Rudolf Zimmer (* ? – † ?)

Berlin, AAU, danach AAUE, FAUD, Hauptkassierer der Gemeinschaft proletarischer Freidenker (GpF). Zur 2. Reichskonferenz der Allgemeinen Arbeiter-Union definiert er die AAU, „Kampforganisation des Proletariats“, „antiautoritären Charakters“, als „eine Abkehr von allen überlieferten Organisationsformen“. Das Wesen der AAU wäre „eine durchgreifende Revolutionierung der Gehirne“ auf jedem Schritt der Weltrevolution:
„Da die AAU der beginnenden Selbstbewusstseinsentwicklung ihre Existenz verdankt, kann sich ihr Kampf nur auf das proletarische, antikapitalistische und antinationale Klasseninteresse der Arbeiter der Welt einstellen und muss mit aller Schärfe gegen alle ganz gleich wie gearteten Tendenzen opportunistischer und reformistischer Färbung vorgehen… Ist in der AAU verkörpert die proletarische
Organisationsform, die ihren Niederschlag findet im Rätesystem“.
In 1924, AAUE-Mitglied geworden, beklagt er den Misserfolg einer „Einheitsfront wenigstens zwischen der FKAD (Föderation Kommunistischer Anarchisten Deutschlands) und den syndikalistischen Unionen der FAUD und AAUE“.

Quellen: Bundes-Archiv Lichterfelde, RY 1/ I/5/4/1; R.Z.: „Kongress-Bericht: Zur 2. Reichskonferenz der Allgemeinen Arbeiter-Union“, Die
Aktion , Berlin 1920, S. 297-299; „Die Rolle der Organisation in der proletarischen Revolution“, Die Aktion Nr. 33/34, 20. August 1921; S.
478-480; „Drei Jahre AAUE“, Die Aktion Nr. 11, 15. Juni 1924, S. 314-318; „Das Gebot der Stunde“, Der freie Arbeiter Nr. XVII, Berlin 1924;
Hartmut Rübner, Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarchosyndikalismus, Libertad
Verlag, Berlin/Köln, 1994, S. 247, 251

Hermann Rüggebrecht (* 1904 – † ?)

Berlin, Gießereiarbeiter, seit 1919 Freidenkerbewegung;
um 1922-1933 FAUD; nach 1945, KPD/SED, GIS/SWV; Ende der 50. Jahre Mitglied der Anarchistischen Vereinigung um Rudolf Oestreich; Anfang der 60. Jahre kurzeitig Herausgeber der Befreiung, Mühlheim.

Quelle: Michael Kubina, Von Utopie, Widerstand und Kaltem Krieg. Das unzeitgemäße Leben des Berliner Rätekommunisten Alfred Weiland
(1906-1978), LIT Verlag, 2000, S. 207.

Karl Roche alias Diogenes (* 31. Oktober 1862 – † 1. Januar 1931)

1887 SPD. Roches erste größere Publikation für die AAU ist Anfang 1920 die Schrift Demokratie oder Proletarische Diktatur! Ein Weckruf der Allgemeinen Arbeiter-Union, Ortsgruppe Hamburg, [Hamburg] 1920. Er publiziert regelmäßig in der Tageszeitung der Hamburger KPD (seit April 1920 der KAPD), der Kommunistischen
Arbeiter-Zeitung, und ist als Referent bei Veranstaltungen für Partei und Union vor allem im norddeutschen Raum aktiv. Seit März ist er Redakteur der KAZ-Rubrik „Arbeiter-Union“.
Roche tritt auf der 1. Reichskonferenz der AAU im Februar 1920 erfolgreich den Versuchen der Bremer KPD-Opposition (Karl Becker) entgegen, die Union zu einer wirtschaftlichen Hilfsorganisation der Partei zu machen. Das erste, sehr föderalistische Programm der AAU, angenommen auf der 2. Reichskonferenz im Mai 1920, trägt wesentlich Roches Handschrift.
Da die Bremer Opposition um Becker und Paul Frölich sich nicht an der Gründung der KAPD beteiligt, verlagert sich das Zentrum der Unionisten nach Hamburg.
Als Vorsitzender der Pressekommission ist Roche Herausgeber der seit 1920 in Hamburg erscheinenden AAU-Zeitung des „Wirtschaftsbezirkes Wasserkante“, Der Unionist, und einer
der Redakteure.
In der zweiten Hälfte des Jahres 1920 nimmt in der AAU der Einfluß der KAPD zu. Die Richtung, die den Dualismus von Partei und Union zugunsten der Union überwinden will und die ökonomisch-politische Einheitsorganisation vertritt, gerät in die Defensive. Auf der 3. Reichskonferenz der AAU im Dezember 1920 in Berlin (an der Roche teilnimmt) zeichnet sich ab, daß es keine Mehrheit für das Konzept der Einheitsorganisation gibt. Noch im selben Monat schließen die ostsächsischen Unionisten die KAPD-Mitglieder aus, Hamburg folgt Ende Mai 1921.
Roche faßt die Position der Opposition noch einmal in der Schrift Die Allgemeine Arbeiter Union, Hamburg [1921]; Pressekommission der AAU Groß-Hamburg) zusammen. Nach März 1921 („Märzaktion“) wird Roche als Vorsitzender der Pressekommission des Unionist im April 1921 zu einem Jahr Festungshaft verurteilt, der Drucker des Unionist zu 15 Monaten. Roche kommt allerdings spätestens im November des Jahres wieder frei. Aber kann er deshalb nicht an der 4. Reichskonferenz der AAU (wiederum in Berlin) teilnehmen, auf der das von der KAPD favorisierte dualistische Modell Union (als ‚Massenorganisation‘) und Partei (als theoretisch führender Kader) die Mehrheit gewinnt. Außerdem wird der föderalistische Aufbau der Union zugunsten eines zentralistischen Modells aufgegeben. Die Opposition innerhalb der AAU gründet darauf im Oktober 1921 die »Allgemeine Arbeiter-Union Deutschlands (Einheitsorganisation)«.
Die AAUE in Hamburg bricht während der Illegalität (1923) faktisch zusammen. Roche wechselt zur Föderation Kommunistischer Anarchisten Deutschlands, um spätestens im Juli 1924 in der FAUD aktiv zu werden.
Roche gehört zu den Initiatoren vom Block antiautoritärer Revolutionäre in Norddeutschland.
Er schreibt regelmäßig für das FAUD-Organ Der Syndikalist, außerdem für die seit 1927 erscheinende theoretische Zeitschrift Die Internationale und andere syndikalistische Publikationen. In seiner letzten größeren Veröffentlichung, dem 1929 als Artikelserie in Der
Syndikalist erschienenen „Handbuch des Syndikalismus“ faßt er nochmal sein politisches Credo zusammen.
Er starb am 1. Januar 1931

Quellen: Hartmut Rübner, Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarchosyndikalismus,
Libertad Verlag, Berlin/Köln, 1994, S. 35; Folkert Mohrhof & Jonnie Schlichting, Archiv Roche– Regionales Archiv zur Dokumentation des
antiautoritären Sozialismus (RADAS), Hamburg, Okt. 2012: https://archivkarlroche.wordpress.com/

 

 

Wer war Karl Roche? Eine politisch-biographische Skizze zu seinem 150. Geburtstag

31. Oktober 1862 – 1. Januar 1931

Vorbemerkung

Wir legen mit diesem Text eine erweiterte und überarbeitete Fassung unserer bisherigen Forschungen zur Biographie Karl Roches vor. Er hat immer noch den Charakter einer vorläufigen Skizze. Obwohl bei weitem nicht vollständig, konnten wir doch wieder Lücken schließen und wohl jetzt definitiv Fehlinformationen korrigieren, die sich vor allem in der älteren Literatur finden und meist die Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkrieges im Jahre 1918 betreffen. [1]

Als ‘Barfuß-Historiker’, ohne akademische Institutionen (und deren finanzielle Mittel) in der Hinterhand, sind wir selbstverständlich immer etwas eingeschränkt in unseren Forschungen, da wir beispielsweise alle Recherchen aus der eigenen Tasche finanzieren müssen (von dem Zeitaufwand ganz zu schweigen). Deshalb sind wir den uns nahestehenden Personen und Einrichtungen, die in der Regel wie wir ihre Forschungen für ‘Gottes Lohn’ betreiben, für ihre Unterstützung, ihr großzügig geteiltes Wissen – und ihren nicht minder großzügig geteilten Materialfundus – besonders verbunden. Nennen möchten wir vor allem Frank Potts (Berlin und Amsterdam), der mit seinen Archivrecherchen manches Loch zu schließen half; weiter das Institut für Syndikalismus-Forschung, und dort besonders Helge Döhring, der mit Material, Rat und Tat und konstruktiver Kritik nicht geizte. Schließlich geht unser Dank an die Kolleginnen und Kollegen in den Stadt- und Staatsarchiven und Universitäts-Bibliotheken in Bochum, Hamburg, Bremen, der Ernst-Thälmann-Gedenkstätte Hamburg, der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg und, last but not least, dem Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis (IISG) in Amsterdam.

Folkert Mohrhof, Jonnie Schlichting

Archiv Karl Roche – Regionales Archiv zur Dokumentation des antiautoritären Sozialismus (RADAS) – Hamburg im Oktober 2012

Karl Roche

Johann Friedrich Carl [2] Roche: Geboren am 31. 10. 1862 in Königsberg/Ostpreußen – gestorben am 1. 1. 1931 in Hamburg. Er war verheiratet mit Emma Auguste, geb. Lange, geboren am 22. 8. 1864 in Thorn/Ostpreußen. Sie hatten miteinander wenigstens 2 Kinder [3]. Seine Eltern sind Christian Roche und Dorotea, geb. Böhm [4].

Nach Absolvierung der Volksschule [5] schlägt sich Roche mehrere Jahre als Wanderarbeiter (wohl hauptsächlich in der Landwirtschaft [6] durch. In diesem Zusammenhang wird er mehrfach »wegen Landstreichens und Bettelns« zu Gefängnis und Zwangsarbeit in kommunalen Arbeitshäusern (»Überweisung«) verurteilt.[7]

Im Jahre 1887 oder 1888 – noch während des »Sozialisten-Gesetzes« – tritt Roche der illegalen sozialdemokratischen Partei bei [8]. Roche muß keinen Militärdienst leisten, da er sein linkes Auge verloren hat [9]. 1891 wird er in der von der »Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands« geführten Gewerkschaftsbewegung aktiv [10], zuerst im »Verband der Fabrik-, Land- und gewerblichen Hülfsarbeiter Deutschlands« [11], für den er als Agitator hauptsächlich im Hamburger Umland tätig ist. In dieser Zeit wird Roche zweimal zu mehrmonatigen Haftstrafen wegen »Beleidigung« bzw. »Majestätsbeleidigung« verurteilt [12]. Im Jahre 1897 erfolgt der Übertritt zum »Verband der Bau-, Erd- und gewerblichen Hülfsarbeiter Deutschlands« [13], auch hier ist er bis Anfang 1902 vor allem im Bereich Groß-Hamburg und in Schleswig-Holstein als Agitator sowie literarisch (Artikel im Verbandsorgan Der Arbeiter) aktiv [14] – was ihm wegen »öffentlicher Beleidigung« eine vierzehntägige Haftstrafe einbringt [15].

Im April 1902 geht Roche nach Elberfeld-Barmen (Wuppertal)[16], wo er 1905 vom »Verband« als Gauleiter für Rheinland-Westfalen angestellt wird [17]. Anfang 1906 übersiedelt er nach Bochum/Westfalen, wo er als »Lokalangestellter« (Zweigstellenleiter) tätig ist [18], bis er ab dem 2. Mai 1907 wieder nach Hamburg kommt, um als »Bürohilfsarbeiter« beim Hauptvorstand des »Verbandes« zu arbeiten.[19] Anläßlich seines Umzugs nach Hamburg 1907 stellt die Polizeiverwaltung der Stadt Bochum Roche das Qualitätszeugnis aus, er sei »in der sozialdemokratischen Partei wie in der freigewerkschaftlichen Arbeiter-Bewegung in schärfster und gehässigster Weise tätig« gewesen [20], was sich u. a. in zwei Geldstrafen »wegen öffentlicher Beleidigung eines Polizeibeamten« niederschlug.

Für den Hauptvorstand verfaßt Roche drei größere Untersuchungen, ohne daß seine Autorenschaft gewürdigt, geschweige denn genannt wird [21]. Die ausgesprochen schlechte Behandlung der angestellten ‘niederen Chargen’ durch die Vorstandsmitglieder und der ungehobelte Umgangston mit ihnen erinnert an ostpreußische Gutsbesitzer, nicht an Kollegen und Genossen, die die Befreiung der arbeitenden Klassen auf ihre Fahnen geschrieben haben. Roche kommen erste Zweifel: »Als ich drei Monate im Büro war, wusste ich, diese Menschen predigten öffentlich das lautere Wasser der Nächstenliebe, Selbstlosigkeit und Solidarität und berauschten sich heimlich am toll machenden Wein niedrigster Herrschsucht.« [22] Eine weitere Merkwürdigkeit sind die Geschäfte des Genossen Albert Töpfer [23], der als stellvertretender Verbands-Vorsitzender und Redakteur des Bauhilfsarbeiters ein Jahresgehalt von 2.600 Mark erhält (und insgesamt ein Jahreseinkommen von 5.000 Mark versteuert), Besitzer von mehreren Mietshäusern mit insgesamt 60 Wohnungen ist, die mit 270.000 Mark Hypotheken belastet sind [24]. (Einer von Töpfers Mietern ist übrigens Karl Roche samt Familie.)

Am 19. 4. 1909 wird Roche wegen seiner verbandsöffentlich geäußerten Kritik am Hauptvorstand (darunter Unterschlagungen von Mitgliedsbeiträgen durch den Hauptkassierer) schließlich fristlos gefeuert [25]; der Hauptvorstandskollege und Redakteur des Verbandsorgans Albert Töpfer kündigt ihm zum 1. Mai 1909 die Wohnung26. Roche zieht mit seiner Familie in das Hamburger Umland, ins ländliche Osdorf27 im Kreis Pinneberg in der preußischen Provinz Schleswig-Holstein.

Da die Hamburger SPD Roche die Gelegenheit verweigert, im Parteiorgan Hamburger Echo zum Rausschmiß Stellung nehmen zu können, verläßt er nach 22 Jahren die Partei [28] und tritt zur lokalistischen »Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften« [29] über. Im Verlag der FVdG erscheint noch im selben Jahr der Bericht über seine ‘Abenteuer’ beim Hauptvorstand des »Zentralverband der Bauhülfsarbeiter Deutschlands« unter dem Titel »Aus dem roten Sumpf«. [30]

Diese Veröffentlichung schlägt in die heile Welt der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung wie eine Bombe ein – und entfesselt entsprechende Reaktionen. Töpfer bezeichnet Roche im Bau-Hilfsarbeiter als jemanden, der »krankhafter Natur« und ein »Demagoge im schlimmsten Sinne des Wortes« sei [31]. Das Hamburger Echo wirft Roche am 15.8.1909 vor, der »kapitalistischen Presse« ein gefundenes Fressen vorgesetzt zu haben, weil er dem Rat, seine Vorwürfe auf den Instanzenweg der Arbeiterbewegung zu geben, nicht folgte, um seinem »gepreßtem Herzen« Luft zu machen: »Daß Roche diesem Rat nicht folgte, sondern sich als Richter in seiner eigenen Angelegenheit aufspielt und obendrein die schlimmsten Gegner der Arbeiterbewegung als Publikum herbeirief, beweist am besten, daß es ihm nicht auf Beseitigung wirklicher oder vermeintlicher Uebelstände, sondern eben nur auf Befriedigung seines persönlichen Rachedurstes ankam.« [32]

Ende August 1909 veröffentlicht schließlich der Vorstand des Bauhilfsarbeiter-Verbandes eine Erklärung, daß »sich R. als individueller Anarchist entpuppt« habe und seine Maßregelung von der Mehrzahl der Mitglieder gebilligt werde, weil er »wenig vorteilhafte Seiten« habe und »wiederholt bewiesen [hat], daß er völlig unwürdig war, eine Stelle zu bekleiden, nach der er sich jahrelang gedrängt hat«. Das zeige sich auch daran, wie »skrupellos R. bei dem Zusammenschmieren seiner Schmähschrift zu Werke gegangen ist.« [33]

Roche erwidert in der Einigkeit (die sozialdemokratische und Gewerkschafts-Presse ist ihm verschlossenen): »Jetzt habe ich Euch in die weite Arena der Öffentlichkeit gezerrt und jetzt müßt Ihr tanzen. Also noch einmal: Heraus mit dem Flederwisch! Euch bleibt nur zweierlei übrig: Entweder Ihr bringt mich vor den Strafrichter wegen Beleidigung usw. oder Ihr stellt den Mitgliedern Eure Mandate zur Verfügung. Ein Drum und Rum gibt es nun nicht mehr. Und darum noch einmal: Heraus mit Eurem Flederwisch! Meine Patronen sind noch nicht alle!« [34]

Nun – es gibt keine Rücktritte, sondern einen Prozeß. Die Verbandsvorständler Gustav Behrendt, Sjurt Wrede und Albert Töpfer verklagen Roche als Verfasser des »Sumpf« und seinen Verleger Fritz Kater. Da einige Zeugen Roches abgesprungen sind, werden am 7. Mai 1910 Roche zu 200 Mark oder 20 Tagen Gefängnis und Kater zu 50 Mark oder 5 Tagen Gefängnis vom Hamburger Schöffengericht verurteilt; die Berufungsverhandlung vom 10. September 1910 bestätigt das Urteil [35]. Allerdings muß sich der Arbeiterführer und »Hausagrarier« Albert Töpfer von dem Gericht ins Stammbuch schreiben lassen: »Wohl ist aber dem Angeklagten [Karl Roche] darin zu folgen, daß ein solches ohne Mittel erworbenes Hausbesitzertum sich mit den Grundsätzen der Sozialdemokratie nicht verträgt. Es ist ein Mangel an Überzeugungstreue, wenn ein Mann, der sich zur Bekämpfung des Kapitalismus anstellen und bezahlen läßt und dabei selbst sich durch die Inanspruchnahme dieses Kapitalismus zu bereichern sucht.« [36]

Ein Kuriosum noch am Rande: Die sozialdemokratische Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung behauptete, daß Roche vom »Reichsverband gegen die Sozialdemokratie« [37] für den »Sumpf« bezahlt worden wäre – was der Zeitung eine erfolgreiche Klage des »Reichsverbandes« wegen Beleidigung einbrachte. Der sozialdemokratische Lübecker Volksbote brachte es fertig, daraus zu machen: »Sogar der Reichsverband schüttelt ihn ab, nämlich den ehemaligen Hilfsarbeiter im Zentralverband der Bauarbeiter, Karl Roche.« [38]

Roche, der sich als Hausierer [39] und Fischhändler [40] durchschlagen muß, wird neben Paul Schreyer und Ernst Schneider zu einem der wichtigsten Protagonisten des Syndikalismus in Hamburg. Außerdem ist er im Verein föderierter Anarchisten Hamburg, die zur Anarchistischen Föderation für Hamburg und Umgebung gehört, tätig. Seit 1912 arbeitet er an der von der Anarchistischen Föderation Hamburg-Altona herausgegebenen Monatszeitung Kampf [41].

Norddeutsches Zentrum der Lokalisten war vor 1914 Hamburg. Ihre Basis war vor allem im Bereich der Transport-, Hafen und Werftarbeiter, außerdem die Berufe des Bauhandwerks und Dienstleistungssektors, die sich zur »Freien Vereinigung aller Berufe« (seit 1913 »Syndikalistische Vereinigung aller Berufe«) zusammengeschlossen hatten. Sie bildeten mit einigen Fachverbänden und der »Föderation der Metallarbeiter« ein Gewerkschaftskartell. Dem Kartell, das eine Vorläuferorganisation der »Arbeiterbörsen« der FAUD war [42], schloß sich der 1913 entstandene »Syndikalistische Industrie-Verband« an, der von Hafenarbeitern und Seeleuten gegründet worden war. [43] Hier wurde erstmals das Konzept der »Einheitsorganisation« zur Diskussion gestellt [44], (das dann in größerem Maßstab ab 1919 die Arbeiter-Unionen umsetzten) und in Hamburg durch die von Karl Roche geleitete Syndikalistische Vereinigung aller Berufe schon entgegen den Statuten der FVdG praktiziert wurde [45]. »Die im Vergleich zur gebräuchlichen Praxis der FVdG in Bremen und Hamburg betriebene Aufgabe des Berufsverbandsprinzips zugunsten eines vereinheitlichten Aufbauschemas diktierte dabei mindestens ebenso der Zwang zu Konzentration wie der Wille zur Beseitigung einer verankerten Berufsideologie.« [46]. Das waren also ganz pragmatische Gründe – nämlich die Wahrung der Handlungsfähigkeit als minoritäre Gewerkschaft, die es sich nicht leisten konnte, berufsständische Ressentiments über die Gebühr zu berücksichtigen. Der 1. Weltkrieg unterbrach diese Diskussion, wie so manches andere.

