Gastbeitrag: Der Gabriel macht misch fertisch

von Norbert Hinrichs (Syndikat A)

Wir vom Syndikat-A haben kürzlich die erste Broschüre von anarchismus.de veröffentlicht. Die Seite anarchismus.de ist vor ein paar Monaten von anarchokommunistisch orientierten Leuten übernommen worden. Die erste Broschüre stellt drei Einführungs- bzw. Vorstellungstexte zur Verfügung, sozusagen als Auftakt zu einer ganzen Reihe von Broschüren, die ihr natürlich auch auf der besagten Seite nachlesen könnt. Wer dies gern in Papierform machen möchte, kann die Texte als Broschüren auch beim Syndikat-A bestellen.
Da wir auch manchmal die Texte lesen, die wir verbreiten und diese dann ab und wann gar im eigenen Kopf Widerspruch auslösen, kommt es zu internen Diskussionen, die dann schon mal ihren Niederschlag finden. Wie eben gerade hier und jetzt. Eigentlich nicht wirklich relevant …. ob es sich nun um Auseinandersetzungen mit rätekommunistischen Sichtweisen (1) oder – wie an dieser Stelle – mit anarchokommunistischen Standpunkten handelt … Es sind nur Stürmchen im Wasserglas, nach dem Motto: „Wer will dat schon wissen?“ Die Leute haben andere Probleme. Demut uns.
Dennoch kurz ein paar Worte zu Gabriels Text in der besagten Broschüre …. er gibt sinngemäß den alten Maestro Malatesta wieder, um aufzuzeigen, dass

„man sich nicht von den Massen trennen sollte, indem man in jedem Lebensbereich ideologisch reine Organisationen schafft (zum Beispiel anarchistische Gewerkschaften), sondern dass man sich auf das Schaffen politischer Organisationen beschränken sollte, um dann Einfluss in Massenorganisationen zu gewinnen und Menschen aller Art zu erreichen. Ich halte den Ansatz für richtig, auch heute noch.“

Zitat Gabriel.

Da ich als zertifizierter Anarcho-Syndikalist hier schreibe, habe ich natürlich auch einen entsprechend verengten und einseitigen Blick auf Gabriels Text, den man letztendlich dem „Plattformismus“ zurechnen darf (Zur Kritik dieses Konzeptes siehe auch Frederik Fuß, Syndikalismus oder Plattformismus). Plattformisten sind Anhängerinnen einer anarchistischen Idee, die sich zusammenschließen, um zu versuchen mit ihren anarchistischen Inhalten auf andere Bewegungen, Parteien, Organisationen Einfluss zu nehmen. Sie wollen nicht elitär sein … sind es aber mit ihrer postulierten Vorgehensweise bis auf die Knochen. Es existierten übrigens gar in der PDS (Vorläuferpartei der „Die Linke“) eine anarchistische Plattform.

Los geht`s und direkt mit der Tür ins Haus:

Im oben angeführten Zitat wird wild mit Begriffen und Behauptungen gearbeitet, die bestens dazu geeignet sind, die in der Szene / Bewegung schon fett vorhandene inhaltliche Verwirrung noch zu perfektionieren. Was sollen bitteschön „ideologisch reine Organisationen“ sein?

Wir alle sind in der aktuellen Realität verankert, ob mensch es wünscht oder nicht. Was wir selber von uns halten, interessiert hier wenig, es interessiert nur was ist. Wir sind immer „verunreinigt“, allein weil wir im „Hier und Jetzt“ leben. Wie sollte es auch anders sein? Und was ist hier mit „ideologisch“ gemeint? Ideologie gemeint als „notwendig falsches Bewusstsein“ oder nur die zahme bürgerliche Definition von Ideologie als die „Lehre von den Ideen“?

Der Anarcho-Syndikalismus übrigens scheißt auf die „ideologisch reine Organisation“. Nicht weil er kein schlüssiges und klar definiertes Konzept, keine eigenständige Theorie hätte, sondern weil er nicht irgendeinem „reinen Ideal“ hinterher hechelt. So war und ist es auch die Aufgabe des AS immer auch eine Massenbewegung zu werden und er denkt nicht im Traum daran, eine „ideologisch reine Organisation“ zu schaffen. Weiterhin will der AS keinen Einfluss in Massenorganisationen gewinnen (er lehnt den Plattformismus aus guten Gründen ab). Der AS möchte eben selber zu einer Massenorganisation werden. Gerade der AS wurde immer „verdächtig“, nicht „rein“ genug zu sein, jeden mitzunehmen, der oder die nicht schnell genug weglaufen kann. Ja. Wir versuchen die Leute, die in einer ähnlichen Lage leben (müssen) mitzunehmen und das ist voll okay. Vielleicht ist bis hier schon klar geworden, dass der AS keine „anarchistische Gewerkschaft“ ist. By the way: Es tut manchmal richtiggehend weh, wie die verschiedenen Begriffe bei manchen Anarchistinnen für die gleiche Sache benutzt werden; die diversen Wortkonstruktionen grenzen oft schon an Vergewaltigung von Sprache. Mal ganz abgesehen von den dazugehörenden Inhalten und Theorien.

