Die Solidarity Federation hat vor kurzem einen Blick auf die aktuellen Entwicklungen im Vereinigten Königreich und den USA geworfen:
Als „unterbeschäftigt“ werden Arbeiter*innen bezeichnet, die weniger Stunden bekommen als sie möchten und dringend benötigen (weil die Löhne so niedrig sind, das sie mit den wenigen Stunden nicht in der Lage sind ihren Lebensunterhalt sicher zu bestreiten). So gibt es beispielsweise in Großbritannien und Nordirland über 1,4 Millionen Arbeiter*innen mit Null-Stunden-Verträgen [„Arbeit auf Abruf“]. Zudem müssen viele der 865.000 Leiharbeiter*innen dort darum kämpfen, genügend Wochenstunden zu bekommen, um davon Leben zu können. Hinzu kommt, dass Unternehmen immer mehr Leute in Teilzeit einstellen, oft mit Verträgen von 10 Stunden oder weniger. All diese Arbeiter*innen sind (aufgrund der zu niedrigen Löhne) also davon abhängig, dass ihnen das Management zusätzliche Mehrarbeit ermöglicht.
Nach Angaben der britischen Statistikbehörde wünschen sich fast 10% aller Erwerbstätigen mehr Wochenstunden.
Die Unterbeschäftigung (im zusammenspiel mit den niedrigen Löhnen) versetzt das Management in eine mächtige Lage, die es ihnen ermöglicht die Arbeitsbedingungen zu diktieren (also für Arbeiter*innen immer weiter zu verschlechtern) und am Arbeitsplatz ein Klima der Angst und ständiger Unsicherheit zu verbreiten.
Studien haben gezeigt, dass ein hohes Maß an Unterbeschäftigung sich schlecht auf das Arbeitsklima auswirkt, vor allem durch Diskriminierung, sexuelle Belästigung und Übergriffe, Dauerstress, psychische Störungen, Mobbing, willkürliche Regelungen, Bevorzugung und Lohnraub. Außerdem kann Unterbeschäftigung den Drahtseilakt zwischen Arbeit, Kinderbetreuung und Schule zu einem Albtraum werden lassen, da die zusätzlich benötigten Stunden meist nur kurzfristig in Anspruch genommen werden können.
„Wir erfahren erst am selben Tag oder am Tag zuvor, wieviel Stunden wir
arbeiten sollen und wann die Anfangs- oder Endzeiten sind. Als alleinerziehende Mutter von zwei Kindern ist das sehr schwer für mich.“
Wie weit Unterbeschäftigung tatsächlich verbreitet ist, wurde aufgedeckt durch eine Umfrage unter den 450.000 Mitgliedern der Gewerkschaft USDAW (Union of Shop, Distributive and Allied Workers). Dabei wurden überwiegend Arbeiter*innen aus Einzelhandel, Lager und Vertrieb, sowie Straßentransport interviewt. Fast zwei Drittel der Befragten (64%) arbeiten demnach regelmäßig mehr als im Arbeitsvertrag vereinbart wurde. Die Studie ergab auch, dass zwei Drittel solche Mehrarbeit künftig garantiert bekommen möchten. Außerdem gab jede zwanzigste Person (5%) an, sie wünschte sich mehr Arbeitsstunden.
Als ein Ergebnis der Untersuchung wurde auch ein zunehmender Anteil von Leiharbeiter*innen festgestellt, wobei 5% angaben, dass in ihrem Betrieb mindestens die Hälfte aller Kolleg*innen von Zeitarbeitsagenturen kommen. Darüber hinaus wurde bekannt, dass viele Arbeiter*innen einen zweiten Job annehmen müssen (8%) oder auf der Suche nach einem solchen sind (20%), um ihre Lebenshaltungskosten decken zu können.
Alarmierend ist auch der Anstieg von Minderstunden-Verträgen (mit bis zu 10 Wochenstunden), mit denen die Unternehmen mittlerweile den schlechten Ruf von Null-Stunden-Verträgen vermeiden wollen. Die überwiegende Mehrheit der Befragten gab an, dass sie sichere Arbeitsplätze mit garantierten Wochenstunden wünschen. Fast alle (98%) sind zudem der Meinung, dass alle Arbeiter*innen ein Recht auf Verträge hätten, die ihrer normalen Stundenzahl entsprechen.
Diese Umfrage der USDAW sollte aufhorchen lassen, denn sie zeigt, dass die Unterbeschäftigung in den traditionellen Wirtschaftsbereichen [Einzelhandel und Logistik] stark zugenommen hat, deren Arbeitsplätze bisher allgemein als sicher angesehen wurden. Nun hat sich gezeigt, dass diese Branchen sich auf Bedingungen einstellen müssen, die wir heute schon in der „Gig-Ökonomie“ [mit einzelnen Dienstleistungsaufträge] sehen, wo die Mehrheit der Arbeiter*innen von Woche zu Woche wechselnde Stundenzahlen je nach Bedarf des Unternehmens haben.