Er wird Vorsitzender der »Syndikalistischen Vereinigung aller Berufe« und Kartelldelegierter und Schriftführer des im Juni 1913 gegründeten »Syndikalistischen Industrieverbandes«. Neben einer umfangreichen Tätigkeit als Referent veröffentlicht Roche in den beiden Organen der Lokalisten, Die Einigkeit und Der Pionier. Außerdem ist er Verfasser der unter dem Pseudonym Diogenes erschienenen Schrift »Die Ohnmacht der Sozialdemokratie im Deutschen Reichstag« [47].

Zusammen mit Fritz Kater und Karl Windhoff wählt die FVdG Roche zum Delegierten für den ersten internationalen Syndikalistenkongreß, der vom 27. September bis zum 2. Oktober 1913 in London tagt [48]. Die Reise der drei Delegierten wird von der preußischen Polizei fürsorglich observiert [49]. Auf dem 11. Kongreß der FVdG im Mai 1914 ist Roche einer der Delegierten für Hamburg und Referent zum Thema »Genossenschaften und Syndikalismus« [50].

Zu Beginn des 1. Weltkrieges 1914 werden die Zeitungen der FVdG, der Pionier und die Einigkeit, wegen ihrer konsequenten antimilitaristischen und den Krieg ablehnenden Haltung verboten [51], und die Arbeit der FVdG muß sich auf ein Minimum beschränken. Als Ersatz gibt die Geschäftskommission ab dem 15. August 1914 ein wöchentlich erscheinendes organisationsinternes Mitteilungsblatt heraus. Nach dessen Verbot am 5. Juni 1915 [52] erscheint ein Rundschreiben, das schließlich am 28. 4. 1917 verboten wird [53].

Laut den Überwachungsakten der Preußischen Polizei hat sich Roche nach Ausbruch des Krieges nicht mehr politisch betätigt. Der Königliche Landrat des Kreises Pinneberg meldet am 19. 4. 1915 nach Berlin, »daß die fortgesetzten Beobachtungen des Roche nichts belastendes ergeben haben. Roche verhält sich ruhig, ist nicht auf Reisen gewesen und scheint seine schriftstellerische Tätigkeit für die anarchistische Partei eingestellt zu haben.« Und im Bericht vom 6. 11. 1915 heißt es, »dass nach den bisherigen Beobachtungen Roche kein ernsthafter Anhänger des Anarchismus zu sein scheint. Der Gemeindevorsteher [von Osdorf] hegt zwar die Vermutung, dass Roche nach Beendigung des Krieges seine schriftliche Tätigkeit für anarchistische Blätter, wie er sie vor dem Kriege ausgeübt hat, wieder aufnehmen wird.

Im übrigen lebt Roche ruhig, nüchtern und zurückgezogen; er betrieb früher einen Hausiererhandel, hat diesen aber seit einigen Jahren eingestellt, und arbeitet, angeblich krankheitshalber, nur sehr selten. Seine Ehefrau geht auf Arbeit; von ihrem Arbeitsverdienste sowie von Unterstützungen der Kinder und seitens der Gemeinde lebt er. Er ist faul und will nicht arbeiten, und auch unzuverlässig.« [54]

Am 21. 9. 1916 meldet die Hamburger Polizei ihren Preußischen Kollegen, daß Roche am 11. 9. 1916 nach Hamburg, Lindenallee 25. IV, gezogen ist. »Roche ist wieder unter Beobachtung gestellt worden.« [55] Die Pinneberger Überwacher wissen da allerdings noch nicht, daß Roche umgezogen ist: in ihrem Bericht vom 28. 9. 1916 heißt es, daß Roche »sich durchaus ruhig und unauffällig verhält, er unterhält überhaupt keinen Verkehr und lebt vollständig zurückgezogen.« [56] Kein Wunder, wenn der Überwachte 17 Tage zuvor ausgezogen ist.

Die insgesamt besser informierte Politische Polizei in Hamburg berichtet am 20. 7. 1917 nach Berlin, Roche (er wohnt mittlerweile Amandastr. 61, Haus 2) »ist seit Ende v.J. im hiesigen Friedhofsbureau als Hilfsschreiber beschäftigt. Roche ist öffentlich nicht hervorgetreten; er hat jedoch in den ersten Monaten nach seinem Zuzuge mit mehreren hiesigen Anarchisten verkehrt, insbesondere war er eng befreundet mit dem Tischler Albert Fricke [57]. Auch hat Roche wiederholt gesprächsweise in Kreisen seiner Bekannten zu erkennen gegeben, daß er noch anarchistische Gesinnungen hegt. Er ist nach wie vor ein Anhänger der anarchistischen Bewegung, hält sich aber seit einigen Monaten – anscheinend infolge seiner jetzigen Stellung – von den übrigen Anarchisten fern. Roche wird weiter beobachtet.« [58]

Im letzten Kriegsjahr, seit dem 20. Juni 1918, wird Roche, der aufgrund seines Alters (und seines fehlenden Auges) nicht zum Militär muß, auf der Vulcan-Werft als Nietenschreiber zwangsverpflichtet [59] – eine strategisch günstige Stelle in der Revolutionszeit 1918/19 …

Erstaunlicherweise berichtet die Hamburger Polizei noch am 19. Juni 1918 an das Königlich Preußische Polizei-Präsidium zu Berlin: »Der Händler Carl Roche ist seit langer Zeit krank und ohne Arbeit …« [60] – übrigens der letzte Eintrag in der Berliner Akte.

Mit dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreiches treten auch die Syndikalisten wieder an die Öffentlichkeit und erhalten einen unerwartet großen Zustrom an neuen Mitgliedern. Die Einigkeit wird in Der Syndikalist umbenannt [61]. Die erste Ausgabe erscheint am 18. Dezember 1918.

Roche ist einer der führenden Propagandisten der wiedererstandenen FVdG. Schon im Januar 1919 unternimmt er zusammen mit Fritz Kater eine erste Agitationsreise durch Norddeutschland [62]. Roche ist jetzt Geschäftsführer der »Syndikalistischen Föderation Hamburg« [63]. Neben einer umfangreichen Vortragstätigkeit vor allem im norddeutschen Raum [64] und Artikeln im Syndikalist veröffentlicht Roche vier der wichtigsten programmatischen Texte der FVdG im ersten Revolutionsjahr:

  • Was wollen die Syndikalisten? Programm, Ziel und Wege der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften, Berlin 1919 (Verlag »Der Syndikalist«)
  • Einheitslohn und Arbeitersolidarität [Vortrag, gehalten am 20. April 1919], Berlin 1919 (Verlag »Der Syndikalist«)
  • Zwei Sozialisierungsfragen. 1. Wer soll sozialisieren? [Vortrag, gehalten am 1. Mai 1919 in Hamburg] 2. Ist die zusammengebrochene Wirtschaft für die Sozialisierung reif? [Vortrag, gehalten im Mai 1919], Hamburg 1919 (Verlag der Syndikalistischen Föderation Hamburg)
  • Organisierte direkte Aktion, Berlin 1919 (Verlag »Der Syndikalist« Fritz Kater).[65]

Seit dem Sommer des Jahres publiziert er auch in der Tageszeitung der Hamburger KPD, der Kommunistischen Arbeiter-Zeitung, zu gewerkschaftlichen Themen.

Am 29. November 1919 wird Roche von der Hamburger »Vulcan-Werft AG« gefeuert. In dem Kündigungsschreiben werden ausdrücklich seine führende Rolle in der Syndikalistischen Föderation Hamburg und die Propagierung der »passiven Resistenz« als Kündigungsgrund genannt: »Seine Führung und Leistung haben uns voll befriedigt, bis R. nach der politischen Umwälzung nach und nach Führer einer Richtung wurde, die durch Wort und Schrift in Betriebsversammlungen der Werft zur passiven Resistenz aufforderte. Diese Einwirkung war derart, daß wir uns von R. trennen mußten.« [66] Ein Spitzelbericht der Politischen Polizei hatte schon im Oktober des Jahres notiert: »Der Haupthetzer auf der Vulcanwerft ist der Syndikalist Roche. Sein Einfluss auf die Arbeiterschaft ist ungeheuer und mit Recht wird behauptet, daß er die Seele des verderblichen Widerstandes gegen Vernunft und Ordnung eines großen Teils der Arbeiterschaft ist.« [67]

Im Dezember 1919, noch vor Gründung der »Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten)«, verlassen Roche und Ernst Schneider die FVdG und wechseln zur »Arbeiter-Union« [68]; sie sind auch in der oppositionellen Hamburger KPD [69] aktiv. Mit ihnen geht offenbar die große Mehrheit der Syndikalisten Hamburgs. Anlaß für diesen Schritt mögen einerseits die von Rudolf Rocker in der »Prinzipienerklärung des Syndikalismus« begründete Ablehnung der Diktatur des Proletariats und des bewaffneten Aufstandes, andererseits die – in der FAUD nicht unumstrittene – Umstellung von den traditionellen Fachverbänden auf das Industrieverbandsprinzip sein, während Roche das Konzept der betrieblichen Einheitsorganisation (»Betriebsorgani­sation«) favorisiert.

Seit Anfang 1920 ist Roche einer der führenden Köpfe der unionistischen Bewegung in Hamburg, neben Fritz Wolffheim und Heinrich Laufenberg, die zu diesem Zeitpunkt die unbestrittenen Sprecher der gesamten linken Opposition in der KPD gegen die Berliner Zentrale um Paul Levi sind (bevor die beiden sich bis August 1920 mit ihrem sogenannten ‘Nationalbolschewismus’ innerhalb der Linken mehr und mehr isolieren).

Roches erste größere Publikation für die AAU ist Anfang 1920 die Schrift Demokratie oder Proletarische Diktatur! Ein Weckruf der Allgemeinen Arbeiter-Union, Ortsgruppe Hamburg, [Hamburg] 1920. Er publiziert regelmäßig in der Tageszeitung der Hamburger KPD (seit April 1920 der KAPD), der Kommunistischen Arbeiter-Zeitung, und ist als Referent bei Veranstaltungen für Partei und Union vor allem im norddeutschen Raum aktiv. Seit März ist er Redakteur der KAZ-Rubrik »Arbeiter-Union«.

Roche tritt auf der 1. Reichskonferenz der AAU im Februar 1920 erfolgreich den Versuchen der Bremer KPD-Opposition (Karl Becker) entgegen, die Union zu einer wirtschaftlichen Hilfs­organisation der Partei zu machen [70]. Das erste, sehr föderalistische Programm der AAU, angenommen auf der 2. Reichskonferenz im Mai 1920, trägt wesentlich Roches Handschrift. Da die Bremer Opposition um Becker und Paul Frölich sich nicht an der Gründung der »Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands« beteiligt71 und zur KPD-Zentrale zurückkehrt, verlagert sich das Zentrum der Unionisten nach Hamburg [72].

Roches Kontakte zur FAUD scheinen trotzdem weiter bestanden zu haben, Er versucht in den nächsten Jahren mehrfach, wenn auch vergeblich, zumindest für Hamburg eine Kartellierung oder sogar organisatorische Vereinigung von Unionisten, Syndikalisten und Anarchisten herbeizuführen.

Als Vorsitzender der Pressekommission ist Roche Herausgeber der seit 1920 in Hamburg erscheinenden AAU-Zeitung des »Wirtschaftsbezirkes Wasserkante«, Der Unionist, und einer der Redakteure.

In der zweiten Hälfte des Jahres 1920 nimmt in der AAU der Einfluß der KAPD zu. Die Richtung, die den Dualismus von Partei und Union zugunsten der Union überwinden will und die ökonomisch-politische Einheitsorganisation vertritt, gerät in die Defensive. Ihre Schwerpunkte liegen in Hamburg und Ostsachsen [73]. Auf der 3. Reichskonferenz der AAU im Dezember 1920 in Berlin (an der Roche teilnimmt) zeichnet sich ab, daß es keine Mehrheit für das Konzept der Einheitsorganisation gibt [74]. Noch im selben Monat schließen die ostsächsischen Unionisten die KAPD-Mitglieder aus, Hamburg folgt Ende Mai 1921 [75].

Roche faßt die Position der Opposition noch einmal in der Schrift Die Allgemeine Arbeiter-Union, (Hamburg [1921]; Herausgegeben von der Pressekommission der A.A.U. Groß-Hamburg) zusammen, die wahrscheinlich Anfang 1921 erscheint.

Nach dem Mitteldeutschen Aufstand im März 1921 (der sogenannten »Märzaktion«) [76] wird Roche als Vorsitzender der Pressekommission des Unionist im April 1921 zu einem Jahr Festungshaft verurteilt, der Drucker des Unionist zu 15 Monaten [77]. Roche kommt allerdings spätestens im November des Jahres wieder frei [78].

Aber kann er deshalb nicht an der 4. Reichskonferenz der AAU (wiederum in Berlin) teilnehmen, auf der das von der KAPD favorisierte dualistische Modell Union (als ‘Massenorganisation’) und Partei (als theoretisch führender Kader) die Mehrheit gewinnt. Außerdem wird der föderalistische Aufbau der Union zugunsten eines zentralistischen Modells aufgegeben [79]. Die Opposition innerhalb der AAU gründet darauf im Oktober 1921 die »Allgemeine Arbeiter-Union Deutschlands (Einheitsorganisation)«. [80]

Das Jahr 1923 stürzt die Weimarer Republik in einen existenzielle Krise. Die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen und der von der Reichsregierung unter dem Kanzler Wilhelm Cuno propagierte passive Widerstand dagegen, der mittels der Notenpresse finanziert werden soll und aus der schon galoppierenden Inflation eine Hyperinflation macht, ruiniert die Reichsfinanzen endgültig. Nach dem Sturz Cunos im Sommer übernimmt ein Koalitionskabinett unter Gustav Stresemann (DVP), bestehend aus SPD, Zentrum, DDP und DVP, die Regierung.

Die Bildung von SPD-KPD-Koalitionsregierungen in Sachsen und Thüringen im Herbst geht parallel mit der Weigerung Bayerns, die antirepublikanischen Umtriebe von rechts zu unterbinden. Zwar hat die KPD unter dem Druck der KomIntern mit dem bewaffneten Aufstand geliebäugelt, aber keinen Rückhalt in den vielbeschworenen »Massen« gefunden. Die Reichsregierung (mit dem Reichspräsidenten Friedrich Ebert (SPD) abgesprochen) löst das Problem wie üblich – sie verhängt die Reichsexekution über Sachsen und Thüringen, um die gegen rechts unzuverlässigen Reichswehrverbände nicht gegen Bayern schicken zu müssen.

Die KPD-Führung um Brandler und Thalheimer nimmt – in realistischer Einschätzung der Kräfteverhältnisse – relativ kampflos die Entmachtung der sächsischen und thüringischen Koalitionsregierungen durch die Reichsexekutive hin. Wahrscheinlich durch einen Kommunikationsfehler erreicht diese Entscheidung die KPD in Hamburg nicht [81]. Der gescheiterte Hamburger Aufstand der KPD vom 22. – 24. Oktober 1923 führt am 23. November zum reichsweiten Verbot nicht nur der KPD, sondern auch aller linksradikalen Organisationen einschließlich der FAUD, das bis zum 1. März 1924 andauert.[82]

In dieser Zeit gelingt es der Reichsregierung mit der Einführung der Rentenmark [83] (15. November), die bis in schwindelnde Höhen angestiegene Inflation in den Griff zu bekommen und der Weimarer Republik eine kurze ökonomische und politische Stabilitätsphase zu bescheren, die mit dem New Yorker Börsenkrach 1929 endet.

Die AAUE in Hamburg bricht während der Illegalität faktisch zusammen. Dies dürfte einer der Gründe sein, warum Roche zur Föderation Kommunistischer Anarchisten Deutschlands wechselt, um spätestens im Juli 1924 (wieder) in der FAUD aktiv zu werden.[84] Im FAUD-Verlag erscheint im selben Jahr seine Broschüre Der Proletarische Ideenmensch.[85]

Roche gehört zu den Initiatoren vom Block antiautoritärer Revolutionäre in Norddeutschland, der seit 1924 versucht, die radikale nichtbolschewistische Linke in Norddeutschland zumindest zu einer Aktionseinheit zusammenzufassen. In diesem Sinne ist auch die Konferenz des Bezirkes Nord-West der FAUD(S) vom 27. – 28. Dezember 1924 in Bremen gestaltet. Roche ist Referent der FAUD zum zentralen Thema: »Die Aufgaben der anti-autoritären Organisationen im Bezirk Nord-West«. An dieser Konferenz nehmen auch Vertreter der SAJD, AAUE, der IWW und der Hamburger Anarchisten teil [86].

1925 erscheint von Roche die Broschüre Arbeiterjugend und natürliche Ordnung [87]. Er schreibt regelmäßig für das FAUD-Organ Der Syndikalist, außerdem für die seit 1927 erscheinende theoretische Zeitschrift Die Internationale und andere syndikalistische Publikationen.

In seiner letzten größeren Veröffentlichung, dem 1929 als Artikelserie in Der Syndikalist erschienenen »Handbuch des Syndikalismus« [88] faßt er nochmal sein politisches Credo zusammen.