In Gabriels Zitat wird nun der Begriff „Anarchistische Gewerkschaft“ bemüht. Was ist eine Gewerkschaft? Auf die Schnelle: „Eine Gewerkschaft ist eine Vereinigung von Arbeitnehmern, die die Interessen von Erwerbstätigen vertritt. Gewerkschaften haben das Ziel, die Arbeitsbedingungen von Arbeitnehmern zu verbessern. Die Mitgliedschaft in Gewerkschaften ist freiwillig.“ So oder ähnlich kann mensch es überall nachlesen. Ist sogar aus etymologischer (sprachlicher) Sicht (die Gewerke) nachzuvollziehen.
Mit etwas Gesellschaftsanalyse wird schnell klar, dass die Gewerkschaft durch ihre Aufgabenstellung festgelegt ist. Sie wird zu der eben im Zitat formulierten Zielsetzung „gezwungen“. Im romanischen Sprachraum hat sich dagegen historisch für diese Vereinigung der Begriff „syndicat“ (aus dem Französischen) entwickelt.
Aber, nicht unwichtig: „Der deutsche Begriff „Gewerkschaft“ gibt die Idee der Syndikate nur teilweise wieder, da die syndicats im Syndikalismus nicht nur eine Interessensvertretung der Arbeiter, sondern Keimzelle des Aufbaus der gesamten Gesellschaft sein sollten.“ Der Begriff Syndikat wurde für Deutschland im nachhinein abgekupfert, um sich (hört, hört) stärker von dem Begriff „Gewerkschaft“ absetzen zu können. Gewerkschaften sind also in erster Linie Interessensvertretungen der arbeitenden Klasse, die im Bestehenden möglichst viel herausholen möchten. Voll legitim. Sie geht aber nicht über die Grenzen des Bestehenden hinaus. Sie ist in das bürgerliche Gesellschaftssystem sanft eingebettet/integriert. Da kann man gern anarchistische oder revolutionäre Gewerkschaft als Etikett drauf pappen … allein es ändert nichts an der Funktion einer Gewerkschaft. Nur weil man als Gewerkschafter revolutionär sein will, ist es man noch lange nicht. Diese Denke oder Herangehensweise nennt man im Philosophischen „Idealismus“. Der Anarcho-Syndikalismus ist historisch eine Weiterentwicklung der „lokalistischen Bewegung“, der „freien Gewerkschaften“, des Syndikalismus oder auch des revolutionären Syndikalismus. Aus diesen Vorläufer-Ideen entstand ein eigenständiges sozialistisches Konzept, um eine freie Gesellschaft zu kreieren, aber gleichzeitig im konkreten Leben die eigenen Interessen und damit die der arbeitenden Klasse wahrzunehmen. Warum ist der Anarcho-Syndikalismus „mehr als NUR eine Gewerkschaft“? Die Wortschöpfung Anarcho-Syndikalismus beinhaltet etymologisch (von der Sprache her) das Begriffspaar. Anarcho = Utopie. Syndikalismus = das Hier und Jetzt. Anarcho-Syndikalismus ist KEIN Dualismus, sondern beide sind ineinander verschränkt, sie beeinflussen sich gegenseitig. Hier ist die These, dort die Antithese = Synthese (Dialektik). Die Utopie bekommt Boden unter den Füßen und der Syndikalismus wird aus seinen engen Grenzen befreit. Das ist eine wirkliche Synthese und nicht dieser Papiertiger der sogenannten „anarchistischen Synthese“. Dieser Mythos wird übrigens immer wieder mal gern aufgewärmt.
Haarspalterei? Nein. Klarheit. Eines meiner beliebten Beispiele, um auf einer konkreten Ebene den qualitativen Unterschied zwischen einer Gewerkschaft und dem Anarcho-Syndikalismus anzureißen: In einer Gewerkschaft fordern Pädagoginnen höheren Lohn, bessere Arbeitszeiten usw. … Fertig.
Anarcho-syndikalistische Pädagogen hingegen fordern höheren Lohn, bessere Arbeitszeiten … und setzen sich darüberhinaus zusammen und beraten über „freie Schulen“, initiieren unter Umständen freie Schulen als Pilotprojekte, stellen vielleicht „die Schule“ als Institution grundsätzlich in Frage. Schaffen Arbeitsgruppen, die auf die Pädagogik bezogen neu und anders denken. „Unsere“ Pädagoginnen haben die klare Erkenntnis entwickelt, dass die Schule im Hier und Jetzt auch die Funktion hat, die Kids zuzurichten, sie unter Umständen gar zu brechen und das läuft alles viel subtiler als in den „guten alten Rohrstockzeiten“. Durch diese Erkenntnis entsteht eine andere Qualität, die an unsere Utopie andockt. Die Praxis ist eine andere, weil die anarcho-syndikalistische Zielsetzung eine andere ist.
Nochmal zusammengefasst: Der Anarcho-Syndikalismus zeigt schon im Begriff die beiden Pole, die aber ineinander verschränkt sind, die wirtschaftliche Kampforganisation wird durch libertäre Ideen aus ihren bürgerlichen Dämmerschlaf gerissen und die anarchistische Lehre bekommt auf einmal ihre Verankerung in der Realität eben durch den Syndikalismus geschenkt.

