charakter“ herumschlagen, selbstverständlich durchaus neben einer fundierten Krisentheorie oder anderen ökonomischen Grundlagen, siehe zum Beispiel den Text zur Lohn/Preis-Spirale in dieser Ausgabe. Sicher hatten und haben Teile der rätekommunistischen Denker und Dichter durchaus die Tendenz ins Ökonomische abzuschmieren…aber ein Rätekommunist wie der gebildete und breit aufgestellte Wissenschaftler Anton Pannekoek gehört sicher nicht dazu.
Übrigens kann es dem Syndikalismus, der sich stark auf „reine“ (was ist schon rein?) Arbeitskämpfe, auf Gewerkschaftsarbeit selbst reduziert, durchaus auch passieren, sich in dem ökonomischen Klein-Klein zu verlieren und seine immanent reformistischen Tendenzen völlig ungeniert auszuleben. Auf einmal wird wieder über bezahlte Funktionäre diskutiert, weil ja die Arbeit Überhand nimmt. Und so weiter und so fort … Mühsam würde einfach nur vorschlagen, die Last der Arbeit auf mehrere Schultern zu verteilen. Erich war immer schon sehr pragmatisch und verkaufte nie seine Haltung.
Was kann also der AS vom Rätekommunismus abkupfern? Analyse.
Wirklich mal grundsätzlich zu schauen, wie diese Gesellschaft, wie der Kapitalismus funktioniert. Ohne Moralisierei, sondern auf die Sache bezogen (siehe z.B. Hermann Lueers tolles Buch „Kapitalismuskritik und die Frage nach der Alternative“). Eine zweite wichtige Message des Rätekommunismus sagt: Dein Wille allein, die Gesellschaft verändern zu wollen, reicht nicht. Das läuft unter Idealismus. Der Rätekommunismus verweist immer wieder auf bestimmte Umstände, die zum Willen auf Umgestaltung der Gesellschaft hinzukommen müssen, ansonsten führt der revolutionäre Eifer nur zum Aktionismus, der letztendlich keine Ergebnisse zeitigt. Über dieses Argument kann natürlich auch gestritten werden. Ich denke aber, dass an dieser Sicht was dran ist. Das kann historisch untersucht, aber auch in jüngeren Arbeitskämpfen nachgezeichnet werden. Da sind Erkenntnisse möglich, die die rätekommunistische Sichtweise durchaus untermauern.
Gleich welcher sozialistischen Richtung oder Spielart der Einzelne sich zugehörig fühlt: Letztendlich ist es der Mensch, für den „der“ Sozialismus geschaffen werden soll, es ist immer nur der Mensch, der ihn sich erarbeiten / erkämpfen muss und ihn leben möchte (oder auch nicht). Leider muss es immer wieder erwähnt werden, dass der handelnde Mensch Dreh-und Angelpunkt für eine grundsätzliche (radikale) Umgestaltung der Gesellschaft ist.
Wenn wir aber die Augen aufmachen und unsere Mitmenschen und auch uns selber ohne Illusionen betrachten, wird doch schnell klar, dass wir eine wirkliche Veränderung z.Z. nicht geschissen bekommen. Wir haben es nicht drauf. Heißt, der „neue“ Mensch oder anders formuliert die neuen freien Geister fallen nicht vom Himmel und erretten uns. Das müssen wir schon selber machen. Dazu – und das zeichnet den Anarcho-Syndikalismus vor allen anderen sozialistischen Konzepten aus – benötigen wir die Chance, uns in dieser aktuellen und menschenunfreundlichen Gesellschaft verändern zu können/zu dürfen. Wenn wir auch nur ansatzweise unsere Persönlichkeiten/Charaktere/Psychen oder wie immer man es nennen möchte in eine emanzipatorische Richtung entwickeln könnten, wäre schon viel gewonnen. Das Konzept des AS bringt hier „Schulen“ ins Spiel, Schulen der Emanzipation, die oft erstmal nur Nischen sein können und sicher keine „Freiräume“ sind. Der Begriff „Freiraum“ ist nur eine neue Illusion. Wir leben halt nicht auf einer abgeschotteten Insel. Diese emanzipatorischen Schulen sind letztendlich die Scharniere, die uns die Tür zu einer zukünftigen Systemtransformation öffnen können. Nochmal muss die alte Prinzipienerklärung der alten FAU 1989 herhalten:
„Die Organisation, die wir heute als Kampforganisation aufbauen, muss in sich schon die Elemente tragen, die zur Organisierung einer neuen Gesellschaft nötig sind: Die neue Welt in der Schale der alten entwickeln!“
Diese Entwicklung gilt für alle Ebenen des gesellschaftlichen Lebens. Daher ist der Anarcho-Syndikalismus prinzipiell immer „mehr als nur eine Gewerkschaft“ und damit sicher auch viel mehr als nur „eine kämpferische Basisgewerkschaft“. Die Gewerkschaft bzw. der Syndikalismus ist eine sich selbst auferlegte Begrenzung. Sie steht tendenziell für Reform und nicht für die soziale Revolution. Dazu gehört weit mehr. Daher hat Rudolf Rocker schon ganz richtig formuliert:
„Der Sozialismus ist letztendlich eine Kulturfrage.“ Aber diese Kulturfrage ist ohne Gewerkschaft oder besser ohne eine „wirtschaftliche Kampforganisation“ ein Papiertiger.