Seine letzten Lebensjahre ist Roche ein schwer kranker Mann. Er stirbt am 1. Januar 1931, wenige Monate nach seinem 68. Geburtstag. »Sein letzter Gruß, den er uns unmittelbar vor seinem Tode schrieb, enthielt ein Versprechen weiterer schriftstellerischer Mitarbeit, der seine letzte Sorge galt.«, heißt es in dem Nachruf, der im Syndikalist [89] erscheint. Und in der von Erich Mühsam herausgegebenen Zeitschrift Fanal schreibt Rudolf Rocker: »Seine rastlose Arbeit hat ihm nie Reichtum eingebracht; er ist als bitterarmer Proletarier gestorben, wie er immer gelebt hat.« [90]

Fußnoten:
1) Dies betrifft vor allem die – immer mal wieder reproduzierten – biographischen Angaben bei Hans Manfred Bock, demzufolge Roche »um die Jahrhundertwende als junger Seemann zur ‘Freien Vereinigung’ gekommen war« , und die auf einer Mitteilung von Augustin Souchys an Bock basieren (Bock 1969/1993a, S. 104; ebenso der Artikel Karl Roche auf der englischen Wikipedia ). Souchy hat ganz offensichtlich Roche mit Ernst Schneider (‘Icarus’) verwechselt.
2) Die Schreibweise – Carl oder Karl – variiert, vor allem in den Akten der diversen mit der Überwachung ‘subversiver Elemente’ betrauten Dienststellen. Roche selbst schreibt seit den 1890er Jahren in seinen Publikationen seinen Vornamen mit ‘K’.
3) Roche 1909b, S. 31; LaB, Apr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 31; genaueres zu den Kindern konnten wir bisher nicht ermitteln.
4) LaB A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 3
5) Roche 1909, S. 12 – er verließ die Schule wahrscheinlich mit 14 Jahren, möglicherweise als Waise oder Halbwaise; so läßt sich zumindest eine Bemerkung in Roche 1919c, S. 7, deuten: »Der junge Arbeiter, der mit 14 Jahren sich selbst überlassen und auf den Arbeitsmarkt geworfen wird … «
6) darauf weisen die Verurteilungen zwischen 1881 und 1886 sowie Bemerkungen in Einheitslohn, S. [7] und Zwei Sozialisierungsfragen, S. [6] hin.
7) StAHH PP 331-3 S 7762; LaB A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 3
8) Roche 1909b, S. 7
9) LaB A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 3 – ob der Verlust seines Auges krankheitsbedingt oder aufgrund einer Verletzung geschah, war bisher nicht zu ermitteln.
10) Roche 1909b, S. 7
11) Gegründet 1890, seit 1894: »Verband der Fabrik-, Land-, Hülfsarbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands« – siehe hierzu Festschrift 1913 und Schuster 2000;
12) StAHH PP 331-3 S 7762
13) Gegründet 1891 als »Verband der Bauhilfsarbeiter und verwandter Berufsgenossen« seit 1905: »Verband der baugewerblichen Hülfsarbeiter Deutschlands«; seit 1908: »Zentralverband der Bauhülfsarbeiter Deutschlands«; 1910 mit dem »Zentralverband der Maurer Deutschlands« zum »Deutschen Bauarbeiterverband« zusammengeschlossen – siehe Schuster 2000; s.a. Rütters – Zimmermann 2005, S. 44; 116 ff
14) siehe z.B. die auf der Internet-Seite des Archiv Karl Roche aufgeführten Versammlungshinweise und Artikel aus dem Verbands­organ Der Arbeiter
15) StAHH PP 331-3 S 7762
16) siehe StAHH PP 331-3 S 7762: »Roche war bereits vom 1/10. 01 bis 1/2. 02 hier [Luruperweg 58] gemeldet und hat sich am 11/2. 02 auf Wanderschaft und am 4./4. 02 nach Barmen abgemeldet.«
17) Albert Töpfer, Mitglied des Hauptvorstandes und Redakteur des Arbeiter, schrieb Roche am 21. 3. 1905: »Auf dem Verbandstag (in Leipzig, K.R.) wird man um die Anstellung von zwei oder drei Gauleitern nicht umhin können. Ebenso bedarf es noch einer tüchtigen Kraft im Hauptvorstand und wenn man das Blatt achtseitig schafft, (wozu nicht geringe Luft vorhanden ist), auch einen tüchtigen Redakteur. Da tritt wieder die Frage auf: Wen? Ueberfluß an wirklich tüchtigen Leuten haben wir ganz gewiß nicht. Ich darf mir wohl die Frage erlauben, wie Du Dich zu irgend einem der angedeuteten Posten stellen würdest?« (mitgeteilt bei KR, Ich bin des trockenen Tons nun satt; in: Einigkeit, Nr. 36, 4. 9. 1909)
18) Roche wohnte zu dieser Zeit in der Wiemelhauserstr.38a (heute: Universitätsstraße); im Vorderhaus (Wiemelhauserstr.38) wohnte Paul Runge, Parteisekretär des Sozialdemokratischen Volksvereins für den Wahlkreis Bochum-Gelsenkirchen-Hattingen-Witten (Adreßbuch der Stadt Bochum 1907)
19) Roche 1909, S. 7; StAHH PP 331-3 S 7762
20) StAHH PP 331-3 S 7762 [Schreiben der Polizeiverwaltung des Oberbürgermeisters von Bochum an die Polizeibehörde Hamburg, 20. 5. 1907]
21) Lebenshaltung und Arbeitsverhältnisse der Deutschen Bauhülfsarbeiter. Herausgegeben vom Hauptvorstand des Zentralverbandes der baugewerblichen Hülfsarbeiter Deutschlands, Hamburg 1908 – 76 S. (Verlag: Verband der Baugewerblichen Hülfsarbeiter Deutschlands Gustav Behrendt); Die Tarifverträge der baugewerblichen Hülfsarbeiter bis zum Jahre 1907. Verband der Baugewerblichen Hilfsarbeiter Deutschlands, Hamburg 1908. – 483 S. (Verlag: Verband der Baugewerblichen Hülfsarbeiter Deutschlands Gustav Behrendt); Zur Entwicklungsgeschichte des Verbandes der baugewerblichen Hilfsarbeiter Deutschlands. Mit einem Anhang über die bis Ende 1907 vom Verband abgeschlossenen Tarifverträge. Herausgegeben vom Zentralvorstand, Hamburg, 1909. – 76 S.; für die Autorenschaft und die Umstände der Entstehung siehe Roche 1909b, S. 11 – 14
22) Roche 1909, S. 11
23) einige biographische Angaben bei Schmit 1932, S. 1695 – allerdings eine völlig unkritische Eloge des amtierenden Grundstein-Redakteurs auf Töpfer.
24) Roche 1909, S. 10; Urteil des Schöffengerichts Hamburg vom 7. Mai 1910 gegen Fritz Kater und Karl Roche, in Auszügen mitgeteilt bei Karl Roche, Eine Nachlese; in: Einigkeit, Nr. 42, 15. 10. 1910
25) Roche 1909, S. 14 ff
26) Roche 1909, S. 29f.
27) Osdorf wurde 1927 nach Altona eingemeindet, das wiederum 1937 mit dem »Gesetz über Groß-Hamburg und andere Gebietsbereinigungen«, kurz »Groß-Hamburg-Gesetz«, zu Hamburg geschlagen wurde; siehe wikipedia Hamburg-Osdorf; wikipedia Groß-Hamburg-Gesetz
28) Roche 1909, S. 3
29) Die FVdG ging aus der lokalistischen Opposition innerhalb der sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften hervor. Ursprünglich aus revolutionären Sozialdemokraten bestehend, die den reformistischen Kurs der Zentralverbände der Generalkommission ablehnten, wurde den Lokalisten 1907 von der Partei das Ultimatum gestellt, innerhalb eines Jahres sich den Zentralverbänden anzuschließen oder aus der SPD rauszufliegen. Die eine Hälfte (etwa 8000 Mitglieder) unterwarf sich, während die andere Hälfte mit den Sozialdemokraten brach und sich rasch dem revolutionären Syndikalismus annäherte. Nach dem 1. Weltkrieg entstand aus ihr die »Freie Arbeiter-Union Deutschlands«. (siehe Aigte 1930/1931; Bock 1969 und 1993a; Kater 1912; Klan/Nelles 1990; Kulemann 1908; Rübner 1994; Vogel 1977; einen schnellen Überblick und reichen Materialfundus bietet zudem die Internet-Seite des Instituts für Syndikalismusforschung)
30) Roche 1909; die Broschüre wurde erstmals in der Einigkeit, Nr. 31/ 31. 7. 1909, angekündigt, ist also spätestens im Anfang August erschienen.
31) Der Bau-Hilfsarbeiter, Nr. 32, 7. 8. 1909
32) Hamburger Echo, Nr. 189, 15. 8. 1909
33) Der Bau-Hilfsarbeiter, Nr 35, 28. 8. 1909
34) Karl Roche, Heraus mit dem Flederwisch!; in: Einigkeit, Nr. 33, 14. 8. 1909
35) Karl Roche, Eine Nachlese; in: Einigkeit, Nr. 42, 15. 10. 1910; Hamburger Echo, Nr. 106, 8. 5. 1910; Hamburger Echo, Nr. 213, 11. 9. 1910
36) Urteil des Schöffengerichts Hamburg vom 7. Mai 1910 gegen Fritz Kater und Karl Roche, in Auszügen mitgeteilt bei Karl Roche, Eine Nachlese; in: Einigkeit, Nr. 42, 15. 10. 1910
37) zum »Reichsverband« siehe Fricke 1970
38) Lübecker Volksbote, Nr. 177, 1. 8. 1910
39) LaB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 31
40) Der Bau-Hilfsarbeiter, Nr. 2, 8. 1. 1910
41) Kampf. (Unabhängiges) Organ für Anarchismus und Syndikalismus; erschien von 1912 bis 1914 in Hamburg; mit Sicherheit stammt der mit »K. R.« gezeichnete Artikel »Evolution rückwärts« (Jg. 1, Nr. 2, August 1912, Beiblatt, [S. 7 – 8]) von Roche; der mit »R.« gezeichnete Artikel »Aus der journalistischen Düngergrube am Speersort« (ebd., [S. 8] ist nicht sicher Roche zuzuordnen, sein Sprachstil macht es aber wahrscheinlich).
42) zum Konzept der Arbeiterbörsen siehe Barwich [1923]
43) Rübner 1996, S. 75; zu den Aktivitäten der syndikalistischen Seeleute kurz vor dem 1. Weltkrieg siehe Mohrhof 2008
44) offiziell vom Bremer Delegierten Franz Martin auf dem 11. Kongreß der FVdG im Mai 1914 vorgeschlagen; siehe Rübner 1996, Anm. 35
45) Rübner 1996, Anm. 35
46) Rübner 1996, S. 77
47) Diogenes, »Die Ohnmacht der Sozialdemokratie im Deutschen Reichstag, eine Wanderung durch die Berichte der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion« (Berlin 1912; Verlag Fritz Kater); wir halten die von Angela Vogel vermutete Auflösung des Pseudonyms (siehe Vogel 1977, S. 252, Anm. 26) nach Durchsicht der unter dem Namen Diogenes publizierten Artikel in der Einigkeit und im Pionier für überzeugend. Roche benutzte dieses Pseudonym später auch noch im Syndikalist.
48) Thorpe 1978, S. 57; Thorpe 1989, S. 69 ff – Roche verfaßte auch den Kongreßbericht für die FVdG, der in derEinigkeit(11. und 18. Oktober 1913) und im Pionier (15 Oktober 1913) erschien. – Zusammenfassend zum Kongreß: Thorpe 1978, Thorpe 1989
49) LaB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 19 & 20
50) siehe die Dokumentation Den Kapitalismus muß man nicht totglauben, den Kapitalismus muß man totkämpfen. Karl Roche und die Genossenschaftsfrage 1911 – 1914; in: barrikade, Nr. 7/April 2012, S. 26 – 29.
51) Bock 1969; Rübner 1994; Aigte 1930/1931
52) Das Weitererscheinen des »Mitteilungsblatt« verboten!; in: Rundschreiben, Nr. 1, 15. 6. 1915
53) Rundschreiben, Nr. 47, 15. Mai 1917
54) LaB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 29; Bl. 31
55) LaB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 29; Bl. 32
56) LaB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 29; Bl. 33
57) Fricke war vor dem Krieg Verleger und verantwortlicher Redakteur des Kampf bis Nr. 10
58) Hat Roche, wie wir in der ersten Fassung dieser biographischen Skizze noch ziemlich überzeugt behauptet haben, zum Untergrundnetz der FVdG gehört, das den Zusammenhalt der Syndikalisten für die Zeit nach dem Kriege erfolgreich sicherte? Den oben zitierten Überwachungsakten zufolge hat er sich bis zu seinem Umzug nach Hamburg von der Bewegung ferngehalten. Roche hatte sich während der Zeit beim Hautvorstand des »Verbandes« Rheumatismus in den Beinen zugezogen und demzufolge in seiner Mobilität eingeschränkt (siehe Roche 1909, S. 8f.); eine der wenigen Versammlungen der Hamburger FVdG fand am 8. Juli 1917 statt, an der 56 Personen, überwiegend Werftarbeiter, teilnahmen; Fritz Kater, der ursprünglich dort sprechen sollte, konnte nicht kommen; siehe Ullrich 1976 (Band 2), S. 153, Anm. 34.
Ob Roche Kontakt zur linken Opposition in der Hamburger SPD um Laufenberg und Wolffheim hatte, die später an der Gründung der KPD wie der KAPD führend beteiligt waren, konnte bisher nicht ermittelt werden.
59) Zeugnis der Vulcan Werke, vollständig zitiert in Isegrim (d. i. Karl Roche), An der Unterweser; in: Syndikalist, Jg. 6, Nr. 30, 26. Juli 1924, Beilage;
60) LaB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16490, Bl. 37
61) Die Umbenennung hatte der 11. Kongreß der FVdG im Mai 1914 beschlossen, seine Umsetzung wurde allerdings durch den Kriegsausbruch und das Verbot verhindert; siehe Rübner 1996, S. 82, Anm. 58
62) Syndikalist, 1. Jg. 1918/19, Nr. 7
63) Syndikalist, 1. Jg., 1918/19, Nr. 14
64) siehe etwa Kuckuk 1996, S. 22
65) alle vier Broschüren sind nachgedruckt in Roche 2009
66) vollständig zitiert in Isegrim (d. i. Karl Roche), An der Unterweser; in: Der Syndikalist, Jg. 6, Nr. 30 (26. Juli 1924), Beilage
67) Politische Polizei Hamburg – Wochenbericht Nr. 9 vom 13. 10. 1919; zitiert auf der Webseite des AKR: http://archivkarlroche.wordpress.com/2009/05/03/der-hetzer-roche/
68) Die unionistische Bewegung entstand spontan in der ersten revolutionären Nachkriegsphase. Sie orientierte sich theoretisch mehrheitlich am revolutionären Marxismus, organisatorische Grundlage war die berufsübergreifende Betriebsorganisation (im Bergbau die Schachtorganisation); aufgebaut war sie in der Regel nach dem Räteprinzip. Ein kleinerer Teil der Unionisten schloß sich im Dezember 1919 mit der FVdG zur FAUD zusammen, die Mehrheit beteiligte sich am Gründungsprozeß der AAUD, während eine weitere Strömung (»Union der Hand- und Kopfarbeiter«) sich zeitweilig der KPD annäherte (die darüber nicht immer sehr glücklich war). Aus dieser Strömung entstanden nach 1925 die »Revolutionären Industrie-Verbände«. (Bock 1969; Bock 1993a; Bötcher 1922; Hermberg 1922; Langels 1989; siehe auch Bärhausen u.a. 1986, S. 8)
69) Die Hamburger KPD gehörte fast vollständig zur antiparlamentarisch-antigewerkschaftlichen Opposition gegen die Berliner Zentrale; siehe KPD, 3. Parteitag
70) Bock, Böttcher
71) Der Gründungsparteitag der KAPD fand am 4. und 5. April 1920 in Berlin statt.
72) siehe Bock 1969 und Bock 1993a, S. 188ff; Siegfried 2004, S. 128f.
73) Bekannte Vertreter sind, neben Roche (Hamburg), der Herausgeber der Berliner Aktion, Franz Pfempfert, und Otto Rühle (Dresden).
74) siehe Die 3. Reichskonferenz der AAUD, 12. – 14. Juni 1920 in Leipzig. Eingeleitet und bearbeitet von Jonnie Schlichting; in: barrikade Nr. 7/April 2012, S. 34 – 39.
75) siehe Bock 1969 und Bock 1994a, S. 214f; zu Hamburg siehe auch: Partei oder Gewerkschaft; in: Alarm, Jg. 3/1921, Nr. 19
76) Angress 1972, S. 139ff; Bock 1969/1993a, S. 295ff
77) Zeitdokument; in: Alarm, Jg. 3/1921, Nr. 17
78) so spricht Roche am 27. 11. 1921 auf einer Veranstaltung der FAUD zur Ermordung des spanischen Ministerpräsidenten Dato durch zwei CNT-Genossen über die Leiden der Festungsgefangenen in Gefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel; siehe: ZPSt. – Bericht # 105 – 29.11.1921
79) siehe Siegfried 2004, S. 129
80) siehe Bock 1969 und Bock 1993a, S. 214f
81) siehe Voß 1981
82) siehe Voß u.a. 1981
83) Eine Rentenmark = 1 Billion Papiermark; 1 US$ = 4,20 Rentenmark
84) Der erste von Roche signierte Artikel im Syndikalist erschien schon in der Ausgabe 43/44 (4. November) 1923 – gleich nach den KPD-Putsch vom 23. Oktober in Hamburg: »Die Opfer einer politischen Narrheit«.
85) Roche 1924
86) Die Konferenz des Bezirks Nordwest der FAUD und der Block antautoritärer Revolutionäre.Bremen am 27. und 28. Dezember 1924 – Eine Dokumentation. Eingeleitet und bearbeitet von Jonnie Schlichting; in: barrikade Nr. 4/Dezember 2010, S. 15 – 22.
87) Roche 1925
88) Roche 1929; in: Syndikalist, Nr. 15, 15. 4. 1929 ff
89) Karl Roche [Nachruf]; in: Syndikalist, Jg. 11, Nr. 2, 10. 1. 1931 [http://www.syndikalismusforschung.info/rochetod.htm]
90) R [Rudolf Rocker?], Karl Roche; in: Fanal, Jg. 5 (1930/1931), Nr. 5, Februar 1931, S. 119 [http://archivkarlroche.wordpress.com/archiv-karl-roche/nachruf-aus-fanal/]

Originaltext: http://archivkarlroche.wordpress.com/2012/10/29/wer-war-karl-roche-2/

Otto Rieger (1879-?)

Danzig, Stettin, Seemaschinist, trat vor 1914 dem syndikalistischen
Industrieverband bei; 1917-1919 USPD; danach, sowie Hermann Knüfken*, Seemannsbund (DSB), Redakteur des Seemannsbundes, setzte sich für eine Zusammenarbeit mit der AAUD.
1920 als „lästiger Ausländer“ aus Danzig ausgewiesen, gelangte über Bremerhaven nach Stettin; 1921 internationaler Sekretär des DSB (Deutscher Schiffahrtsbund), der in Hamburg Die Schiffahrtswarte veröffentlichte. Im Mai 1922 unter seiner Führung Abspaltung als Seemannsunion und Anschluss an der FAUD, sowie im Herbst 1923 als deutsche Sektion der IWW, „im Namen von 1.000 Hafenarbeitern und Seeleuten“. 1926 Propagandatour für die IWW in Norddeutschland.
Um die Jahreswende 1923/1924 fand in Stettin ein langer Streik statt, bei dem bis zum 8. Februar 1924 genau 124 Schiffe mit einer Mannschaftsstärke von insgesamt 2.000 Seeleuten festgesetzt werden konnten. Die deutsche Sektion der IWW in Stettin bestand bis zu ihrer Auflösung 1933 durch die Nazis. In den Jahren um 1930-1932 erschien dort die Zeitung Der Marine-Arbeiter – Organ der deutschen Sektion der IWW.

Quelle: „Proletarier Deutschlands! Tretet ein in die ‚Allgemeine Arbeiter-Union‘, die deutsche Organisation des ‚Verbandes der
Industriearbeiter der Welt‘“, KAZ Hamburg, Nr. 104, 1919; Hartmut Rübner, Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarchosyndikalismus, Libertad Verlag, Berlin/Köln 1994; Reiner Tosstorff, Profintern: Die Rote
Gewerkschaftsinternationale 1920-1937, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2004; Peter Kuckuk/Ulrich Schröder, Bremen in der deutschen Revolution 1918/1919, Edition Falkenberg, Bremen 2017.

Ernst Rieger (* 10.6.1875 – † 1947)

Berlin, Bürovorsteher, geboren in Lautenburg (Westpreußen); 1895-1914 SPD; nach 1903, Mitglied der syndikalistischen Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVdG); 1915 Spartakusbund, 1917 USPD; Delegierter von Berlin Hohenschönhausen auf dem Gründungsparteitag der KPD (30.-31. Dezember 1918/1. Januar 1919), bekämpft jegliche bürgerlich-demokratische Phraseologie sowie jeglichen Wahlkampf:
„Wir müssen uns frei machen von der Phrase der Demokratie im althergebrachten vergifteten Sinne. Es ist nicht Demokratie, wenn wir zwar gleiches Wahlrecht haben, aber im Übrigen kein gleiches soziales Recht… Wir müssen Mut haben, zu bekennen, welchen reaktionären Zwecken die Nationalversammlung dienen soll, nämlich, die Arbeiterräte illusorisch zu machen“.
Er stellt auch der Reichskonferenz den wichtigen linksradikalen Antrag vor:
„Die Tarifvertragspolitik der gewerkschaftlichen Zentralverbände, die Abwürgung der Streiks und die systematische Unterbindung des sozialen Befreiungskampfes des Proletariats durch die
Gewerkschaftsbürokratie, sowie die ablehnende, ja feindliche Haltung der Verbandsführer gegen die sofortige Inangriffnahme der Sozialisierung der Produktionsmittel sind in ihrer Wirkung staatserhaltend und darum revolutionsfeindlich. Die Zugehörigkeit zu solchen Gewerkschaftsverbänden ist deshalb unvereinbar mit den Zielen und den Aufgaben der Kommunistischen Partei Deutschlands. Für die Führung der wirtschaftlichen Kämpfe und zur Übernahme der Produktion nach dem Sieg der sozialen Revolution ist vielmehr die Bildung revolutionärer, örtlich begrenzter Arbeiterorganisationen (Einheitsorganisation) notwendig. Diese Kampforganisationen haben ihre Tätigkeit im besten Einvernehmen mit der Kommunistischen Partei und den zentralen Streikkommissionen auszuüben, und die kommunistische Produktion vorzubereiten und durchführen zu helfen“.
1919 AAU und April 1920 KAPD. Er fordert im Juni 1920 den Zusammenschluss der Linkskommunisten mit den Syndikalisten (FAUD). Ab 1924-1925 in der FAUD tätig. 1933-1945 nicht verfolgt, trat er 1945 der KPD, danach 1946 der SED bei.

Quellen: Hermann Weber, Die Gründung der KPD. Protokoll u. Materialien des Gründungsparteitag der KPD 1918/1919, Dietz Verlag, Berlin,
1993, S. 159, 338-339; Biographische Datenbanken: https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de; Hartmut Rübner, Freiheit und Brot. Die
Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarchosyndikalismus, Libertad Verlag, Berlin/Köln, 1994, S. 241.