Noch kurz zu dem Begriff „politische Organisation“, die ja unsere Anarchistinnen (auch die sympathischen Leute von anarchismus.de) offensichtlich schaffen möchten. Der Anarcho-Syndikalismus ist nicht nur eine wirtschaftliche Kampforganisation, sondern immer auch eine politische Organisation. Nur eine besondere, nämlich eine radikale politische Organisation, da sie begriffen hat, dass jede menschliche Gesellschaft gleich welcher geschichtlichen Epoche auf Arbeit, auf Wirtschaften beruht und dies grundsätzlich die Voraussetzung für unsere menschliche Existenz ist. Dazu hat Rudolf Rocker mal in einer Diskussion eine kurze und zutreffende Bemerkung zu den künstlich konstruierten Polaritäten „wirtschaftlich“ und „politisch“ fallen lassen: „(Genosse) Krohn sagt uns, daß unser Kampf nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein politischer sein müsse. Dasselbe sagen wir auch. Wir verwerfen nur die parlamentarische Betätigung, keineswegs aber den politischen Kampf im allgemeinen. Politisch ist eben alles was auf den ,,Polis“, das Gemeinwesen Einfluß hat. Auch der Generalstreik ist ein politisches Mittel und desgleichen die antimilitaristische Propaganda der Syndikalisten usw. Der Syndikalismus hat sogar ein ganz bestimmtes politisches Ziel – die Überwindung des Staates, die Ablösung der Herrschaft des Menschen über den Menschen durch die Verwaltung der Dinge.“ (aus Rudolf Rocker, Prinzipienerklärung des Syndikalismus)
Es wäre eine intellektuelle Minderleistung und fatal für unsere Emanzipation, „sich auf „das Schaffen politischer Organisationen (zu) beschränken“. Jede Organisation, die nicht den wirtschaftlichen Kampf mit einbezieht, ist ein zahnloses Konstrukt. Wahrscheinlich hielt Malatesta die Arbeiterinnen – ähnlich wie in der bolschewistischen Konzeption – einfach für zu dämlich, um mehr als eine Gewerkschaft auf die Beine stellen zu können. Das fucked mich als Hauptschüler natürlich voll ab. Zum gleichen Thema hatte der kürzlich verstorbene Anarcho-Syndikalist Karl Marx auch was beizusteuern (Danke Frederico für den Hinweis), um uns intellektuell etwas Rückenwind zu verschaffen:

„Sie (die Gewerkschaften) verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkung des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.“

