Ursula K. Le Guin, Autorin zahlreicher Romane aber auch politischer Essays, ist am 22. Januar im Alter von 88 Jahren gestorben.
„Ursula K. Le Guin hat uns gezeigt, was Science Fiction sein kann, um uns zu zeigen, was wir sein könnten“ twitterte Benni Bärmann (@benni_b) kurz nach ihrem Tod, und das trifft die Sache sehr genau. Unter Anarchist_innen ist Le Guin vor allem für ihren 1974 erschienenen Roman „Planet der Habenichtse“ („The Dispossessed“) bekannt, in dem es um zwei gegensätzliche Kulturen geht: den kapitalistischen Planeten Urras und sein anarchistisches Pendant, den kargen Mond Anarres.
Le Guins Romane werden häufig als Science Fiction beziehungsweise als Fantasy klassifiziert, je nachdem ob sie in Welten mit fortgeschrittener Technologie und Raumschiffen spielen (wie zum Beispiel „Planet der Habenichtse“) oder in naturverbunden-magischen Welten (wie die „Erdsee“-Romane). Zutreffender wäre allerdings die Bezeichnung „Social Fiction“, denn die Themen, mit denen sich Le Guin beschäftigt, sind nicht die Auswirkungen von Technologie oder Magie, sondern die Frage, wie sich menschliche Beziehungen gestalten würden, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anders wären.
Geschlechterverhältnisse spielen dabei natürlich eine wesentliche Rolle. In dem 1969 erschienenen Roman „Winterplanet“ („The Left Hand of Darkness“) etwa beschreibt Le Guin eine Welt, in der die Menschen „ambisexuell“ sind, das heißt, sie haben kein eindeutiges Geschlecht, sondern erleben nur einmal pro Monat einige Tage sexueller Potenz. Dann werden sie entweder männlich oder weiblich, jedes Individuum kann also schon einmal Mann oder Frau, Vater oder Mutter gewesen sein. Doch die meiste Zeit ihres Lebens sind sie geschlechtslos. Das setzt den (männlichen) Besucher von der Erde in fruchtbares Erstaunen, allerdings erweist sich der Versuch, wie feministische Kritikerinnen einwandten, als nicht wirklich gelungen: Die vermeintlich androgynen Bewohner des Winterplaneten sind irgendwie doch mehr Mann als Frau.
Le Guin selbst betrachtet das allerdings nicht als Scheitern, sondern als Ergebnis eines literarischen Experiments: Da unsere Vorstellung von „Menschentum“ aufs Engste mit einer Norm des Männlichen verknüpft ist, ist es eben so, dass ein einziges Geschlecht unweigerlich als „männliches“ erscheint. Nicht androgyne Gesellschaften, so Le Guins humorvolle Schlussfolgerung, müssen erst noch erfunden werden, sondern Frauen. Oder, wie sie über sich selbst in einem späteren Aufsatz schrieb: „Ich bin ein Mann. Vielleicht denken Sie jetzt, ich hätte mich in meinem Geschlecht geirrt oder ich wollte Sie reinlegen, weil mein Vorname auf a‘ endet oder ich drei BHs besitze oder fünf Mal schwanger war und andere Details, von denen Sie vielleicht gehört haben. Aber Details sind unwichtig. Fakt ist. Ich wurde Jahrzehnte vor der Erfindung von Frauen geboren.“
Le Guin schrieb den größten Teil ihrer Texte, bevor die Unterscheidung zwischen Sex und Gender aufkam, daher konnte sie noch mit der doppelten Bedeutung von „Sexualität“ und „Geschlecht“ (im gemeinsamen Begriff „Sex“): „Sex ist noch langweiliger zum Zuschauen als alle anderen Sportarten, selbst Baseball. Wenn ich gezwungen wäre, einen Sport anzuschauen anstatt ihn selbst zu betreiben, würde ich Springreiten wählen. Die Pferde sehen wirklich gut aus. Die Leute, die sie reiten, sind zwar meistens so eine Art Nazis, aber wie alle Nazis sind sie nur so mächtig und erfolgreich wie die Pferde, die sie reiten, es ist ja schließlich das Pferd, das entscheidet, ob es über dieses fünfbarrige Hindernis springt oder kurz davor anhält und den Nazis runterfallen lässt. Nur dass das Pferd sich normalerweise nicht daran erinnert, dass es diese Option hat.
Pferde sind nicht allzu schlau.