Otto Reimers (* 17.9.1902 – † 22.10.1984)

Hamburg, Bauarbeiter, Bauleiter, geboren in Grambek bei Mölln (Schleswig-Holstein), AAU, ab 1922 AAUE um die Zeitschrift
Proletarischer Zeitgeist, 1930 Anarchist, 1933 illegale Arbeit; 1945 Herausgeber anarchistischer Zeitungen, mit Alfred Weiland* Herausgeber von Neues Beginnen.
Als ältester von fünf Geschwistern musste Reimers nach Beendigung der Schule bereits anfangen zu arbeiten; er tat dies bei Waldarbeitern und Bauern um die finanzielle Situation der Familie zu erleichtern. In den 1920er Jahren wurde Reimers in der antiautoritären Arbeiterbewegung aktiv. 1920-1921 hatten die Hamburger Unionisten den Beitritt bei der KAPD und der Komintern abgelehnt und schlossen sich der AAU-E Otto Rühles* und Franz Pfemferts* an. 1923/24 suchte die AAU-E verstärkt die Zusammenarbeit mit der anarcho-syndikalistischen FAUD und
der IAA. Im Jahre 1926 gründete er mit Karl Matzen*, Karl Roche* und Ernst Fiering* in Hamburg den Block antiautoritärer Revolutionäre, bestehend aus Anarchosyndikalisten, Anarchisten, Unionisten und Individualanarchisten. Sprecher bei den Treffen waren u.a. Pierre Ramus, Ernst Friedrich, Helmut Rüdiger und Rudolf Rocker. Zusammen mit Paul Schöß* übernahm er 1926 den Vertrieb der Zeitschrift Proletarischer Zeitgeist (1922–1933) von der Allgemeinen Arbeiter-Union (AAU) und arbeitete an der Zeitschrift Die freie Gesellschaft mit.
Nach der Machtübernahme der Nazis musste Reimers gezwungenermaßen mit seiner Arbeit für Zeitschriften aufhören. In der Illegalität nach Februar 1933 konnte die Hamburger Gruppe fast monatlich bis Mitte 1934 die zwölfseitige Schrift Mahnruf herausgeben. Den II. Weltkrieg verbrachte Reimers hauptsächlich damit, die durch Bombenangriffe beschädigten U-Bahn-Schächte und -Tunnel, sowie die Hochbahn Hamburgs wiederaufzubauen, da sein Arbeitgeber immer wieder seine Freistellung vom Kriegsdienst
erreichen konnte.
Nach Kriegsende war Reimers aktiv als Herausgeber der ersten anarchistischen Zeitschrift in Deutschland, Mahnruf; publiziert einige Wochen nach Kriegsende (Mai bis Dezember 1945).
Reimers wollte mit dem Mahnruf zur Gründung einer neuen anarchistischen Bewegung beitragen. Die gehoffte Resonanz blieb allerdings aus. Außerdem war er Herausgeber der Zeitschriften Information, anarchistische Gedanken und Betrachtungen zur Geschichte, Literatur und Politik der Gegenwart; zusammen mit Heinrich Freitag und Walter Stöhr (1956–1961). In den Jahren 1955 bis 1959 war er auch Herausgeber des deutschsprachigen, internationalen anarchistischen Mitteilungsblattes C.R.I.A.
(Commission des Relations Internationales Anarchistes).
1959 wurde der Bund freier Sozialisten und Anarchisten auf einem Anarchistenkongress in Neviges gegründet wobei Reimers einer der Mitinitiatoren des Kongresses war. Er war Mitglied der Föderation freiheitlicher Sozialisten (FfS). Beiträge aus linksliberaler, demokratischer und freier sozialistischer Sichtweise brachte seine
Zeitschrift Neues Beginnen (1969–1971). Die von Reimers redigierte Publikation Zeitgeist – für sozialen Fortschritt, freien Sozialismus, Kultur und Zeitgeschehen erschien von 1971 bis 1974. Sie fusionierte später mit der von Heiner Koechlin herausgegebenen Zeitschrift Akratie, in der auch der Anarchosyndikalist Willi Paul veröffentlichte.
Neben seiner Tätigkeit als Herausgeber war er auch Autor zahlreicher Artikel. Wolfgang Haug veröffentlichte einen Nachruf auf Otto Reimers, Das politische Engagement war ihm Berufung und Verpflichtung, in der Zeitschrift Schwarzer Faden (Nr. 16, April 1984, S. 56). Im Verlag Walter Stöhr erschien von 1969 bis 1971 die anarchistische Zeitschrift neues beginnen, herausgegeben von Otto Reimers in Hamburg. Der Untertitel lautete: Beiträge zur
Zeitgeschichte, Kultur und Politik aus linksliberaler–demokratischer und freier sozialistischer Gesinnung; eine Publikation von antiautoritären Sozialisten. Vorgestellt wurde das Blatt mit
den Worten: „Vertritt den humanistischen–demokratischen Sozialismus. Wendet sich gegen die Verketzerung des Wortes und der Weltanschauung des Anarchismus“. Und: „Die Zukunft
darf nicht mehr der Gewalt gehören, sondern dem Mit- und Nebeneinander aller Menschen“.
Neues beginnen erschien zweimonatlich mit einer Auflage von 600 Exemplaren. Nachfolger war die Zeitschrift Zeitgeist. Bereits 1960 wurde die gleichnamige anarchistische Publikation neues beginnen herausgegeben von Karl Blauert in Iserlohn. Die Zeitschriften Information und Befreiung sollten zusammengelegt werden mit neues beginnen.
Wegen interner Meinungsverschiedenheiten auf dem Anarchistenkongress in Neviges wurde das Projekt eingestellt und realisiert von Reimers in 1969 indem er neues beginnen fortsetzte.
Otto Reimers ist 1984 in Laufenburg gestorben.

Quellen: Günter Bartsch, Anarchismus in Deutschland: 1945-1965, Band l, Fackelträger, Hannover 1972; Mahnruf: Widerstand im Dritten
Reich, Schwarzer Faden Nr. 3, 1981; Georg Hepp, Otto Reimers zum Gedenken (1900-1984), Die Freie Gesellschaft, Heft 13/14, 1985, S. 94-
96; Michael Kubina, Von Utopie, Widerstand und Kaltem Krieg. Das unzeitgemäße Leben des Berliner Rätekommunisten Alfred Weiland
(1906-1978), LIT Verlag, 2000, S. 258.

August Ernst Reinhold Merges alias Krummer August (* 3.3.1870 – † 6.3.1945)

Novemberrevolution in Braunschweig, 8. November 1918: die Delegation des Arbeiter- und Soldatenrates (v. l. n. r.: Friedrich Schubert, Henry Finke, August Merges, Paul Gmeiner, Hermann Schweiß und Hermann Meyer)

Expedient, Herausgeber und Redakteur, Sohn eines Fleischers, Schneider, Braunschweig, geboren in Malstatt-Burbach bei Saarbrücken. Während der Wanderschaft wurde er Mitglied der SPD und arbeitete später hauptamtlich als Ökonom des Gewerkschaftshauses in Alfeld.
1906 hörte er auf, in seinem Beruf zu arbeiten, und war als bezahlter Funktionär für die SPD in Hildesheim und Alfeld an der Leine tätig. Dort verwaltete er das Gewerkschaftshaus.
Merges wurde in Delligsen von 1908 bis 1910 für die SPD in den Gemeinderat gewählt und trat als erfolgreicher Agitationsredner auf.
1911 zog er mit seiner Familie nach Braunschweig, wo er zunächst eine Kunststopferei betrieb. Er arbeitete dann als Anzeigenwerber für den Braunschweiger Volksfreund und wurde Herausgeber und Redakteur dieser sozialdemokratischen Zeitung.
Er kämpfte energisch die Kapitulation der Sozial-Demokratie im August 1914. Anfang 1915 gründete August Merges, mit Sepp Oerter (1870-1928) und August Thalheimer (1884-1948) den „Braunschweiger Revolutionsclub“. Er stand den Spartakisten nahe. Über Thalheimer und Merges bestand Kontakt zur Berliner Spartakisten-Zentrale.
Dem „Revolutionsclub“ gehörten ca. 15 Personen an, die in Opposition zur Kriegsunterstützung des SPD-Vorstandes standen. Die Hälfte der Mitglieder waren Funktionäre der SPD und der Gewerkschaft, die andere Hälfte oppositionelle Jugendliche aus dem „Bildungsverein jugendlicher Arbeiter und Arbeiterinnen“.
Anfang 1916 nannte sich der „Revolutionsclub“ in „Spartakusgruppe Braunschweig“ um. Die Gruppe konnte ihre Leitsätze in den Versammlungen der SPD vortragen und diskutieren und wurde so schnell zum bestimmenden Faktor innerhalb der Partei. In fast allen Betrieben gelang es, Vertrauensleute des Spartakus zu etablieren. Im selben Jahr wurde Merges wegen „antimilitaristischer Aktivitäten gegen den Krieg“ in „Schutzhaft“ genommen.
1917 wurde Merges Mitglied der USPD (die in Braunschweig im Gegensatz zum Reich die Mehrheit stellte). Er war gleichzeitig Mitglied des Spartakusbundes und arbeitete aktiv bei den Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD) mit.
1917-1918 leitete Merges eine von den Spartakisten gegründete „Deserteurzentrale“, die Deserteuren Unterschlupf gewährte und sie mit gefälschten Pässen und Lebensmittelmarken versorgte. Am 3. November sprach er auf einer illegalen Protestkundgebung auf dem Leonhardtplatz in Braunschweig, mit ca. 1.000 Teilnehmern.
Merges hatte als geschickter Redner und Agitator massiven Einfluss auf das Proletariat im Freistaat Braunschweig. Er besetzte er am 8. November 1918 gegen 7 Uhr morgens mit einer Gruppe Bewaffneter das Volksfreund-Haus der SPD, wodurch sich die Linksradikalen ein eigenes Sprachrohr verschafften. Am Nachmittag desselben Tages erzwangen Merges und andere die Abdankung des letzten braunschweigischen Welfen-Herzogs Ernst-August, der die Stadt am folgenden Tage zusammen mit seiner Familie ins Exil verließ. Der Arbeiter- und Soldatenrat übernahm daraufhin die politische Führung in Braunschweig,
sein Vorsitzender war der „Husar Schütz“. Bereits zwei Tage später, am 10. November 1918, wurde eine Alleinregierung der USPD durch den Arbeiter- und Soldatenrat ausgerufen. Die „Sozialistische Republik Braunschweig“ wurde proklamiert, und August Merges wurde auf Vorschlag von Sepp Oerter zu ihrem Präsidenten ausgerufen. Der Sozialistischen Republik Braunschweig gehörten folgende acht „Volkskommissare“ an: Minna Faßhauer (Volksbildung, die einzige Frau), Karl Eckardt (Arbeit), Gustav Gerecke (Ernährung), August Junke (Justiz),
Michael Müller (Verkehr und Handel), Sepp Oerter (Inneres und Finanzen), Gustav Rosenthal (revolutionäre Verteidigung) und August Wesemeier (Stadt Braunschweig).
Am 23. November 1918 nahm Merges an der Reichskonferenz des Rates der Volksbeauftragten in Berlin teil. Zusammen mit dem Vertreter aus Gotha stimmte Merges als einziger gegen die Einberufung einer Nationalversammlung. Bei der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 wurden als Vertreter für Braunschweig Oberlandesgerichtsrat August Hampe, Rechtsanwalt Dr. Heinrich Jasper und August Merges bestimmt.
Bei der Konstituierung der Nationalversammlung in Weimar hielt er eine scharfe Rede gegen die Reichsregierung Ebert-Scheidemann. Bereits am 22. Februar 1919 legte er sein Mandat in der Nationalversammlung nieder und schied aus der Regierung in Braunschweig aus, weil er die „Revolution durch den Parlamentarismus verraten“ sah. Nach Einmarsch der Truppen des Generals Maercker Mitte April 1919 tauchte Merges unter und lebte eine Zeitlang illegal, flüchtend nach Berlin.
Er verließ die USPD und schloß sich der KPD an, stand aber nach dem II. Heidelberger Parteitag im Herbst 1919 in Opposition zur Zentrale unter Paul Levi, Clara Zetkin und Wilhelm Pieck.
1920 trat Merges aus der KPD aus und führte die Mehrheit der Braunschweiger KPD Mitte 1920 in die KAPD. Im Juli 1920 reiste er mit Otto Rühle zum II. Weltkongreß der Komintern nach Moskau.
Merges und Rühle lehnten die von Karl Radek entworfenen „Leitsätze über die Grundaufgaben der Kommunistischen Internationale“ ab, die auf dem Kongress beschlossen werden sollten und Bedingungen zur Aufnahme in die Komintern enthielten. Sie reisten deshalb schon vor Beginn des Kongresses wieder ab. Noch auf dem Rückweg erreichte sie eine erneute Einladung des Exekutivkomitees, mit der Zusicherung, dass die KAPD das volle Stimmrecht bekomme, ohne dass dafür Forderungen irgendeiner Art zu erfüllen seien. In einem Schreiben, das Merges aus Rußland von einem Kongreßteilnehmer erhalten und das er den Mitgliedern der KAPD bekanntgegeben hatte, wurde mitgeteilt: „Als Levi in Moskau erfahren hatte, Rühle und Merges seien mit beratender und beschließender Stimme zugelassen da stellte der Levi namens der deutschen Delegation das Ultimatum: die Levileute würden den Kongreß verlassen, falls Rühle und Merges auf dem Kongress erscheinen sollten!“.
Nach seinem Rückkehr nach Deutschland, erklärte Merges in mehreren Vorträgen in verschiedenen Städten: „Rußland ist zwar das Land, das als erstes die soziale Revolution durchgeführt hat, es wird aber das letzte Land sein, das den Sozialismus durchführt“.
Im Oktober 1920, war Rühle (und vielleicht auch Merges), aus der KAPD ausgeschlossen. August Merges machte doch während des Februar 1921 Parteitages der KAPD in Gotha eine günstige für Rühle Unterstützungsintervention (und eine zweite Intervention über die Frauenfrage).

In Braunschweig trat er nicht in die AAU, sondern die FAU, danach 1921 in die anti-autoritäre AAU-E ein. August Merges und Minna Faßhauer, näherten sich auch der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter-Union an und traten als Redner in deren Versammlungen auf. In den Jahren der Weimarer Republik war er mehrmals angeklagt u. a. auf Herausgabe der Abdankungsurkunde des Herzogs von Braunschweig und wegen illegaler Waffenverstecke.
Merges, der aktives Miglied der Roten Hilfe in Braunschweig war, leitete 1926 eine kleine Gruppe von ehemaligen KAPD-Genossen (Franz Pfemfert*, Oskar Kanehl*), die sich Spartakusbund Nr. 2 nannte und auch Kontakte zu Erich Mühsam hatte.
Zur Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 schrieb Merges ein Flugblatt mit dem Titel Hitler bedeutet Krieg und Untergang, welches sein Sohn Walter und Oswald Berger druckten und vor dem Arbeitsamt verteilten. Es wurden bei ihm zahlreiche Hausdurchsuchungen vorgenommen und viele seiner Bücher beschlagnahmt.
1934 nahmen August Merges und Minna Faßhauer* an der Kommunistische Räte-Union teil. Diese begann diverse Flugschriften herzustellen und zu verteilen (Kampfsignal, Der Rote Rebell, Die braune Pest…), an denen auch Merges mitgearbeitet hatte. Am 27. Mai 1935 wurde Merges verhaftet und am 7. Oktober 1935 durch das Oberlandesgericht Braunschweig zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt, er war u. a. in Wolfenbüttel inhaftiert und schweren Mißhandlungen ausgesetzt. Am 20. Dezember 1937 entlassen, stand er bis zu seinem Lebensende unter Polizeiaufsicht.
Am Morgen des 6. März 1945 wurde August Merges in seinem Garten in Braunschweig tot aufgefunden.

Quellen: Kommunismus im Allgemeinen, insbes. KPD und Nebenorganisationen, Band 2, 6. Juni – 21. Oktober 1921 (BArch, R 1507/2053);
Hans Manfred Bock, Syndikalismus und Linksradikalismus. Von 1918 bis 1923. Zur Geschichte und Soziologie der Freien Arbeiter-Union
Deutschlands (Syndikalisten) der Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands und der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands,
Meisenheim am Glan 1969; Peter Berger, Brunonia mit rotem Halstuch. Novemberrevolution 1918/19 in Braunschweig, Hannover 1979;
Olaf Gebhard: Die Räteherrschaft in Norddeutschland zwischen Kriegsende und Weimarer Republik, Masterarbeit, Braunschweig 2010/2011;
SAPMO Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Lebenslauf Alfred Merges, Zittau, 30.3.1970, An das Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin
(SgY 30/0623); Biographische Datenbanken: https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de; „August Merges“,
http://www.linkfang.de/wiki/August_Merges#cn-Bock-7

Heinrich Melzer alias Willi, Fritz Bielefeld (* 1890 – † 1967)

Kesselschmied, Tiefbauarbeiter;
1910-1913, Heizer in der Marine, 1914-1918, Marinesoldat; 1918 Teilnahme an der Hamburger Revolution, 1920 Kommandant der Roten Ruhr-Armee, 1920-1922 Sekretär des SDB (Deutscher Seemannsbund), die Union der deutschen Seeleute, Stettin; 1922-1929 Geschäftsführer der FAUD (Rheinland); 1930-1940 Rechtsvertreter eines Kriegs- und Arbeitsopfer-Verbandes; 1933-1945 Berufsverbot und Verhaftung.
1945 einer der Gründer des Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) für das Mülheimer Stadtgebiet. Als Vertreter der KPD gehörte er vom 3. August bis zum 21. Dezember 1945 dem ernannten Bürgerausschuss der Stadt Mülheim an. Melzer wurde zum Kreisvorsitzenden des DGB gewählt und blieb in diese Funktion bis 1954. Aus „Enttäuschung  über die politisch-gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik“, zog er sich nach seiner
Pensionierung 1954 aus dem politischen Leben zurück. Am 14. März 1972 wurde in Mülheim eine Straße in der Nähe des Rathauses nach ihm benannt (Heinrich-Melzer Str.).

Quellen: Hermann Knüfken, Von Kiel bis Leningrad, BasisDruck, Berlin, 2008, S. 460;

https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Melzer

Karl Matzen

AAUE Groß-Hamburg, danach FAUD. Im Jahre 1926 gründete er mit Otto Reimers*, Karl Roche* und Ernst Fiering* in Hamburg den „Block antiautoritärer Revolutionäre“, bestehend aus Anarchosyndikalisten, Anarchisten, Unionisten und
Individualanarchisten.
Quellen: Karl Matzen: „Ein gelungenes Experiment“, Die Aktion Nr. 4/6, 15. März 1925, S. 160-161;
https://muckracker.files.wordpress.com/2012/06/barrikade-4.pdf.

Zwei Tarifverträge!

Zwei Tarifverträge!

Es soll hier nicht etwa die Frage für oder gegen Tarifverträge zur Debatte gestellt werden, sondern wir wollen nur folgend dem Hinweis in No. 2 des „Pressedienstes“ handeln. Die Monopolvormachtstellung der reformistischen Zentralorganisationen in Deutschland bei Abschlüssen von Tarifverträgen, mit ihren Klasseneinteilungen und Ausschaltungen
der davon betroffenen Arbeiterschaft macht es notwendig, dass wir uns mit dieser Angelegenheit beschäftigen und gebe ich deshalb zur besseren Information, Auszüge aus dem Reichstarif für das Hoch- u. Tiefbaugewerbe in Deutschland und lasse mich dabei von dem Gedanken leiten, das diese Auszüge besser überzeugen, als wie dies mit einer einfachen Beschreibung geschehen kann.
Im Gegensatz zu dem reformistischen Vertrag gebe ich einige Auszüge aus dem Tarifvertrag einer Fachgruppe (syndikalistische Fliesenleger Düsseldorf), die der syndikalistischen Bauarbeiter Föderation Deutschlands angeschlossen ist. Aus der Gegenüberstellung beider Tarifverträge, zeigt sich bei dem letzteren ganz offen der Charakter der Klassenkampforganisation, wo trotz kollektiven Tarif jeder davon betroffene Arbeiter unmittelbarer Träger des Abkommens ist.