Karl Marx

So müssen wir nun mit Marx gegen unsere anarchistischen Genossinnen den AS verteidigen. Soweit isset schon.
Das gerade skizzierte dualistische Denken ist und war in unseren Kreisen weit verbreitet. Historisch war in Spanien das Verhältnis der FAI (anarchistische/politische Organisation) zur CNT (Anarcho-Syndikalismus) ein gutes Beispiel. Mit Argusaugen beobachtete die FAI die CNT, um intervenieren zu können, wenn die CNT inhaltlich „aus dem Ruder lief“. Diese Abweichler, diese. Also „Avantgardedenken“ vom Feinsten. Von da ist es zu der Gewerkschaft als „Transmissionsriemen“ der bolschewistischen Partei nicht mehr weit. (Lenin) Diese Funktion ist übrigens eine alte und immer noch aktuelle Kreation der Sozialdemokraten. Das will der Anarcho-Syndikalismus nicht. Er behauptet weiterhin steif und fest, dass die Befreiung der Arbeiterinnen nur die Arbeiterinnen selber durchsetzen können. Alles andere kann man knicken.
Der vorletzte Einwand zu Gabriels Zitat ist dann noch die Frage, wen man wohl erreichen möchte. Auch da haben wir im besagten Zitat direkt die Antwort: Man möchte Menschen aller Art erreichen … Hüstel. Der AS möchte aber keine Menschen aller Art organisieren bzw. erreichen, sondern die Leute, die von dem Verkauf ihrer Arbeitskraft direkt oder indirekt leben (müssen) und davon abhängig sind. Wir organisieren uns nicht mit Menschen aller Art, nicht mit der Boutiquebesitzerin, die ihre auf 450€ Basis arbeitenden Angestellten für sich knechten lässt, oder dem Chef eines Busunternehmens oder eines Aufsichtsratsmitglieds oder, oder … Warum denn nur?
Weil unsere Interessenslage eine andere ist. Schau an, da ist sie wieder: Die verfickte Klassengesellschaft. Für viele Anarchisten ist dies Schnee von gestern, denn heute sind wir doch alle nur Menschen … und sollten uns lieb haben … knootsch. Das geht leider nicht, weil es immer noch Mitmenschen gibt, die auf Kosten meiner Knochen, meiner mentalen Kraft ihr Leben führen möchten. Das ist ein Widerspruch, den die meisten Bürger dieser Gesellschaft voll verinnerlicht haben und als natürlich, als selbstverständlich ansehen.

Zuguterletzt noch zu dem Begriff „Anarcho Kommunismus“

Ohne nicht jetzt etwas aufdringlich wirken zu wollen …. aber gesagt werden muss es dennoch: Dem Anarcho-Syndikalismus ist der „anarchistische Kommunismus“ immanent. Ohne diese utopische Grundlage wäre der Anarcho-Syndikalismus als ein Konzept des freiheitlichen Sozialismus überhaupt nicht existent. Kurz dazu nochmal Rudi the Rocker: „Die syndikalistische Bewegung würde in dem Moment ihren ursprünglichen Charakter verlieren und zur gewöhnlichen Gewerkschaftsbewegung degradiert werden, wenn sie die großen Prinzipien des freiheitlichen Sozialismus, oder, um es noch deutlicher auszusprechen, des kommunistischen Anarchismus aus dem Auge verlieren würde.“
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Resümee: Einfach selber ziehen. DIY!

 

PS: hier noch zwei Zitate, die zum nachdenken/diskutieren anregen können:

Dilemma
(Zitat von dem Rätekommunisten Paul Mattick)

»Hier in der Frage der Organisation, offenbart sich das Dilemma der Radikalen: Um gesellschaftliche Veränderungen zu bewerkstelligen, müssen Aktionen organisiert werden; organisierte Aktionen nehmen immer auch Züge dessen an, wogegen sie sich richten. Es scheint, als könne man nur das Falsche oder, aus Angst vor dem Falschen, gar nichts tun. Das politische Bewußtsein des Radikalen ist ein unglückliches Bewußtsein; Seines Utopismus bewußt, erfährt es nicht als Fehlschläge«

»Spontanität und Organisation, Vier Versuche über praktische und theoretische Probleme der Arbeiterbewegung«)

 

Materialismus
(Zitat von dem Rätekommunisten Anton Pannekoek)

„Materiell bedeutet bei uns alles was wirklich ist, die ganze reale Welt, alles was auf uns wirkt. Nicht nur Nahrung und Luft, Bäume und Erde, sondern auch Farben und Töne, Worte und Gedanken. Alles Geistige ist also darin einbegriffen; wirklich, real bestehend, sind die Gedanken in unseren Köpfen, und sie wirken auch auf andere ein. Ist dann nicht Alles materiell in diesem Sinne? Nein; nicht materiell sind der Teufel, die Engelein und der liebe Herrgott, oder was sonst Menschenköpfe sich ausphantasieren.
Nicht wirklich sind die abstrakte Moral und der „Geist der Menschheit“, nicht wirklich die „ewigen Menschenrechte“, die unveräußerlich hängen da oben. Aber materiell, d.h. wirklich, sind die Gedanken, die Ideen als Gedanken und Ideen, die Glaubenslehren, die Ideale, die in den Menschköpfen tatsächlich vorhanden sind und daher wirken: der religiöse Glauben an Gott und Teufel, die Sehnsucht nach Freiheit, die Begeisterung für das Recht, die Hingabe an große Ideale, die als mächtige vorwärtstreibende oder hemmende Kräfte in der Geschichte ihre Rolle spielten und spielen.“

[ssba]

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