„Die Leiharbeiter*innen an meinem Arbeitsplatz sind alle sehr unglücklich darüber,
wie sie behandelt werden. Sie erscheinen zur Arbeit – manche haben bis zu 6 Euro Fahrtkosten – und wenn sie ankommen, erfahren sie, dass sie nach einer Stunde wieder gehen müssen.“
Dass nun auch namhafte Firmen solche Unterbeschäftigung nutzen, um Kosten einzusparen und Gewinne zu erhöhen, sollte uns nicht allzu sehr überraschen. Diese Entwicklung findet im US-amerkanischen Einzelhandel schon seit langem statt und wird als „Kurzschichten“ bezeichnet. Die Einzelhandelsunternehmen in den USA haben den „Just-in-time-Plan“ [als bedarfsgesteuerte Arbeitszeit] eingeführt. Mit solchen und anderen „schlanken“ Bearbeitungsprozessen werden dann vom Management immer mehr Teilzeitarbeiten eingeführt und niedrigste Hungerlöhne durchgesetzt.
Der Schlüssel zur Einführung von „schlanken“ [oder „ganzheitlich“ vernetzten] Betriebsabläufen ist die Verwendung neuester Technologien, die es dem Einzelhandel ermöglichen nun mit größerer Genauigkeit die Verkaufsmuster zu verfolgen und Lohnkosten vorherzusagen. Das versetzt die Unternehmen in die Lage, entsprechend dem wechselnden Geschäftsverlauf die Arbeitsstunden zu kürzen oder zu verringern.
Beispielsweise kann ein Algorithmus [als berechnendes Planungsprogramm] vorgeben, dass die Arbeiter*innen im Einzelhandel bei schlechtem Wetter noch vor Ablauf ihrer Schicht nach Hause geschickt werden. Ein anderes Beispiel ist der Einsatz von Sensoren in den Fußmatten von Ein- und Ausgängen, welche die Arbeitseinsätze entsprechend der Umsatzraten berechen, je nachdem wieviele Leute hineinkommen im Verhältnis zu denen, die mit Einkaufstaschen wieder hinausgehen.
Solche Methoden ermöglichen sogar großen Einzelhandelsunternehmen mit tausenden Arbeiter*innen, allen einen individuellen Einsatzplan vorzuschreiben, um Lohnkosten zu sparen. Das hat sogar dazu geführt, dass den einzelnen Arbeiter*innen wöchentlich ihre Verkäufe pro Stunde berechnet werden, um die Stundenplanung für die nächste Woche festzulegen.
Dabei geht nicht nur um Einsparungen, sondern es soll dauerhaft Druck auf die Arbeiter*innen ausgeübt werden, dass ihre Stunden gekürzt werden falls sie nicht noch mehr verkaufen. Das hat dazu geführt, dass garantierte Vollzeitstellen nur noch den Manager*innen und langjährigen Mitarbeiter*innen vorbehalten bleiben, während die Mehrheit der Belegschaft nur Teilzeitverträge bekommt und ständig auf Mehrarbeit angeweisen ist.
„Ich werde nicht als Vollzeit anerkannt, aber während der Urlaubszeit arbeite ich voll.
Nur das Management kann offiziell den Vollzeit-Status bekommen.“
So überrascht es nicht, dass diese „schlanke“ Betriebsführung sich vom Einzelhandel auch in andere Wirtschaftszweige ausbreitet: Imbisse, Gaststätten, Hotels, Unterhaltungsindustrie und IT-Bereich, sowie Baugewerbe. Die Gewerkschaftsstudie legt nahe, dass sich diese „schlanke“ Betriebsführung auch in der Wirtschaft des Vereinigten Königreiches (UK) verbreiten wird. Zum Beispiel schickt Amazon seine Arbeiter*innen regelmäßig nach Hause, wenn nicht genug Arbeit vorhanden ist. Und ein solches Vorgehen wird – ähnlich des US-Einzelhandels – auch dazu genutzt, damit die Arbeiter*innen gegeneinander um die zusätzliche Entlohnung durch Überstunden wetteifern.
Es wurde zwar schon viel über die Gefahren diskutiert, die von neuen Technologien ausgehen, und der Schwerpunkt lag dabei zu recht auf der zunehmenden Automation, welche Arbeitsplätze bedroht. Doch die technologische Bedrohung für weniger technische und „unqualifizierte“ Jobs ist genauso real, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Zukunft der Arbeit auch in Großbritannien und Irland haben könnte.
Es gibt bereits Anzeichen dafür, dass Unternehmen im Vereinigten Königreich sich bei der Investition in Technolgien zur Arbeitszeiteinsparung zurückhaltend zeigen, da dort der Preis der Arbeit niedrig ist. Mit dem Einsatz dieser neuen Techniken zur Senkung der Lohnausgaben, welche die Automatisierung weniger kosten lassen, wäre es möglich, dass die Arbeiter*schaft zunehmend aus staatlich geförderten, unterbeschäftigten Erwerbstätigen besteht, deren Leben sich aus der Not heraus dauerhaft um das Bedürfnis nach zusätzlichen Arbeitsstunden dreht, um genügend Lohn zu bekommen. Eine andere und viel wahrscheinlichere Möglichkeit könnte die Einführung einer Art allgemeinem Grundeinkommen sein.
Angesichts dessen sieht es die Solidarity Federation als ihre Pflicht an, jetzt neue Organisationsformen zu entwickeln, die mit den Herausforderungen einer sich rasend schnell verändernden Wirtschaft mithalten können. Dazu gehört auch ein Trainingskurs zur Organisierung am Arbeitsplatz, der offen für alle Interessierten ist.
(CC: BY-NC)