Reichstarifvertrag für Hoch-, Beton-, Tiefbauarbeiten
zwischen den Arbeitgeberverbänden des deutschen Reiches
und den Spitzenverbänden der Arbeitnehmer, dem deutschen Baugewerksbund, dem Zentralverband der Zimmerer u. verwandter Berufsgenossen, dem Zentralverband christlicher Bauarbeiter, dem Zentralverband der Maschinisten und Heizer sowie Berufsgenossen
Deutschlands.

Anmerkung zum Geltungsbereich:
In diesem Abschnitt des § 1. Absatz 5, zeigt sich die Monopolstellung der reformistischen Organisationen durch ihre staatliche Anerkennung, aber auch gleichzeitig die völlige Ausschaltung der
Arbeiterschaft selbst, bei der Regelung der Lohn u. Arbeitsbedingungen. Denn durch die staatliche Allgemein-verbindlichkeitserklärung des betreffenden Tarifvertrages, schalten individuell abgeschlossene Arbeitsverträge bei der Betrachtung der
Klagefähigkeit aus, sobald die gegenpartei also der Unternehmer Mitglied der tariftragenden Organisation ist. Der § 5, welcher den Arbeitslohn in Klassen einteilt, kann wegen seiner Länge nur teilweise gegeben werden. So sagt der Abschnitt 2 des § 5: Der Stundenlohn ist unterschiedlich festzusetzen für alle Arbeiter-Gruppen bis zum vollendeten 19. Lebensjahr und über 19 Jahre (Vollarbeiter). Dann staffelt man die Löhne der Facharbeiter vom 16-19. Lebensjahr, und setzt für Hilfsarbeiter in derselben Altersklasse den Lohn um 17% niedriger als wie in den jeweiligen Stufen der Facharbeiter. Die Hilfsarbeiter (Voll- wie jugendliche Arbeiter) teilt man dann wiederum in zwei Klassen und zwar für den Hoch u. Tiefbau, bei letzteren ergibt sich der Unterschied aus der Entlohnung, denn der Tiefbauarbeiter liegt 20-25 % tiefer als der Lohn des Bauarbeiters aus dem Hochbaugewerbe. Platzarbeiter, Wächter u.s.w. stehen in der Entlohnung wiederum unter dem Tiefbauarbeiter.
Der Lohn der Facharbeiter staffelt sich nach den einzeln erfassten Branchen des Hoch u. Tiefbaugewerbes deren Zahl ungefähr 30 beträgt. Diese Löhne staffeln sich wiederum in die meist 5 Ortsklassen der einzelnen Tarifgebiete, die sich in großer Zahl über das gesamte Reichsgebiet verteilen. So das sich eine Klassierung der einzelnen Berufe des Hoch u. Tiefbaugewerbes ergibt, wie sie das ganze Wesen des Reformismus mit sich bringt. Von besonderem
Interesse ist dann noch der § 10 der die Ferien regelt.
Der Abschnitt 1. behandelt die Ferienansprüche der Arbeiter von 3 Tagen im ersten Beschäftigungsjahr bis zu 5 Tagen nach 3-jähriger Tätigkeit bei ein und derselben Firma. Die Voraussetzung auf
Ferienanspruch im Jahre, besteht in einer ununterbrochenen
Zugehörigkeit zu ein und demselben Betrieb von 36 Wochen. Dazu kommen noch allerlei Ergänzungen doch wird auch der Unbefangene sagen, dass die Ferienfestsetzung nur Sand in den
Augen des größten Teils der bauarbeiterschaft ist.
(…)
Anmerkung:
Kameraden, soweit der Reichstarif für das Baugewerbe in Deutschland. Ich glaube treffender keinen Beweis über den wahren Charakter der reformistischen Zentralverbände bringen zu können,
als wie es mit der Übermittlung des Reichstarifvertrages geschehen ist. Das diesen Steigbügelhaltern des Kapitals, diese vortrefflichen Klauselierungen, gerade in der jetzigen Lohnabbauwelle zum Verhängnis geworden sind, trägt nur zur Erhärtung meiner Behauptungen bei.
Das es auch anders geht beweist der Tarif unserer Düsseldorfer Organisation und gewinnt dieser Vertrag doppelt an Bedeutung, da er sich auf den Klassenkampf aufbaut und auch gleichzeitig die
Tarifauffassung der anarcho-syndikalistischen Bauarbeiter
Deutschlands kennzeichnet.

Arbeits-Vertrag:
Lohn und Akkordtarif für das Fliesengewerbe Düsseldorf u. Umgebung.

§ 1 – Vertragsschließende:
Vorliegender vertrag ist abgeschlossen und gegenseitig anerkannt von der Arbeitgeber-Vereinigung angehörenden Plattierungsgeschäften in Düsseldorf u. Umgebung – inkl. Neuss einerseits und der Freien Vereinigung der Fliesenleger, angeschlossen der Freien Arbeiter-Union (Syndikalisten) sowie dem deutschen Baugewerksbund andererseits.
§ 2 – Geltungsbereich:
Dieser Vertrag gilt für alle Arbeitsstätten in Düsseldorf u. Umgebung einschließlich Neuss und für alle auswärtigen Arbeitsstätten, wo von Plattengeschäften oder Unternehmern obengenanter Orte
Plattenarbeiten ausgeführt werden. Der Sitz des Geschäftes ist für die Auslegung und Bezahlung des Tarifes und der Zulagen maßgebend.
§ 3 – Arbeitszeit:
Die Arbeitszeit beträgt 8 Stunden, jedoch ist Samstag um 1 Uhr Schluß. In Zeiten schlechter Konjunktur ist die vorhandene Arbeit, so einzustellen und die Arbeitszeit so zu kürzen, dass alle Leger gleichmäßig Beschäftigung und Verdienst haben. Sollte es dann noch nicht möglich sein, alle Leger zu beschäftigen, dann sind diejenigen Leger auszuschalten, in deren Familie mehrere Personen am Verdienen sind. Ab 1.11.1930 wurde die 5 Tagewoche eingeführt.
§ 4 – Überstunden, Nacht- und Sonntagsarbeit:
Überstunden sowie Nachts- und Sonntagsarbeit und Arbeit an den gesetzlichen Feiertagen sind in besonderen Fällen zu leisten und dürfen nur gefordert werden, wenn durch deren Unterlassung Menschenleben in Gefahr kommen; Verkehrsstörungen eintreten, wenn Schäden durch Naturereignisse zu verhindern oder zu beseitigen sind; ferner bei dringenden Reparatur- und Installationsarbeiten in Theatern, Fabriken und bei ähnlichen Arbeiten. Als Überstunden, Nacht- und Sonntagsarbeit und als Arbeiten an gesetzlichen Feiertagen gelten:

  1. als Nachtarbeit jede Arbeit von abends 8 Uhr bis
    morgens 6 Uhr.
  2. Als Überstunden jede Arbeit in der zeit, die zwischen der Nachtarbeit und der normalen Arbeitszeit liegt.
  3. Als Sonntagsarbeit und Arbeit an gesetzlichen Feiertagen jede Arbeit an diesen Tagen von morgens 5 Uhr bis abends 12 Uhr. Für Überstunden wird ein Zuschlag von 25% gezahlt. Für Arbeit an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen, sowie für Nachtarbeit wird ein Zuschlag von 100% auf die Akkordsatztarife gezahlt.

§ 5 – Lohnabrechnung:
Für die Berechnung des Lohnes ist der Akkordtarif massgebend. Alle Arbeiten, für die in diesem Vertrag Akkordpreise festgelegt sind, werden nur in Akkord ausgeführt. Alle in diesem Tarif nicht
aufgeführten Arbeiten oder neuen Formen, für welche unter Anrufung eine Einigung über den Akkordsatz nicht erzielt wird, werden zum Stundenlohn mit 20% Zuschlag bezahlt.
§ 6 – Lohnzahlung:
Die Lohnzahlung umfasst eine Woche. Die Lohnzahlung findet jeden Freitag vor Feierabend an der Baustelle und wenn dies nicht möglich ist, in den Geschäftsräumen des Arbeitgeber, oder sofern der Arbeitnehmer nicht Nachhause gehen kann, an der Arbeitsstelle, bzw. durch Postsendung Freitagabend statt. Die Lohnperiode schließt Mittwochs. Abschlagszahlungen auf Akkordarbeiten sind an
den Lohntagen in Höhe von ungefähr 90% des verdienten Akkordlohnes zu leisten. Die Anträge auf
Abschlagszahlungen müssen spätestens bis Donnerstag morgens bestellt werden. Das Warten auf Material wird in Stundenlohn gezahlt, wenn der Leger dieses einen halben Tag vorher bestellt hat.
§ 7:
Regelt die in Deutschland üblichen Fragen der Auflösung des Arbeitsverhältnisses.
§ 8 – Schlichtung und Streitigkeiten:
Streitigkeiten aus diesem Vertrag sind durch die örtlichen Schlichtungskommissionen, bestehend aus drei Arbeitgebern und drei Arbeitnehmern, schleunigst zu schlichten. Die beiderseitigen Vertragsschließenden wählen ihre Mitglieder. Der Vorsitzende wird in jeder Sitzung gewählt. Die Schlichtungskommission hat, wenn eben angängig, innerhalb 24 Stunden, spätestens aber 48 Stunden
zu tagen und sind vor dieser Tagung und während des Verfahrens, Streiks und Aussperrung oder ähnliche Maßnahmen irgendwelcher Art unter keinen Umständen zulässig. Anträge für die Schlichtungskommission sind schriftlich zu stellen an den Obmann
unter genauer Begründung des Streitfalles. Bei allen Streitigkeiten, sind die amtlichen und staatlichen Schlichtungsinstanzen auszuschalten, soweit hierzu kein Zwang besteht.
§ 9 – bringt örtliche Regelung.
§ 10 und 11 – Durchführung des Vertrages:
Alle im nachfolgenden Akkordtarif festgesetzten Preise sind Mindestpreise und dürfen unter keinen Umständen unterboten werden. Alle dem Tarif zuwiderlaufenden Abmachungen (billiger arbeiten sind nach dem Entscheid des Reichsarbeitsgerichtes
ungültig.) Der Stundenlohn beträgt 1,80 Mk. Soweit der Vertrag unserer Düsseldorfer Organisation.
Die Gegenüberstellung des § 8 dieses Vertrages, allein dürfte genügen um die von mir aufgestellte Behauptung gegenüber dem reformistischen vertrag zu rechtfertigen. Ein weiteres eingehen auf
die Gegensätze ist mir wegen des Platzmangels im „Pressedienst“ in dieser Nummer nicht möglich, doch werde ich in einer späteren Ausgabe darauf zurück greifen. Wie es ja auch den Antrag 3 der Madrider Konferenz entspricht. M.
Kasse:
An Beitrag ging von der norwegischen Landesföderation, für die Zeit von 1930-31, der Betrag von 88,37 Kr. ein.

• Presse-Dienst des ISBF, Jahrgang I, Dezember 1931,
Nummer 3 [8 hektografierte A 4 Seiten]

Quelle:https://muckracker.files.wordpress.com/2012/06/barrikade-4.pdf

Carl Windhoff (* 09.11.1872 – † 28.05.1941)

Es gab Zeiten, da wurden über sozialdemokratische
Provinzbürgermeister und Kleinfunktionäre
ganze Biographien geschrieben. Darüber, wie lieb
sie ihre Kinder hatten und darüber, was sie alles
erreichten für das Wohl der Arbeiterschaft – als
Sesselhelden. Ich möchte mich im Folgenden mit
einer kurzen Portraitierung eines tatsächlich bedeutenden
Mannes befassen. Gegen den Strom
schwimmend, persönliche Risiken und Nachteile
eingehend, erreichten er und seine Mitstreiter Au-
ßergewöhnliches. In der bisherigen Literatur zum
Thema syndikalistische Arbeiterbewegung war seine
Person nur am Rande von Bedeutung. Nicht einmal
seine Lebensdaten waren der Recherche wert
und wurden falsch angegeben. (1) Leider ist in den
mir vorliegenden Quellen nicht viel mehr als seine
gewerkschafts-politische Tätigkeit auffindbar, sein
Name omnipräsent, als Redner, Organisator, Agitator,
hoher Funktionär. Privates bleibt außen vor. Ist
die allgemeine Kritik an der Parole „Große Männer
machen Geschichte“ berechtigt, so ist dennoch die
Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung
des Rheinlandes ohne ihn nicht denkbar.
Sozialisierung zum Kampf
Carl Windhoffs Sozialisierung erfolgte in jungen
Jahren unter Einfluß des Sozialistengesetzes. Damit
wurde ihm im Klassenkampf der Einsatz seiner
ganzen Persönlichkeit praktisch in die Wiege gelegt.
Als das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen
Bestrebungen der Sozialdemokratie“ 1878 in Kraft
trat, war er fünf Jahre alt. Als es nicht mehr verlängert
wurde, stand er im 17. Lebensjahre. Geboren
wurde Carl Windhoff am 09. November 1872
in Düsseldorf,(2) der Stadt, welcher er sein Leben
lang treu bleiben sollte. Sein Herz schlug seit seinem
14. Lebensjahr für die sozialdemokratische
Arbeiterbewegung, für ihre Zeitungen, Broschüren
und Bücher. Die Tatsache, dass er sich alles selber
erarbeiten musste, sollte sein ganzes Leben prägen.
Sein Bildungsbedürfnis war umfassend. Als junger
Erwachsener las er Edward Bellamy, Leo Tolstoi,
Emile Zola, die volkswirtschaftlichen Schriften von
Peter Kropotkin, aber auch naturwissenschaftliche
Literatur bis hin zu „süddeutschen Bauernromanen“.
Dieser Bildungshunger verhalf ihm zu den
Werten der „gegenseitigen Hilfe“ und der „allgemeinen
Solidarität“.

Organisationsaufbau (1900-1914)
Windhoffs erste gewerkschaftliche Tätigkeiten lassen
sich auf das Jahr 1900 zurückverfolgen, als er
versuchte, seine Fliesenlegerkollegen gegen die
heftigen Widerstände der Kapitalisten zu organisieren.
Fünf Jahre darauf konstituierte sich schließ-
lich die „Vereinigung der Fliesenleger Düsseldorfs
und Umgebung“. In dieser Berufssparte war der
Konkurrenzdruck durch die Zentralverbände der
Bauberufe noch unwesentlich, und das Organisationsvakuum
wurde redlich genutzt: Für die Region
sollte diese gewerkschaftliche Pionierarbeit für
Jahrzehnte große Bedeutung innerhalb der gesamten
Baubranche erlangen. Die Fliesenleger waren
äußerst fleißige und selbstdisziplinierte Arbeiter
mit guten Arbeitszeugnissen und vergleichsweise
hohen Erwartungen an andere und sich selbst, was
den Einsatz innerhalb und außerhalb der Betriebe
anbelangte. Windhoff wurde zur Zielscheibe der
Kapitalisten. Wurde er ausgesperrt, litt die Rentabilität
des Unternehmens. Doch wollte das hohe Maß
an Arbeitskraft auch teuer verkauft werden. Da er
lernte, sich durchzubeißen und – mit dem Ziel einer
freien und gerechten Gesellschaftsordnung – für die
Rechte der Arbeiterschaft zu kämpfen, war es ihm
trotz großer materieller Not in der eigenen Familie
unangenehm,(3) die Unterstützung seiner Kollegen
anzunehmen. Die Vereinigung der Fliesenleger erreichte
ihre Etappenziele:
„Wir waren die erste Organisation in Deutschland,
welche unseren Kollegen vom Jahre 1923 ab
6 Tage Ferien bei vollem Lohn sicherte, was dann
vielfach Nachahmung fand.“(4) Hierin lag der
Grundstein für die jahrzehntelange Treue ihrer
Mitglieder bis in die Zeit des Hitlerfaschismus
hinein. Reichsweit schlossen sie sich der „Freien
Vereinigung deutscher Gewerkschaften“ (FVDG)
an. Das war die lokalistische Strömung innerhalb
der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung,
welche sich nicht der zentralistisch aufgebauten
„Generalkommission der Gewerkschaften
Deutschlands“ unterordnen wollte und deshalb
im Jahre 1908 aus der sozialdemokratischen Partei
ausgeschlossen wurde, bzw. austrat. In den
Jahren zuvor widerstanden sie den zahlreichen
und lukrativen Abwerbungsversuchen seitens der
Funktionäre der nun mit ihnen konkurrierenden
zentralgewerkschaftlichen Verbände. Diese waren
zentralistisch aufgebaut und ihre Mitglieder in
autoritärem Geiste erzogen. Sie schlossen schnell
ihren Frieden mit dem Klassengegner und militaristisch
gesinnt im Hurrapatriotismus angekommen
zum 1. Weltkrieg ihren Burgfrieden mit dem Kaiserreich.
In den lokalorganisierten Gewerkschaften
der FVDG hingegen verblieben bis 1914 reichsweit
nur etwa 8.000 Mitglieder, die einen konsequenten
Antimilitarismus vertraten und den diktatorischen
Verhältnissen der Kriegszeit ausgesetzt blieben.
Für sie wurde der Begriff „Syndikalisten“ gefunden,
da der französische Syndikalismus mit seinem
Modell der „Arbeiterbörsen“ großen Einfluß hatte.
Daneben wirkten auch anarchistische Ideengänge
impulsgebend auf die Bewegung ein, sodaß sich
für die 1920er Jahre der Begriff „Anarcho-Syndikalismus“
etablieren sollte. Zusammen mit Fritz Kater
und Karl Roche nahm Windhoff im Jahre 1913
am Ersten internationalen Syndikalistenkongreß in
London teil.(5)
Weltkrieg und Revolution (1914-1919)
In der Kriegszeit lag die Bewegung weitgehend
brach, beschränkte sich auf die Aufrechterhaltung
der Organisation und auf die Unterstützung Versehrter
und Hinterbliebener. Nach dem Verbot ihrer
Organe zu Kriegsbegin brachte die FVDG zwei
interne Periodika heraus, deren Erscheinen in den
Jahren 1915 und 1917 ebenfalls polizeilich untersagt
wurde. Zu einem nicht geringen Teil bestanden diese
aus Todesanzeigen. Nach Kriegsende wandten
sich die Syndikalisten gegen den politischen und
putschistischen Charakter der deutschen Revolution
von 1918/19 und erinnerten daran, „sich mehr
um die wirtschaftliche Macht zu bemühen und die
Fabriken unter die Herrschaft der Arbeiterschaft zu
bringen.“ (6)
Aufstieg zur Massenbewegung (1919)
Die Repression beschränkte sich keinesfalls auf die
Zeiten diktatorischer Verhältnisse. Der Terror gegen
die Lokalorganisierten bestand auch nach 1918/19
weiter und ging wesentlich von den reaktionären
Zentralverbänden aus, welche im Verein mit Kapitalisten
und der Staatsmacht die Syndikalisten aus
den Betrieben drängten: Wenn der Unternehmer
nicht wollte, sogar mittels Streiks gegen die eigenen
Kollegen! Dagegen waren nur sehr gefestigte
Vereinigungen der Syndikalisten gefeit, die aus
den besten Kämpfern der alten Arbeiterbewegung
bestanden. Die Fliesenleger Düsseldorfs wehrten
sich nicht nur erfolgreich. Es gelang ihnen, durch
enorme Fleißarbeit und diplomatische Fähigkeiten,
große Teile der von den Zentralverbänden enttäuschten
revolutionären Arbeiterschaft des Rheinlandes
und Ruhrgebietes zu sammeln und ab September
1919 zu Zehntausenden, nämlich aus der
„Allgemeinen Bergarbeiter Union“ (Gelsenkirchen),
sowie der Essener und Düsseldorfer „Allgemeinen
Arbeiter-Union“, organisatorisch als „Freie ArbeiterUnion
Deutschlands“ (FAUD) zusammenzufassen.
Damit füllten sie ein Organisationsvakuum, bevor
als weitere Konkurrenz bei diesen Organisationen
die Kommunisten zum Zuge kamen. (7)
Rudolf Rocker erinnerte sich: „In ihren Interessen
standen uns die Organisationen sehr nah, obgleich
sie mit unseren Grundsätzen nur oberflächlich bekannt
waren. Es lohnte sich daher schon, mit ihnen
eine Einigung zu erzielen. Das war allerdings keine
leichte Aufgabe. (…) Unter den Wortführern gab es
manche, mit denen die Verhandlungen schwerer
waren; die meisten von ihnen (…) verfügten hauptsächlich
nur über eine Vielzahl leerer Schlagworte,
die sie meist bei den Kommunisten aufgelesen
hatten. Dass es trotzdem möglich war, mit jenen
Organisationen zu einem Einverständnis zu gelangen,
war hauptsächlich das Verdienst des Genossen
Carl Windhoff in Düsseldorf gewesen, dessen unverdrossene
Arbeit schließlich ein Werk zustande
brachte, das anderen wohl kaum gelungen wäre.
(…) Obgleich er den Führern der Zentralverbände
im großen Industriegebiet stets ein Dorn im Auge
war, erfreute er sich unter den Arbeitern eines
ausgezeichneten Rufes. Die makellose Ehrlichkeit
seiner Gesinnung und seine Bereitschaft, sich für
die Rechte anderer mit seiner ganzen Person einzusetzen,
nötigten sogar seinen bittersten Gegnern
Achtung ab. (…) Seine zähe Beharrlichkeit erzielte
denn auch einen vollständigen Erfolg. Am 15. und
16. September 1919 fand in Düsseldorf eine ge-

meinsame Konferenz statt, die von 105 Delegierten
besucht war. (…) nach langen Verhandlungen
kam die Verschmelzung zustande, und zwar auf
Grund der Richtlinien, welche die FVDG auf ihren
Kongressen 1906 und 1910 angenommen hatte. Die
Konferenz faßte auch den Beschluß, den beteiligten
Organisationen vorzuschlagen, ihre bisherigen Namen
aufzugeben und sich fortan als „Freie ArbeiterUnion
Deutschlands“ (Syndikalisten) zu betätigen.
Dieser Beschluß wurde auch auf dem 12. Kongress
der FVDG in Berlin im Dezember desselben Jahres
mit großer Mehrheit angenommen. Dadurch hatte
sich die syndikalistische Bewegung Deutschlands
mit einem Schlage verdoppelt und erreichte einen
Mitgliederbestand von 120.000.“(8)
Allein in Düsseldorf waren im Jahre 1919 organisiert:

Alle Berufe und Bauberufe: 800 Mitglieder
Kommunalarbeiter: 4.000
Metallarbeiter: 11.400
• Zusammen: 16.200 (9)
Erfolge (die 1920er Jahre)
Als eine der wenigen syndikalistischen Vereinigungen
gelang es den Fliesenlegern, eigene Tarifverträge
abzuschließen und einflussreiche Betriebsräte
zu stellen.(10) In einer Rede auf dem 18.
Kongress der FAUD im Jahre 1930 konnte Windhoff
berichten:
„Wir haben in verschiedenen rheinischen Orten
Löhne erreicht, die um 30 bis 35 % höher sind als
in den übrigen Orten. (…) Wir haben erreicht, dass
wir darüber bestimmen, wer eingestellt und wer
entlassen wird. (…) Wir haben die Zentralgewerkschaft
genötigt, unsere Abmachungen mit zu unterschreiben.
Wir haben die staatlichen Schlichter
ausgeschaltet. Wir haben die schriftliche Bestimmung
durchgesetzt: ‚Für alle Streitigkeiten sind
die amtlichen und staatlichen Schlichtungsstellen
auszuschalten, soweit dazu nicht ein gesetzlicher
Zwang besteht.’ (…) Wir haben in verschiedenen
Verträgen durchgesetzt, dass nur Mitglieder unserer
Fliesenleger-Organisation eingestellt werden.
Wir arbeiten täglich nur 7 ½ Stunden [1906
waren in der Baubranche noch 10 Stunden üblich]
(11) und am Sonnabend Nachmittag gar nicht. Bei
schlechter Konjunktur bestimmen wir, dass die Arbeitszeit
weiter so verkürzt wird, dass keiner entlassen
zu werden braucht. In der Zeit der jetzigen
Massenarbeitslosigkeit ist die radikale Verkürzung
der Arbeitszeit eine Notwendigkeit, für die alle Arbeiter
und auch viele kleinbürgerliche Schichten
Verständnis haben. Wir arbeiten jetzt an der Durchsetzung
der fünftägigen Arbeitswoche.“(12)
Carl Windhoff war der Motor der Bewegung, vertreten
auf zahlreichen Treffen, versehen mit vielen
Funktionen und Verfasser vieler Artikel in der breit
gefächerten Arbeiterpresse. Der FAUD auf Reichsebene
war er eine unverzichtbare Stütze. Nicht
zuletzt wehrte sich Carl Windhoff mit Vehemenz
gegen interne Angriffe zersetzender Protagonisten
(Rudolf Östreich und Carl Langer) auf die syndikalistische
Organisation ab.(13)
Die Fliesenlegervereinigung führte in den 1920er
Jahren mehrere erfolgreiche Streiks durch und
konnte dem Unternehmertum deutlich mehr Zugeständnisse
abtrotzen als die Bauarbeiter außerhalb
Düsseldorfs. Zwar gehörten die Fliesenleger damit
zu den am besten bezahlten Bauarbeitergruppen.
Dennoch drückte sich Windhoff dahingehend aus,
dass sie nicht eher ruhen würden, bis nicht alle Kollegen
soviel Lohn erhielten, wie die Minister. (14)
Neben den Streiks kam es zu Sabotageaktionen,
wie sie der Kollege E. Wüsthoff als Zeitzeuge kurz
beschrieb: „Wir hatten immer so einen kleinen Fäustel
dabei, den musste man immer am Schnittpunkt
von vier Fliesen treffen, dann waren mit einem
Schlag gleich vier kaputt.“ (15)
Der regionale Einfluß der syndikalistischen Fliesenleger,
welche sogar ein eigenes Mitteilungsblatt
herausgaben, war so groß, dass es im Jahre 1925
zur Gründung einer „Interessengemeinschaft aller
organisierten Fliesenleger in Rheinland und Westfalen“
kam, welcher auch Mitglieder der Christlichen-
und Zentralgewerkschaften angehörten.
Diese Interessengemeinschaft war nötig, um gegen
das Anwerben kostengünstigerer Arbeiter von
auswärts geschlossen vorgehen zu können und effektiver
gegen Streikbrecher vorzugehen.(16) Aufgrund
seiner starken Stellung überstand Windhoff
die Jahre bis 1930 offenbar ohne lange Phasen der
Arbeitslosigkeit. (17)
Eine eigene Düsseldorfer Fliesenlegerjugend
wurde gegründet, und diese trug im Wesentlichen
zur Stabilisierung der syndikalistischen Jugendbewegung
in der Region bei. (18) Nirgendwo anders
in Deutschland ist die Gründung einer nach
Beruf organisierten syndikalistischen Jugendorganisation
bekannt geworden, das schafften nur die
Fliesenleger:
„In zünftiger Tradition wurden hier die Jungen
von den älteren Arbeitern (meist den Vätern) selbst
eingearbeitet und angelernt. Die erwachsenen Arbeiter
kontrollierten damit streng die Einstellung
künftiger Gesellen, im doppelten Sinn: Sowohl die
Zahl, als auch die Gesinnung. Die Bauunternehmer
waren dabei ganz ausgeschaltet, was für die
Jugendlichen hieß, dass ihr Gegenüber zunächst
vor allem die proletarischen – Alten – selbst waren.“
(19)
Zäher Kampf (1930-1933)
Im Jahre 1930 bestanden in Düsseldorf noch Ortsvereine
der:
Bauarbeiter: 80 Mitglieder
Fliesenleger: 85
(von insgesamt etwa 120 in der Stadt)(20)
Metallarbeiter: 69
• Zusammen: 234 Mitglieder(21)
Mit der Weltwirtschaftskrise im Jahre 1929 verschärfte
sich die Arbeitslosigkeit und nahm in den
Reihen der Syndikalisten hohe Ausmaße an. Nach
Angaben Carl Windhoffs lag das zum großen Teil
auch daran, dass die von den Syndikalisten nach
verbindlichem Reichskongressbeschluß aufgegebenen
lokalen Betriebsratsposten nun von Zentralgewerkschaftern
übernommen wurden, welche
keine Zustimmung zur Einstellung von Syndikalisten
gaben.
Nach siebenjähriger Tätigkeit bei der Firma „Osterather
Plattenlager“ wurde Carl Windhoff im
Jahre 1930 entlassen und klagte dagegen vor dem
Arbeitsgericht Düsseldorf auf Entschädigung. Den
Grund der Entlassung sah er darin, dass er in allen
Jahren Mitglied der Lohn- und Schlichtungskommission
und „an allen Verhandlungen beteiligt“ gewesen ist, welche sich in solidarischer Weise
um alle Kollegen kümmerte, sie vor Entlassungen
schützen wollte.(22) Vom Präsidium des Landesarbeitsamtes
Köln erhielt er im November 1932 die
Drohung mit sechs Monaten Gefängnis, sollte er
sich weiterhin für das „Krümpersystem“ einsetzen,
welches vorsah, die Erwerbslosen abwechselnd zu
beschäftigen. (23)
Dennoch waren die Syndikalisten nicht kleinzukriegen:
Unter ihrem Druck und ihrer Führung traten
mit ihnen in Düsseldorf noch im Oktober 1932
der Baugewerksbund und die „Christliche Baugewerkschaft“
in den Streik. (24)
Nazizeit (1933-1937)
Den Aussagen Windhoffs beim Polizeiverhör von
1937 zufolge beschloss die Vereinigung der Fliesenleger
ihre Auflösung bereits im Dezember 1932, um
der „neu aufzubauenden nationalsozialistischen
Bauarbeiter-Organisation beizutreten.“ Die Auflö-
sung zum 1. April 1933 sei schon im Januar desselben
Jahres beschlossen und Windhoff mit der
geschäftlichen und formalen Liquidierung beauftragt
worden. Damit wandte er sich gegen die polizeiliche
Ansicht, dass die Fliesenlegerorganisation
durch die Staatsmacht aufgelöst worden sei, um
ihrer Einschätzung als „gefährlich“ entgegenzutreten.
(25) Mit dieser Aussage wollte er die Kollegen
schützen, und wahrscheinlich dachten die Fliesenleger
in vollem Vertrauen auf ihre eigene Überzeugung
und Leistungsfähigkeit (!) tatsächlich daran,
ihren betrieblichen Einfluß in die Nazizeit herüberzuretten,
sich illegal zu organisieren.
Windhoff zahlte die restlichen Gelder für die
Fliesenleger Düsseldorfs an die FAUD und wurde
zu Beginn des Jahres 1933 wegen „Beleidigung“ gerichtlich
verurteilt. (26) Im Sommer 1933 kam es bei
ihm in der Grafenberger Allee 257 zur ersten Hausdurchsuchung
und Verhaftung durch die Polizei.
Er solle Gelder der „Deutschen Arbeitsfront“ unterschlagen
haben. Im Oktober 1934 stand die SA bei
ihm in der Wohnung – über sieben Stunden lang.
Noch im gleichen Jahr folgten eine weitere Durchsuchung
und eine Woche später seine Verhaftung.
Bis März 1937 fanden insgesamt sieben Haussuchungen
bei Windhoff statt. Die gesuchten illegalen
Schriften wurden jedoch nicht gefunden. Am
23. Februar 1937 erfolgte eine erneute Verhaftung
des nunmehr 64-jährigen und seiner Frau durch
die Gestapo. Er sei „geistiger Kopf der Fliesenleger
von Rheinland und Westfalen“ und wurde wegen
„Vorbereitung zum Hochverrat“ angeklagt. Er solle
die Fliesenlegerorganisation „im geheimen“ weitergeführt,
Versammlungen durchgeführt, Gelder
weitergeleitet, an „den Baustellen zu Gewaltakten
gegen die Unternehmer aufgefordert“ und schließ-
lich einen Streik in Lippstadt inszeniert haben. (27)
Dafür wurde Carl Windhoff zu drei Jahren Zuchthaus
verurteilt.
Tod
Der Mitangeklagte Ernst Binder erinnerte sich
im Jahre 1948: „Windhoff war noch während der
Dauer des Prozesses im Vollbesitz seiner geistigen
Kräfte und führte seine Verteidigung selbst. In der
Strafanstalt Lüttringhausen setzte, wahrscheinlich
schon als Folge der langen Untersuchungshaft,
ein schneller gesundheitlicher Verfall ein. Meines
Wissens erlitt er mehrmals einen Gehirnschlag und
wurde zur Beobachtung in das Lazarett der Strafanstalt
Klingelpütz in Köln überführt. Als er von
dort aus wieder nach Lüttringhausen überführt
wurde, war W[indhoff] in einem körperlichen und
geistigen Verfallszustand, dass er alsbald, noch vor
Beendigung seiner Haftzeit, entlassen wurde. Carl
Windhoff hat sich auch zuhause nicht mehr erholt
und starb, offensichtlich an den Folgen der Haft,
am 28. Mai 1941.“ (28)
International
Carl Windhoff war aktiv in der „Internationalen
syndikalistischen Bauarbeiter-Föderation“, dem
branchenspezifischen Pendant zur „Internationalen
Arbeiter-Assoziation“ (IAA). Als Funktionär und
Delegierter referierte er im Jahre 1931 auf dem 4.
IAA-Kongress in Madrid. (29) Diese Internationale
Bauarbeiter-Föderation blieb die einzige in Ansätzen
funktionierende syndikalistische Brancheninternationale
und gab in den Jahren 1931/32 mit dem
„Presse-Dienst“ ein eigenes Organ heraus. (30)
Schlußwort
Aufgrund seiner Biographie war Carl Windhoff so
überzeugt von der gerechten Sache seiner Tätigkeit
und seiner eigenen Überzeugungskraft, dass er sogar
mit seinen Aussagen in den Verhören durch die
Nazis, „auf Verständnis für seine gewerkschaftliche
Tätigkeit rechnete, wo er sich nach Lage der Dinge
sagen musste, dass hier absolut kein Verständnis
zu erwarten war,“ so Ernst Binder im Jahre 1947.
(31) Carl Windhoff gehörte zu den bedeutendsten
Syndikalisten der 1920/30er Jahre in Deutschland.
Seine Persönlichkeit ist beispielgebend für die heutige
Zeit.
• Helge Döhring
(Institut für Syndikalismusforschung, Bremen)

Carl Windhoff zum 60. Geburtstage.

Unser Genosse Carl Windhoff-Düsseldorf wird am
9. November 60 Jahre alt. Sein Name und sein
Wirken sind mit der Geschichte der deutschen
anarcho-syndikalistischen Bewegung untrennbar
verknüpft. Ein großer Teil seines Lebens war dem
Kampfe gegen Staat und Kapital, gegen Vorurteile
und Feigheit seiner Klassengenossen gewidmet.
Auch heute wieder zu seinem 60. Geburtstage
steht er inmitten eines Streikes. Seine Arbeit
und seine Treue zur Sache des revolutionären
Anarcho-Syndikalismus sollen uns Jüngeren ein
Beispiel sein. Die FAUD übermittelt ihrem alten,
aber innerlich jungen Genossen Carl Windhoff
die besten Grüße und Wünsche für die Zukunft
und für weiteres Wirken im Sinne des AnarchoSyndikalismus.
• Die Geschäftskommission. Reinhold Busch“ (25)

Anmerkungen:

(1) Demnach habe er von 1882 bis 1940 gelebt.
(2) Vgl.: Bundesarchiv, R 58-318, Bl. 163.
(3) Seit 1917 lebte er in zweiter Ehe mit Käthe Windhoff zusammen.
(4) Alle Angaben nach: IISG, Rocker Papers, Nr. 606.
(5) Vgl.: „Der Syndikalist”, Nr. 2/1931. Vor dem Krieg wohnte Windhoff in der Bruchstrasse 95 in Grafenberg, vgl.: Protokoll
Fliesenlegerkongress 1906.
(6) Protokoll über die Verhandlungen des 18. Kongresses der Freien
Arbeiter-Union Deutschlands, S. 64.
(7) Vgl.: IISG, Rocker Papers, Nr. 606.
(8) Rudolf Rocker: Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten, S. 300 f.
(9) Vgl.: Protokoll über die Verhandlungen vom 12. Kongress der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften, Präsenzliste.
(10) Die Tarifverträge waren gekennzeichnet durch eine kurze Laufzeit, während der Revolutionszeit um 1918/19 hatten sie
teilweise eine Kündigungsfrist von nur 24 Stunden, vgl.: Ulrich Klan/Dieter Nelles: „Es lebt noch eine Flamme“…, S. 144.
(11) Vgl.: Vereinigung der Fliesenleger Deutschlands: Protokoll über die Verhandlungen der V. Konferenz.

(12) Protokoll über die Verhandlungen des 18. Kongresses der Freien
Arbeiter-Union Deutschlands, S. 65.
(13) Vgl.: „Der Syndikalist“, Nr. 52/1921.
(14) Vgl.: „Der syndikalistische Bauarbeiter“, Nr. 3/1929, zit.n. Ulrich Klan/ Dieter Nelles: „Es lebt noch eine Flamme“…, S. 168.
(15) Ulrich Klan/Dieter Nelles: „Es lebt noch eine Flamme“…, S. 146.
(16) Das Regulativ der Interessengemeinschaft findet sich neu abgedruckt in: Ulrich Klan/Dieter Nelles: „Es lebt noch eine
Flamme“…, S. 144 f.
(17) Vgl.: IISG, Rocker Papers, Nr. 606.
(18) Vgl.: IISG, Rocker Papers, Nr. 606.
(19) Ulrich Klan/Dieter Nelles: „Es lebt noch eine Flamme“…, S. 201.
(20) Vgl.: Ebd., S. 145.
(21) Protokoll über die Verhandlungen des 18. Kongresses der Freien
Arbeiter-Union Deutschlands, Präsenzliste.
(22) Vgl.: „Der Syndikalist“, Nr. 15/1932.
(23) Vgl.: IISG, Rocker Papers, Nr. 606.
(24) Vgl.: „Der Syndikalist“, Nr. 47/1932. Siehe auch: „Presse-Dienst“ der „Internationalen Syndikalistischen Bauarbeiter Föderation“, November 1932

Quelle: https://muckracker.files.wordpress.com/2012/06/barrikade-5.pdf (Stand: 21.01.2020)