Weiter präzisierte Rudolf Rocker in einem Vortrag in Erfurt 1922 das Verhältnis von Syndikalismus und Anarchismus:
„Darum sage ich, daß Anarchismus und Syndikalismus sich gegenseitig ergänzen. Die syndikalistische Bewegung würde in dem Moment ihren ursprünglichen Charakter verlieren und zur gewöhnlichen Gewerkschaftsbewegung degradiert werden, wenn sie die großen Prinzipien des freiheitlichen Sozialismus, oder, um es noch deutlicher auszusprechen, des kommunistischen Anarchismus aus dem Auge verlieren würde. Als syndikalistische Bewegung bestände sie dann nicht mehr; sie wäre dann nicht mehr als eine gewöhnliche Gewerkschaft, die sich ausschließlich mit Lohnfragen und ähnlichen Dingen beschäftigt. Auch das hätte seine Berechtigung, aber der große Zug für die Neugestaltung der Gesellschaft im Sinne des freien Sozialismus wäre dann ausgeschaltet, der gerade der syndikalistischen Bewegung ihre eigentliche Bedeutung gibt. Ebenso sage ich den anarchistischen Kameraden: Wenn ihr euch auch fernerhin in kleinen Gruppen zusammenschließt, um eure Arbeit zu verrichten, so ist dagegen durchaus nichts einzuwenden. Diese Arbeit ist nützlich, sie kann und soll getan werden. Eines aber vergeßt nicht: Mit Studiengruppen, Diskussionsgesellschaften, freien Verlagsanstalten usw. leistet man zwar eine äußerst nützliche Propagandaarbeit; aber eine neue Gesellschaft im Sinne des kommunistischen Anarchismus läßt sich damit nicht aufbauen. Dazu gehört etwas mehr: der Wirtschaftsverband, die Arbeiterbewegung. Auch der Anarchismus bleibt unfruchtbar, wenn er nicht in der Arbeiterbewegung wurzelt; und die Arbeiterbewegung bleibt ein fruchtloses Ringen, wenn sie nicht von den großen Idealen des freiheitlichen Sozialismus getragen wird. Deshalb müssen beide Bewegungen einander ergänzen, und je williger und umfassender dies geschieht, desto rascher wird uns die Stunde der Befreiung schlagen.“
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen!
Resümee:
Der Rätekommunismus bietet uns keine einzige „Schule der Emanzipation“. „Nur“ Aufklärung, nur Propaganda … als hätte jemals allein das Wort, die Schrift die Menschen dazu gebracht, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Nein. Dazu gehört die andere Seite der materialistischen Medaille: Die Praxis/das Handeln … kein Bock? Then forget it.
Wiederum können wir mehr vom Rätekommunismus mitnehmen als von linken Gewerkschafterinnen, die verzweifelt versuchen, den DGB von innen zu reformieren … Gewerkschaftlicher Plattformismus törnt sowat von ab.
Literaturtipp:
Rudolf Rocker: „Anarcho-Syndikallismus“ (Softcover – Hardcover)