Jedenfalls haben Springreiten und Sex ziemlich viel gemeinsam. Wenn ich die Wahl hätte, obwohl ich oft vergesse, dass ich eine Wahl habe, würde ich jedenfalls ganz sicher Springreiten anschauen und Sex machen, niemals andersrum. Aber jetzt bin ich ohnehin zu alt für Springreiten, und für Sex – wer weiß? Ich weiß es. Sie nicht.“
Ursula Le Guin will in ihren Büchern keinen Idealzustand beschreiben, sondern es geht ihr um die „Aufhebung der gewohnten Denkweise, um Metaphern dessen, wofür unsere Sprache bislang noch die Worte fehlen“, wie sie einmal schrieb. Dabei ist sie unglaublich originell, weshalb sich auch ihre politischen und literaturwissenschaftlichen Essays lohnen, wie sie zum Beispiel in dem Sammelband „The Wave in the Mind“ zu finden sind: „Manchmal denke ich, ich könnte genauso gut meine Wahlmöglichkeit ausüben, kurz vor dem fünfbarrigen Hindernis stoppen und den Nazi runterfallen lassen. Wenn ich sowieso nicht gut darin bin, so zu tun, als wäre ich ein Mann, und wenn ich nicht gut darin bin, jung zu sein, könnte ich genauso gut anfangen und so tun, als wäre ich eine alte Frau. Ich bin nicht sicher, ob jemand bereits alte Frauen erfunden hat, aber einen Versuch könnte es wert sein.“
Eine alte Frau ist Ursula K. Le Guin jedenfalls geworden, und was für eine! Kurz vor ihrem Tod führte sie noch eine schriftliche Auseinandersetzung mit einem Leserbriefschreiber, der Science-Fiction Romane mit „alternativen Fakten“ im Stil der Trump-Administration verglich. Aber der Vergleich funktioniert nicht, schrieb Le Guin: „Wir Romanautorinnen denken uns Sachen aus. Manche davon sind offensichtlich unmöglich, andere sind realistisch, aber nichts davon ist real – es ist alles Einbildung, und deshalb nennen wir es Fiktion, weil es eben keine Tatsachen sind.“
Das Thema ihrer Bücher ist Politik, also das, was verhandelbar ist. Im „Planet der Habenichtse“ erzählt sie die Geschichte eines jungen Physikers vom Planeten Anarres, der eine Erfindung gemacht hat, die bedeutsam für das ganze Universum sein könnte. Da er auf seinem kargen Heimatplaneten, wo alle mit Überleben beschäftigt sind, niemanden kennt, um seine Thesen zu diskutieren, sucht er Kontakt zu Wissenschaftlern des kapitalistischen Urras. Allerdings: Kontakte zum „Anderen“ gefährden unweigerlich die eigene Stabilität. Ist es möglich, trotz kultureller Differenzen miteinander zu leben? Le Guin zeigt zumindest, wie schwierig es ist.
Der Physiker wird von den eigenen Leuten angefeindet, weil sie fürchten, dass die Aufgabe der strikten Separation die Stabilität der eigenen Gesellschaft gefährdet. Die Machthaber auf Urras wiederum versuchen tatsächlich, ihn zu vereinnahmen, ihn auszunutzen und zu korrumpieren. Ob es richtig ist, die Kontaktsperre zwischen Urras und Anares aufzuheben, ist keine Frage, die man mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten könnte in dem Sinne, dass eine dieser Antworten richtig ist und die andere falsch. Politische Differenzen lassen sich nicht neutral entscheiden.
Echte Differenz ist aber auch nicht bloßer Relativismus, sondern es steht wirklich etwas auf dem Spiel. Das ist die große Stärke der Science Fiction-Literatur: Dass sie mit Hilfe von Aliens tatsächliche Differenzen in den Lebensformen ausarbeiten kann. Wirkliche Aliens erkennt man nicht an der Hautfarbe und auch nicht am Geschlecht, sondern daran, ob sie wirklich etwas Neues bringen.
Das ist der Grund, warum so viele Völker die Aliens zunächst für Götter halten – wie die Waldwesen auf dem von der Erde zwangskolonisierten Planeten New Tahiti, um die es in einem weiteren Roman von Ursula K. Le Guin geht, „Das Wort für Welt ist Wald“ von 1972. Die Menschen, die für die Waldwesen Aliens beziehungsweise Götter sind, bringen ihnen eine ganz neue Fähigkeit: das Töten. Das Konzept war ihnen bis dahin unbekannt. Eigentlich eine schlechte Sache, sollte man meinen, aber nur so gelingt es ihnen, die irdischen Alien-Invasoren wieder zu vertreiben. Eines der Waldwesen erklärt das am Ende so: „Manchmal kommt ein Gott. Er bringt eine neue Art, etwas zu tun, oder etwas Neues, das zu tun ist. Eine neue Art zu singen oder eine neue Art von Tod. Er bringt es über die Brücke zwischen der Traumzeit und der Weltzeit. Wenn er dies getan hat, ist es getan.
Man kann Dinge, die in der Welt existieren, nicht nehmen und versuchen, sie in den Traum zurückzudrängen, sie innerhalb des Traums mit Mauern und Heuchelei festzuhalten. Das ist Wahnsinn. Was ist, ist. Es hat nun keinen Sinn mehr, so zu tun, als wüssten wir nicht, wie wir einander töten können.“
Vielleicht ist das der rote Faden in den Romanen von Ursula K. Le Guin: Dass die größere Gefahr immer darin besteht, die eigenen Werte und Überzeugungen selbst zu verraten gerade indem man versucht, sie um jeden Preis zu schützen. Oder, wie es der Protagonist im „Winterplanet“ sagt: „Gegen etwas opponieren, bedeutet, es zu erhalten. Man sagt hier: Alle Wege führen nach Mishnory‘ (So heißt die Hauptstadt des Planeten) Doch wenn man Mishnory den Rücken kehrt und es verlässt, ist man zweifellos immer noch auf dem Weg nach Mishnory. Gegen Vulgarität opponieren bedeutet unvermeidlich, selbst vulgär zu sein. Nein, man muss woanders hingehen; man muss sich ein anderes Ziel setzen. Dann beschreitet man einen anderen Weg.“
Antje Schrupp