Deutschland: Streik der syndikalistischen Fliesenleger in Düsseldorf

Vorgeschichte des Kampfes:
Nachdem seit Oktober 1931 der tariflose Zusatnd
für das Fliesengewerbe in Düsseldorf u. Umgebung
Wirklichkeit wurde und zwar deswegen weil es die
Unternehmer ablehnten, die von den Kollegen geforderte
Tarifsicherheiten und Granatien anzuerkennen,
machten sich innerhalb des Tarifgebietes
Düsseldorf Zustände breit und nahmen diese Zustände
Formen an, die man kurz betitelt mit –Unhaltbar-.
All die Errungenschaften seit Bestehen der
syndikalistischen Fliesenlegerorganisation 1901,
schienen beseitigt. Niemals und wenn die Arbeitslosigkeit
noch so scharfe Formen angenommen hätte,
wäre es den Unternehmern gelungen, die Kollegenschaft
solche Anerbieten zu machen, wenn nicht
hier wiederum die Bürokraten der reformistischen
und der christlichen Bauarbeiter-Organisation,
helfend im trauten Verein mit dem Syndikus der
Arbeitgeber-Verbände, die Düsseldorfer-PlattenFirmen
helfend beigesprungen wären. Was schert
diese Arbeiter-Vertreter, wenn dadurch auch ihre
eigne Mitgliedschaft, von deren Beitragsgroschen
sie ihr Drohnen-Dasein fristen, auf den Hund kommen.
Gerade diese Bürokraten waren es, welche den
tariflosen Zustand herbeiführten, indem sie die
Erklärung abgaben – einen solchen Tarif- wie ihn
die Düsseldorfer syndikalistischen Fliesenleger forderten
ablehnen zu müssen. Durch diese Erklärung
nahmen dann im Oktober 1931 die Arbeitgeber
ihre schon erfolgte Zusage zurück und da die Kollegen
erkannt hatten, das ohne diese geforderten
Sicherheiten, ein Tarifabschluß nur ein Mittel zur
Korruption sein kann, blieb man lieber tariflos. Die
Unternehmer ermutigt durch diesen erfolg, nutzten
nun die zum Dauerzustand gewordene Notlage
der Arbeiter aus und drückten durch systematische
Aussperrung aller unbequemen Geister, den Lohn
derart, das Löhne zur Auszahlung gelangten, welche
um das Jahr 1905 gezahlt wurden. Die Spaltung
der Kollegen in drei Organisationen Syndikalisten,
Reformisten und Christen, trug viel zur Schaffung
dieses Zustandes bei. Nur so ist es zu verstehen,
das die Düsseldorfer Fliesenleger, welche bis dahin
unter Führung der syndikalistischen Organisation
eine Spitzen-Position eingenommen hatten, auf
solchen Tiefstand gelangen konnten. Unsere Ka-meraden setzten sofort als die Lage immer unhaltbarer
wurde ihre besten Kräfte zur Schaffung einer
gemeinsamen Abwehrfront ein. Vorerst mit wenig
Erfolg, bis es endlich gelang im September des Jahres
1932 alle in Düsseldorf befindlichen Fliesenleger
ganz gleich welcher Organisationszugehörigkeit
zusammen zu bringen. In dieser Versammlung
wurde nach einem Referat unseres Kollegen C.
Windhoff die alte Forderung, Schaffung der tariflichen
Sicherheiten, Verteilung der vorhandenen
Arbeiten für alle in Düsseldorf sesshaften Kollegen
einstimmig gutgeheißen und neu aufgestellt. Die
Unternehmer wurden danach aufgefordert Stellung
zu diesen Forderungen zu nehmen u.s.w.
Um diese Forderungen der Düsseldorfer Kameraden
mehr Kraft zu versetzen, wurde die Verbindung
mit den umliegenden Städten, wie Cöln und
andere mehr aufgenommen, da dort dieselben
wenn nicht noch weit schlimmere Verhältnisse
eingerissen waren. Doch wieder waren es die Angestellten
des Deutschen Baugewerksbundes und
die Vertreter des Christentums aus den christlichen
Gewerkschaften, die ihren Kollegen die Erklärung
abgaben, für die syndikalistischen-Windhoff-Forderungen
setzen sie sich nicht ein und erzielten dadurch
tatsächlich in Cöln/Rhein, das Unterbleiben
einer Kampfstellung.
Ungeachtet dessen, benutzten die Düsseldorfer
Kameraden, die in ihrem Bereich hergestellte
Einheit der Arbeiterschaft und traten, da die Unternehmer
gestützt auf die Haltung der genannten
Arbeitervertreter es ablehnten die Forderungen
der Kollegen anzuerkennen mit dem 1.10. in den
Streik.
Die Streiklage:
Einmütig traten am 3.10.32 die Kollegen soweit sie
in Arbeit standen in den Kampf. Durch zwei größere
Bauplätze-Krankenhausum- und –anbau, sowie
bei den Persil-Werken, konnte die Forderung der
Fliesenleger größerer Nachdruck verliehen werden.
Denn von den insgesamt 36 streikenden waren
auf diesen genannten Baustellen allein 26 Mann in
Arbeit. Der Schlag war gelungen, die Arbeitslosen,
die zum Teil schon mehr wie ein Jahr aus dem Produktionsprozeß
ausgeschaltet waren, unterstützten
einmütig die Forderungen der streikenden Kollegen.
Die Hoffnung der Unternehmer und der Verbandsangestellten,
das diese arbeitslosen Kollegen
ihre streikenden Brüder in den Rücken fallen werden,
ist fehlgeschlagen. In dieser Einmütigkeit lag
ein beachtenswerter Erfolg, der um so höher eingeschätzt
werden muß, wenn man die ungeheuere
Notlage der deutschen Arbeiterschaft durch die
Wirtschaftskrise bedingt kennt. Der Kampfgeist ist
gut und schon vielen die Herzen der Unternehmer
in die Hosen, doch der Syndikus, diese besondere
Menschenart von Juristen springt ein, nachdem bereits
nach anderthalb Wochen die erste Plattenfirma,
die größte in Düsseldorf, durch die kurze Dauer
des Kampfes in Konkurs ging. Die Unternehmer
wandten sich nun jammernd an die Architekten
und Bauherren von Düsseldorf und Umgebung
und verlangten deren Hilfe bei dem Kampf gegen
die dreimal verfluchten Fliesenleger. Doch unsere
Kameraden nahmen geschickt diesen Schlag auf
und wandten sich nun ihrerseits an die Architekten
und Bauherren mit einer Flugschrift folgenden Inhaltes:

An die Herren Architekten.
Bauunternehmer und Bauherren!
Nach uns zugegangenen Informationen sind die Plattengeschäfte in Düsseldorf und Neuß an die Bauherren und Architekten mit der Bitte herangetreten, keinerlei Plattenarbeiten durch erwerbslose oder streikende Fliesenleger ausführen zu lassen. Hierzu gestatten wir uns folgendes zu sagen:
1) Wir lehnen jede Schwarzarbeit grundsätzlich ab.
2) Solange die hiesigen Plattengeschäfte unsere grundsätzlichen Forderungen – Tarifsicherung und Arbeitsteilung – respektiv abwechselnde Beschäftigung unserer erwerbslosen Kollegen – ablehnen, solange lehnen wir jede Arbeitsleistung für solche Plattengeschäfte strikt ab.
3) Wir sind bereit, von Fall zu Fall nach erfolgter
Prüfung jeden uns von Bauherren, Architekten,
Privaten und Behöreden erteilten Arbeitsauftrag
auszuführen, wenn man unsere grundsätzlichen
Forderungen anerkennt.
4) Bei allen von uns übernommenen Arbeiten werden
die dabei tätigen Fliesenleger ordnungsgemäß zur Kranken-Invaliden- und Unfall-Versicherungangemeldet, um jede Schwarzarbeit zu bekämpfen.
5) Als Facharbeiter sind wir weit besser in der Lage, für korrekte Ausführung und Haltbarkeit zu garantieren,
als wie die Inhaber der Plattengeschäfte. Die doch zu 9 Zehntel gelernte Kaufleute sind. Zudem ist ja jede zugesagte Garantie hinfällig, sobald das Plattengeschäft Pleite macht.

Düsseldorf, den 12. Oktober 32.
Die gemeinsame Lohnkommission der Fliesenleger

Die damit bedingte Festlegung der Streikführung
und die damit geschaffene Gewähr einer weiteren
Einheitsfront, ließ nun die Bürokraten der Reformisten
und des Christentums nicht mehr ruhig
schlafen und ihrer Anschauung getreu schritten sie
zum Verrat.
Die Arbeit der Verräter:
Um die Einheit des Kampfes zu beseitigen schufen
die Angestellten des sogenannten freien Baugewerks-Bundes
und der Christen einen Pakt mit
dem Syndikus der Arbeitgeber und dem Arbeitgeber-Bund,
um mit allen Mitteln den Streik abzuwürgen.
Hinter dem Rücken der Streikenden, ohne
jede Fühlungnahme mit ihren Mitgliedern – welche
gemeinsam die Streikleitung stellten, schlossen sie
mit dem Arbeitgeberbund und Anrufung des amtlichen
Schlichters einen Tarif ab, welcher nicht im
mindesten die Forderungen der Belegschaften und
Kollegen Rechnung trägt.
Danach forderten sie ihre Mitglieder auf, den
Kampf einzustellen, da sie sonst nicht mehr den
Streik durch die Gewerkschaften finanzieren, auch
würden sie Mithilfe des Arbeitsamtes die Sperre
über die nicht gehorchenden Kollegen verhängen.
Was gleichbedeutend ist, das diejenigen Fliesenleger,
welche arbeitslos sind, während der Dauer des
Streiks keine Arbeitslosenunterstützung erhalten.
Durch diesen Verrat glaubten sie den Willen der
Streikenden gebrochen zu haben. Doch die Fliesenleger
ließen sich durch die Erfahrungen des nun
schon 4 Wochen andauernden Kampfes nicht einschüchtern.
In einer gemeinsamen Versammlung forderten sie von den Angestellten ihrer Organisationen
Rechenschaft über ihren Verrat. Tatsächlich
besaß der Angestellte des deutschen Baugewerksbundes
Schorgel-Düsseldorf die Unverfrorenheit,
in die Versammlung zu kommen und verlangte
dort, von den Kollegen die dem D.B.B. als Mitglieder
angehören, das sie den Streik abbrechen
und sich im Verlauf einer sich dadurch notwendig
machenden Abstimmung über die Weiterführung
des Streikes nicht mitzustimmen.
Es erübrigt sich darauf hinzuweisen, dass sich dieser
Mann eine eklatante Abfuhr holte. Das solche
jämmerlichen Figuren überhaupt den Mut besitzen,
ihren Verrat offen vor einem Forum Streikender zu
verteidigen, dürfte am besten beleuchten, wie wenig
eigne Courage sie ihrer Mitgliedschaft zutrauen.
Doch hier hatte sich der Mann verrechnet. Die
Mehrheit der Streikenden stimmte für Weiterführung
des Kampfes. Lediglich 5 Mann enthielten
sich der Stimme. Unsere Kameraden erkannten
sofort die Gefahr die kommen musste, wenn jetzt
nicht mit allen Mitteln vorgegangen wird. Denn es
ist schon immer ein Teil Wahrheit an alten Sprichwörtern,
die da besagen, „Wie der Herr, so das Gescherr“.
So zeigte sich auch hier, das Menschen mit
wenig Ehrgefühl und Rückgrat genug auf der Welt
herum laufen, noch dazu wo von Seiten einer korrumpierten
Sorte, die sich Arbeiter-Vertreter nennen,
diese jämmerliche Haltung Streikbrecher zu
werden, belohnt wird mit der Anerkennung brave
Genossen zu sein. Genug davon, die Kameraden in
Düsseldorf, die nun in der 4. Woche streiken, bleiben
zusammen. In einem Flugblatt an „Alle Bauarbeiter“
schilderten sie den Verrat, der Bezirksleiter
Chr. Ahrens-Cöln und des Angestellten, Vorsitzenden
des D.B.B. Düsseldorf K. Schorgel, sowie
des christlichen Angestellten C. Sauer. Sie sagten
in diesem Flugblatt der Öffentlichkeit, das diese
„Herren“ durch die Drohung der finanziellen Sperre
in der Unterstützung wie beim Arbeitsamt sich
9 Fliesenleger des D.B.B. und zwei der Christen
als Streikbrecher in den Dienst der Unternehmer
gestellt haben. Durch besonderen Hinweis, das in
diesem und jenem Hause Streikbrecher mit Namen
genannt arbeiten, erhoffen sie durch die Solidarität
der übrigen Bauarbeiterschaft diese feigen Gesinnungslumpen
zu beseitigen. Der Kampf wurde
trotz dieser Infamie weiter geführt. Dadurch
gedemütigt und sich um ihren Erfolg betrogen
sehend, wandten sich die „Vereinigten“ Bundesgenossen
an das „Landesarbeitsamt“, um ja nichts
unversucht zu lassen, den Kampf der nach wie vor
unter Führung der Syndikalisten liegt, das Genick
zu brechen. In der 6. Streikwoche erhielten dann
auch einige Kollegen unserer Organisation eine
Drohung durch das Landesarbeitsamt zugesandt,
mit dem Vermerk, einer größeren Geldstrafe oder
6 Wochen Gefängnis bestraft zu werden, wenn die
Freie Vereinigung der Fliesenleger auch fernerhin
Arbeitskräfte vermittelt, ohne dazu das Landesarbeitsamt
zu benutzen. Nun unsere Kollegen ließen
sich nicht einschüchtern und hatten sehr schnell
herausgefunden, wer diese Kampfesart zur Erledigung
des Streiks ausgetipt hat. In einer Beschwerde
über die Strafandrohung wird um Klarstellung
dieser Angelegenheit ersucht. Eine Antwort darauf
ist noch nicht eingetroffen. Der Kampf geht ungebrochen
weiter.

Streik in Essen:

Durch den Streik der Düsseldorfer ermutigt, haben auch die Kameraden in Essen, sich zum Streik ermutigen lassen. Da hier unsere Kollegen als Syndikalisten in der Minderheit sind, schufen sie eine „Treugemeinschaft“ mit den Kollegen des D.B.B. und der Christen. Wie die Nachricht verlautet, stehen hier die Angestellten zur Zeit noch auf der Seite der Streikenden.
Der Kampf in Düsseldorf, der nun bereits 8 Wochen andauert, hat die vollste Unterstützung aller syndikalistischen Genossen und hoffen wir mit den Streikenden, das der Kampf mit Erfolg gekrönt
werde. Über den weiteren Verlauf wird das Sekretariat die Länder auf dem laufenden halten.
– W.M. –

Nachtrag zum Düsseldorfer FliesenlegerStreik:

Bereits bei Fertigstellen des Pressedienstes erhalten wir die Nachricht, das der Streik trotz seiner hoffnungsvollen Ansätze nach fast 8 wöchiger Dauer, durch der Verrat der vereinigten Reformisten, Christen und Unternehmer, sowie mit Hilfe des Staatsapparates aufgehoben werden musste. Damit ist aber, wie die Meldung besagt, der Kampf nicht beendet, sondern wird mit anderen Mitteln weiter geführt. Der Pressedienst wird in der nächsten Nummer näher darauf eingehen. –K–
• Presse-Dienst des ISBF, Jahrgang II, November 1932,
Nummer 7 [6 hektografierte A 4 Seiten]

In der Kampflinie – Warum haben die Fliesenleger in Düsseldorf die Arbeit eingestellt?

Die Lage bei den Fliesenlegern
Seit rund 30 Jahren sind die Fliesenleger eine der
bestorganisierten Gruppen im Baugewerbe und haben
es verstanden, sich im Laufe der langen Jahre,
besonders im Tarifbezirk Düsseldorf-Neuß, einigermaßen
annehmbare Lohn- und Arbeits-bedingungen
zu erkämpfen.
Abgesehen von einzelnen Ausnahmen waren
die Unternehmer immer bestrebt, die Tarifsätze zu
drücken.
So lange eine halbwegs gute Baukonjunktur bestand,
haben die Fliesenleger sich immer energisch
und mit Erfolg gegen die geplanten Lohnherabsetzungen
gewehrt.
Als aber dann die Baukonjunktur in den Jahren
1929 bis 1931 immer schlechter wurde, als es zur
Massenerwerbslosigkeit kam, da nutzten die Unternehmer
ihre wirtschaftliche Macht gegenüber
den Arbeitern rücksichtslos aus.
Entgegen den klaren Bestimmungen des gültigen
Arbeitsvertrages vom 5. September 1928 ließen die
Unternehmer dann zunächst diejenigen Leger, die
immer für die Durchführung des Tarifs eingetreten
waren, wochenlang feiern, mit der Begründung, es
sei keine Arbeit da.
Darin tat sich besondere die Firma OsterratherPlattenlager,
Inhaber Gustav Compes und Josef
Peck (damals Harkortstraße, jetzt Höherweg) hervor.
Im Jahre 1931 gingen die Unternehmer mehr und
mehr dazu über, die ihnen verhaßten, tariftreuen
Leger hinauszudrücken zum Stempelamt.
Rücksichtsloser Lohnabbau
Die bei den einzelnen Firmen verbliebenen Leger
wurden dann von den Unternehmern dahin
beeinflußt, doch billiger zu arbeiten, da man sonst
keine Aufträge hereinholen könne. Bald hier, bald
dort gaben charakterschwache Leger den zwar moralisch
verwerflichen, aber vielfach diktatorischen
Einflüsterungen der Unternehmer nach, trotzdem
der Tarif noch bis zum 1. September 1932 zu Recht
bestand.
Ein zügelloser, wilder Konkurrenzkampf wurde
von den Unternehmern inszeniert, mit dem Erfolg,
daß die Preise für fertige Arbeiten per Quadratmeter
zunnächst um 20 bis 30 Prozent, und dann, als
der Tarif nicht mehr bestand, um 50 bis 60 Prozent
herabgedrückt wurden.
In diesem Jahre ging dieser, jeder Vernunft hohnsprechende
idiotische Konkurrenzkampf lustig
weiter.
Dieselben Unternehmer, die noch vor zwei und
drei Jahren den Quadratmeter fertige weiße Wandplatten
für 18 bis 21 RM offerierten, bieten heute
dieselben Arbeiten für 7 bis 8 RM an.
Bei Majolikaplatten, früher 30 bis 40 RM per Quadratmeter,
heute 8 bis 15 RM.
Alles dies geschieht zunächst auf Kosten der Fliesenleger,
dann aber auch auf Kosten der Unternehmergewinne
und nicht zuletzt auch auf Kosten der
Lieferanten, der Plattenfabrikanten.
Die einzelnen Fabriken klagen in ihren Berichten immer wieder über die Schleuderpreise und über
die großen Ausfälle, die alle durch die Zahlungsunfähigkeit
der Abnehmer erleiden. Nicht nur daß
die Fabriken hundert­tausende Reichsmark Einbuße
erleiden, sondern auch die Tatsache, daß alte, seit
Jahrzehnten bestehende Plattenfabriken in Konkurs
geraten sind, sollte zu denken geben.
Alles dies sind die Folgen der wahnsinnigen
Lohnabbaupolitik, die seit Jahren von den Unternehmern
verlangt und durchgeführt wurde.
Damit wurde die Kaufkraft der Masse den Volkes
und die Volkswirtschaft zerschlagen.
Die Löhne der Fliesenleger wurden durch Diktat
der Unternehmer willkürlich um 60 bis 75 Prozent
herabgesetzt. Bei einzelnen Firmen (B. Sch. und O.
Pl.) wurde die mit den Fliesenlegern vereinbarten
Akkordlöhne durch einseitiges Diktat nicht gezahlt.
Vielfach haben unsere Kollegen bei intensiver
Arbeit nur noch das Stempelgeld verdient.
Schon monatelang wußten die Unternehmer, daß
die Fliesenleger-Organisation eingreifen wollte
oder würde. Trotzdem ließen sich Unternehmer
sich auf Verhandlungen nicht ein und kehrten den
„Herrn-im-Hausstandpunkt“ hervor.
Eingreifen der Organisationen
Anfang September traten die Organisationen der
Fliesenleger wie folgt an den Arbeitgeber-Verein
heran:
An die Vereinigung der Arbeitgeber im Plattengewerbe,
z. Hdn. des Vorsitzenden Herrn Paul Dietz jr.
Düsseldorf, Düsselthaler Straße.
Höflichst bezugnehmend auf die Besprechung die unsere
Kollegen Wagner und Windhoff am 12. August mit Ihnen,
Herr Dietz, hatten fragen wir hiermit an, wann die angeregte
unverbindliche Besprechung zwischen den Arbeitgebern und
ans stattfinden kann. Angesichts der immer tiefer sinkenden
Preise für den Quadratmeter fertige Arbeit und des damit Hand
in Hand gehenden Drucks auf die Löhne liegt es doch wohl im
beiderseitigen Interesse, die diesbezüglichen Besprechungen
baldigst aufzunehmen.
gez.: C. Windhoff, P. Schneck für die
Vereinigung der Fliesenleger.
gez.: Andreas Cohnen, Albert Terhorst
für den Baugewerksbund.
gez.: Johann May für die Christl. Baugewerkschaft
Ihre gefl. Antwort bis Dienstag, den 13. d. M. an die Adresse
C. Windhoff erbeten.
Dazu lief folgende Antwort ein:
„Herrn C. Windhoff. Düsseldorf,
Grafenberger Allee 257.
Ihr Schreiben vom 6. September kam in den Besitz des Unterzeichneten
und haben wir dasselbe unserem vorgelagerten
rheinischen Verband zur Stellungnahme übergeben.
Arbeitgeberseits werden dieser Tage Besprechungen stattfinden
und kommen wir alsdann auf Ihr Schreiben, zurück.“
Aus diesem Schreiben ersehen wir, daß die
Herren gewillt waren, die Sache hinauszuschieben.
Um nun Dampf dahinter zu setzen, beschlossen
die im DBB, sowie die christlich und syndikalistisch
organisierten Fliesenleger am 13. September, daß
ab 1. Oktober 1932 zu den bisherigen Schundlöhnen
nicht mehr gearbeitet werden solle. Die in Ar-beit stehenden Leger teilten dann den einzelnen
Firmen schriftlich diesen Beschluß mit.
Alle Unternehmer verhielten sich ablehnend.
Dann endlich am 90. September, als am Ablauf des
gestellten Termins, schrieb der Arbeitgeberverband
uns, daß er eventuell bereit sei, mit uns zu verhandeln,
aber nur dann, wenn
1. die für den 1. Oktober, vormittags angesetzte
Versammlung der Fliesenleger ausfalle und
2. wenn wir als Organisation schriftlich erklären
würden, zu den bisherigen Löhnen weiter zu arbeiten.
Die Versammlung der Fliesenleger am 1. Oktober
lehnte diese Zumutungen einstimmig ab
und beauftragte die Lohnkommission, den Unternehmern
nachstehende Antwort zuzustellen:
„Die am Samstag, dem 1. Oktober 1932 stattgefundene
Fliesenleger-Versammlung der drei beteiligten Organisationen
hat zu den aufgestellten Schriften der Arbeitgeber-Vereinigung
vom 30. September und 1. Oktober Stellung genommen. Wir,
die Unterzeichnenden, wurden beauftragt, der Arbeitgeber-Vereinigung
über die Stellungnahme Fliesenleger-Organisationen
folgenden Bericht zu übersenden:
l. Der Versammlung ist nicht bekannt, wo und wann zwischen
einreißen Firmen und Legern rechtsverbindliche Arbeitsabmachungen
(Wochenarbeitszeit) abgeschlossen sind und damit
nicht in der Lage, eine diesbezügliche schriftliche Erklärung
abzugeben.
Soweit gilt 53 Abmachungen Kollegen, wird eine Verständigung
leicht zu erreichen
2. Falls in Verhandlungen über Abschlag eines Arbeits-,
Lohn- und Akkordtarifvertrages eingetreten wird, muß zunächst
die gegenseitige Tarifsicherung einwandfrei festgelegt
werden.
3. Soll die Arbeitsverteilung auf paritätischer Grundlage und
Arbeitsvertrag eingefügt und anerkannt, — und in der Praxis
streng durchgeführt werden.
4. Die Vorsammlung der drei Fliesenleger-Organisationen
hält die Durchführung dieser grundsätzlichen Forderungen (2
u. 3) für wichtiger, als die Festlegung hoher Tarifabschlüsse.
5. Die in Arbeit stehenden Fliesenleger erklären, daß sie nicht
mehr gewillt sind, zu den bisherigen von den Arbeitgebern einseitig
diktierten Schund- und Schandlöhnen die Arbeiten auszuführen.
6. Auf Antrag Windhoff beschließt die Versammlung:
Die in Arbeit stehenden Kollegen sollen allein durch Abstimmung
kundtun, ob sie Arbeit Montag, den 3. Oktober,
aufgenehmen oder so lange ruhen soll, bis die grundsätzlichen
Forderungen anerkannt sind.
Resultat ist:
„Die in Arbeit stehenden Kollegen beschließen einstimmig,
die Arbeit vorläufig ruhen zu lassen. Dann beschließen die Erwerbslosen
ebenfalls einstimmig allseitig weitgehende Solidarität
auszurufen.“
Soweit zur Information. — Von Herrn Diebs erbitten wir
nun Bescheid, ob die Herren bereit sind, sich auf Grundlage der
Punkte 2 und 3 mit uns zu verständigen.
Antwort erbitten wir nur an unsere gemeinsame Lohnkommission
z. Hd. C. Windhoff, täglich von 9 Uhr vormittags ab in
Haus Kroll, Am Wehrhahn Nr. 70, Fernruf 26966.
Für die Vereinigung der Fliesenleger gez.: Windhoff,
Schnock, G. Wagner.
Für den Baugewerksbund gez.: Terhorst, Albert, Andr. Kohnen
Für die christl. Baugewerkschaft gez.: Johann May.
Am 5. Oktober teilte der Arbeitgeberbund uns
dann schriftlich mit, daß er die von uns verlangte
Position 3 einstimmig abgelehnt habe.
Daraus ist ersichtlich, daß die Herren die
ihnen unbequemen tariftreuen Fliesenleger
auch in Zukunft von jeder Mitarbeit ausschalten
und dem Hunger ausliefern wollen.
Hinter dieser sozial rückständigen Einstellungder
Herren Unternehmer steckt als Treiber der Syndikus der Unternehmer, Dr. Frohn-Köln.
Wir kommen zum Schluß und stellen fest:
Während Regierung, Behörden und alle Gewerkschaften
kategorisch die Einstellung von Erwerbslosen
fordern, lehnen die Unternehmer im Fliesengewerbe
jede Mitbeschäftigung von Erwerbslosen
mittelst des Krümpersystems (x) radikal ab.
Die Unterzeichneten waren gewillt, sich auf gütlichem
Wege zu verständigen, die Unternehmer
aber wollten den Kampf.
Düsseldorf, den 10. Oktober 1932.
Für die gemeinsame Lohnkommission:
Vereinigung der Fliesenleger: C. Windhoff,
G. Wagner.
Deutscher Baugewerksbund: A, Terhorst,
A. Kohnen.
Christl. Baugewerkschaft: Johann May.
Streik!
Das bis hier Gesagte wurde als Flugblatt in einigen
Tausend Exemplaren im Streikgebiet verbreitet
und von den Bauarbeitern sympathisch begrüßt.
Die Unternehmen waren sich klar darüber und
haben eingestanden, daß es ihnen ohne Hilfe der
Gewerkschafts-Bürokratie unmöglich wäre, den
Streik siegreich zu bestehen.
Genau so wie bei dem Streik der Köl –
n e r F l i e s e n l e g e r i m J a h r e 1 9 2 5 wandten
sich die Herren in ihrer Not um Hilfe bittend an
die angestellten Kommandeure des Baugewerksbundes
und der christlichen Baugewerkschaft in
Köln und Düsseldorf und fanden dort bereitwilligst
Gehör und Verständnis.
Hinter dem Rücken und gegen den Willen
ihrer Mitglieder kamen diese Bonzen
und Schmarotzer mit den Unternehmern
und deren Syndikus Dr. Frohn dreimal im
Bahnhofs-Hotel und im feudalen Café Bittner
in Düsseldorf zusammen und beschlossen:
1. Die wichtigsten Forderungen der Fliesenleger
betr. Tarifsicherung und Arbeitsverteilung nach
dem Krümpersystem werden abgelohnt.
2. Der Streik wird abgewürgt.
3. Der staatliche Schlichter wird angerufen und mit
dessen Hilfe ein neuer Tarif – aber nur mit dem Baugewerksbund
und den Christen – abgeschlossen.
4. Die Syndikalisten, die den Streik inszeniert haben
und insbesondere deren Wortführer C. Windhoff,
werden von allen Verhandlungen ausgeschlossen.
5. Der Baugewerksbund und die Christen liefern
den Unternehmern die erfoderliche Anzahl Arbeitswillige.
6. Falls die Fliesenleger sich weigern sollten, die Arbeit
aufzunehmen, wird ihnen seitens der beiden
Verbände die Streikunterstützung entzogen.
7. Dem Arbeistamt wird mitgeteilt, der Streik sei
beigelegt und nunmehr sollen die nicht am Streik
beteiligten erwerbslosen Fliesenleger den bestreikten
Unternehmern vermittelt werden.
An diesem hinterlistigen verrackten Plan,
an diesem schmutzigen Arbeiterverrat
haben folgende Gewerkschaftsbürokraten mitgewirkt:
a) vom Baugewerksbund: Bezirksleiter Christian
Ahrens-Köln, Angestellter H. Jäger-Köln, Angestellter
und Vorsitzender Konrad Schergel, Düsseldorf,
Fliesenleger Albert Terhorst-Düssel-dorf;
b) von der christl. Baugewerkschaft; Bezirksleiter
Hausgen-Köln, Angestellter C. Sauer-Düsseldorf.

In treuer Waffenbrüderschaft mit dem Arbeitgeberbund
und Hand in Hand mit dessen Syndikus Dr.
Frohn haben dann die oben genannten Herren ihre
Beschlüsse durchgeführt, wohl haben sich zwölf
Arbeitswillige dank der Treiberei der beiden Verbände
gefunden, aber die Abwürgung des Streiks
ist nicht gelungen.
Am 31. Oktober und am 3. November nahmen
zwei stark besuchte Versammlungen der Fliesenleger
zu dem schmutzigen Sklavenhandel der Bü-
rokraten Stellung und beschlossen einmütig und
ohne Widerspruch:
Der Streik wird in verschärfter Form weiter
geführt gegen die Unternehmer und gegen
die als Knochen- und Sklavenhändler auftretenden
sozialdemokratischen und christlichen
Gewerkschaftshäuptlinge.
Arbeiter! Klassengenossen!
In der Presse und in ihren Verhandlungen, wo es
keine freie Diskussion gibt, da predigen die christlichen,
freigewerkschaftlichen und sozialdemokratischen
Volksbeglücker das einheitliche Vorgehen
der Arbeiterschaft und den Kampf gegen die den
Lohnabbau machenden Unternehmer, – und buhlen
um die Stimmen der Arbeiter,
aber in der täglichen Praxis zerschlagen sie
überall das einheitliche Vorgehen der verschiedenartig
organisierten Arbeiter und helfen
den Unternehmern, die Kämpfe der hungernden
Arbeiter niederzuschlagen.
Zum Schluß sei noch gesagt, daß wir bereits
am 4. November an die Schriftleitung der SPD-

“Volkszeitung“ und die KPD-“Freiheit“ in Düsseldorf
einen ähnlichen Bericht einsandten. Ich
erklärte mich bereit, für denselben die volle, auch
pressegesetzliche, Verantwortung zu übernehmen.
Die „Freiheit“ sagte die Veröffentlichung sofort zu,
hat den Berict aber noch nicht gebracht Hoffen wir
das Beste. Die SPD-Zeitung rührte sich überhaupt
nicht, das Manuskript bekamen wir erst durch Drohung
mit Zwangsmaßnahmen zurück, natürlich
ohne ein Wort der Entschuldigung. Acht Tage lang
hatten die Volks-Zeitungs-Redakteure über unseren
Streikbericht nachgegrübelt und ihre konservativen
Gehirne angestrengt, wie sie die erhaltene Prügel
wohl am besten parieren könnten.
Schließlich brachte die „Volkszeitung“ am 14.
November einen Bericht mit der Überschrift „Syndikalistische
Lügen über die Lohnbewegung der
Fliesenleger“, der zur Düpierung der Leser berechnet
war. Darin wird wiederum versucht, mit plumpem
Schwindel die Gewerkschaftsbürokratie rein
zu waschen. Wir werden schon dafür sorgen, daß
dies nicht gelingt und die Heldentaten der Gewerkschaftshäuptlinge
und deren untertäniger Diener,
der Volkszeitungsmänner, öffentlich anprangern,
mögen sie noch so sehr geifern und quietschen.
Düsseldorf, den 15. November 1932.
Die gemeinsame Lohnkommission der Fliesenleger
and deren Streikleitung, an der beteiligt sind:
Vereinigung der Fliesenleger (Syndikalisten),
Deutscher Baugewerksbund, Christl. Baugewerkschaft,

I. A.: Carl Windhoff.
• Der Syndikalist, Nr. 47 – 1932 [26. November 1932]

Hartz IV: Hungertod durch Leistungsentzug (3)

http://media.de.indymedia.org/images/2007/06/186459.jpgRund zwei Monate nach dem Tod eines Jugendlichen in Speyer, der verhungern musste, weil ihm die Behörden durch Sanktionen sämtliche Sozialleistungen versagt hatten (WCN berichtete), hat die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke eingeräumt, die Streichmaßnahmen der örtlichen GfA wären „rechtsfehlerhaft“ gewesen. Konsequenzen, um etwaige zukünftige Todesfälle zu vermeiden, will man aber offenbar nicht daraus ziehen.

Das rheinland-pfälzische Sozialministerium hatte zuvor ein Verschulden der örtlichen Behörden ausgeschlossen. Die Bundesregierung sieht auch keinen Anlass, der ebenfalls durch Unterernährung betroffenen Mutter des Verstorbenen mit Entschädigungsleistungen für den rechtswidrigen Verwaltungsakt entgegenzukommen.

Während auf dem Friedhof von Speyer, Parzelle 8, ein sogenanntes „Armengrab“ wo der 20-jährige André Kirsch seine letzte Ruhe gefunden hat, ein niedergelegter Kranz verspricht: „Wir werden Dich nie vergessen„, nehmen die Medien längst keine Notiz mehr von der skandalösen Tragödie. Nur dem regionalen SWR war das parlamentarische Nachspiel noch ein paar pflichtgemäße Zeilen wert, in den Internetforen von Arbeitsloseninitiativen wird das Thema dagegen heftig diskutiert, die Klagen über ungerechtfertigte Behördenentscheidungen nehmen sprunghaft zu.

Im vorliegenden Fall hatte offenbar ein Sachbearbeiter entweder durch Unkenntnis der Gesetzeslage oder durch Willkür die verhängnisvolle Katastrophe ausgelöst: Bei den festgestellten drei Meldeversäumnissen hätte die Kürzung der Leistung gleich welchen Alters nur jeweils 10% pro Aufforderung betragen dürfen, eine Streichung war somit ungerechtfertigt, den Betroffenen hätten weiterhin ca. 200 Euro pro Monat zugestanden.

Der komplette Leistungsentzug ist jedoch bei „schwereren Vergehen“ wie z. B. Nichtannahme einer zumutbaren Arbeit oder die Verweigerung einer Fortbildungsmaßnahme gängige Praxis und wird von den ARGEN meist auch gnadenlos durchgezogen. Schon bei einer erstmaligen Pflichtverletzung dieser Art erhalten unter 25jährige Erwachsene für mindestens 3 Monate keine Geldleistungen mehr und werden die Leistungen des ALG II auf die Übernahme der Unterkunfts- und Heizkosten beschränkt.

Kommt noch eine zweite Pflichtverletzung hinzu, fallen alle Leistungen vollständig weg. Im ersten Fall kann der Leistungsträger Lebensmittelgutscheine in Höhe von 39% der Regelleistung ausgeben, muss es aber nicht, wenn der Betreffende kein Wohlverhalten an den Tag legt.

Treffen andauernder Behördendruck und eine zunehmend beobachtbare Lethargie bei Langzeitarbeitslosen zusammen, haben Menschen, die zu Depressionen neigen und über keine nennenswerte sozialen Kontakte mehr verfügen, schnell ein erhöhtes Mortalitätsrisiko. Der bürokratische Verwaltungsapparat ist nicht in der Lage zu erkennen, ob nun ein gesunder Trotz zur Verweigerung führt oder eine mögliche Arbeitsunfähigkeit wegen einer psychischen Erkrankung vorliegt.

Gerade auch von linker Seite kommt des öfteren der Einwand: Muss der Staat sich denn um alles kümmern, ist das nicht vielmehr eine Tragödie die sich nun mal nicht verhindern lässt ? Nun, die „Fürsorgepflicht“ des Staates geht bei Verdachtsfällen von Leistungsmißbrauch immerhin so weit, dass Nachbarn ausgefragt werden und sogar in der Schmutzwäsche von Betroffenen nach Spuren eines eheähnlichen Zusammenlebens gesucht wird. Auf der anderen Seite, wenn Leistungen gekürzt oder eingestellt werden, kümmert sich die verantwortliche Behörde nicht weiter um die Folgen solcher Zwangsrationierungen.

Würde der Gesetzgeber hingegen auf die Umsetzung besonders harter Sanktionsmaßnahmen (sanctus = heilig, fromm, vollkommen !?) verzichten, wäre der Burgfrieden in diesem „Sozialstaat“ zwar auch noch nicht wiederhergestellt, trotzdem – wie auch der Sozialexperte der Partei DIE LINKE, Ulrich Maurer feststellte – unter der alten gesetzlichen Regelung wäre dieser Mensch wahrscheinlich nicht zu Tode gekommen.

Aber wie die verhärteten Fronten in unserer Gesellschaft nun mal so sind: Die Stadtverwaltung von Speyer will ein geplantes Mahnmal für den Toten nicht zulassen. Begründung: Dadurch würde das Stadtbild beeinträchtigt und öffentliche Anpflanzungen beschädigt.

Quellen:
Verhungerter hätte Hartz IV bekommen müssen (SWR, 15.06.2007)
Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE: Hungertod eines Hartz-IV-Empfängers und Verantwortung des Gesetzgebers (Drucksache 16/5393, 06.06.2007)
Mann verhungert: Amt räumt Fehler ein
(Pressemitteilung DIE LINKE im Bundestag, Ulrich Maurer, 15.06.2007)
Kein Kranz, kein Blumenstrauß …
(speyer-aktuell.de, mit Forum, April 2007)
Hunger! – Eine hausgemachte Tragödie deutscher Sozialpolitik
(Linke Zeitung, 24.06.2007)
Hungertod: Chronologische Artikelübersicht
(Bürgerinitiative „MALZ für ein soziales Minden“)
Sanktionskatalog ALG II
(ausführlich, mit Beispielen, tacheles-sozialhilfe.de, März 2007)
Tacheles – TV : GfA diskriminiert kranke Mitmenschen (Videos, toky.it,)

Eigene Berichte:
Hartz IV: Hungertod durch Leistungsentzug (1) (WCN, 19.04.2007)
Hartz IV: Hungertod durch Leistungsentzug (2) (WCN, 27.04.2007)

Hartz IV: Hungertod durch Leistungsentzug (2)

Rund eine Woche, nachdem bekannt wurde, dass in Speyer ein 20-jähriger Hartz IV-Empfänger an Unterernährung starb, weil ihm von den Behörden alle Sozialleistungen gestrichen wurden (World.Content.News berichtete), fanden letzten Donnerstag Mahnwachen und eine Kundgebung statt. Die örtliche Staatsanwaltschaft hat inzwischen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, nicht etwa gegen die Behörden – sondern gegen die Mutter des Toten, die immer noch im Krankenhaus liegt. Es wird gegen sie wegen unterlassener Hilfeleistung ermittelt. Das Grundgesetz mit der Garantie der Menschenwürde und das darin verankerte Sozialstaatsprinzip bleiben derweil rechts liegen.

Hierzu der Wortlaut des bisher einzigen Presseberichtes:

Mannheimer Morgen vom 27.04.07

Staatsanwälte ermitteln gegen Mutter des Verhungerten

Mahnwache für den toten Speyerer in Ludwigshafen / Behörde untersucht Verdacht der „Tötung durch Unterlassung“

Von Andreas Dauth und Martin Geiger

Ludwigshafen/Speyer. Wut, Trauer und Protest bestimmen die Stimmung. Laute Buhrufe und gellende Pfiffe verleihen ihr Ausdruck: Vor der Gesellschaft für Arbeitsmarktintegration (GfA) in der Ludwigshafener Kaiser-Wilhelm-Straße kam es gestern zu einer Mahnwache mit anschließender Kundgebung. Dazu aufgerufen hatte der Verein Soziales Netzwerk Deutschland. Der Anlass war der Tod des 20-jährigen Arbeitslosen, der vor zwei Wochen in seiner Wohnung in Speyer verhungerte. Gegen dessen Mutter läuft derweil ein Ermittlungsverfahren.

Rund 30 Betroffene und Aktive der Montagsdemonstrationen Mannheim, Heidelberg und Ludwigshafen beteiligen sich an der Mahnwache, die ebenso wie die Kundgebung friedlich verläuft. Jobsuchende auf dem Weg zur GfA bleiben immer wieder an den Ständen stehen und hören den Rednern zu. Diese bekräftigen ihre Entschlossenheit, Hartz IV zu bekämpfen und erklären sich zur Solidarität mit den Gewerkschaften bereit. Einig ist man sich darin, dass in einem der reichsten Staaten der Welt kein Mensch verhungern dürfe: Ein Vorwurf, der in Richtung GfA geht, die dem Speyerer und seiner Mutter die Fördergelder strich, nachdem beide mehrere Termine platzen ließen.

Von Seiten der Staatsanwaltschaft wird der Behörde indes nichts vorgeworfen. Es wird nur gegen eine Person ermittelt, erklären die zuständigen Beamten in Frankenthal, und das sei die 48-jährige Mutter des Verstorbenen. „Tötung durch Unterlassung“ lautet der Verdacht, erläutert der Leitende Oberstaatsanwalt Lothar Liebig und fügt hinzu: „Der Frau kann allerdings nur ein Vorwurf gemacht werden, wenn sie selbst in der Lage gewesen wäre, lebensrettend einzugreifen, und zwar in dem Moment, in dem der Sohn nicht mehr Herr seiner Entscheidungen war.“

Ob die selbst stark unterernährte Frau dazu noch in der Lage war, muss ein ärztliches Gutachten über ihre Verfassung klären. „Das ist die entscheidende Weichenstellung“, so Liebig. Sollten die Mediziner zu der Einschätzung kommen, dass die 48-Jährige nicht fähig war, ihrem Sohn zu helfen, könnte es zu einer Einstellung des Verfahrens kommen. Im anderen Fall droht ihr eine Anklageerhebung wegen fahrlässiger oder vorsätzlicher Tötung. Für Ersteres sieht das Gesetz eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder eine Geldstrafe vor. Ein Vorsatz würde das Höchststrafmaß auf 15 Jahre erhöhen.

Entscheiden wird sich dies allerdings erst in mehreren Wochen nach Ende der Ermittlungen und nach „sorgfältiger Überprüfung der Gesamtsituation“, wie Liebig betont. Derzeit könne die Betroffene selbst nicht vernommen werden, weil ihr Gesundheitszustand dies nicht zulasse. Frühestens in zwei Wochen sei damit zu rechnen.

Derweil befindet sich die Frau nach wie vor in einer Klinik. „Sie ist noch nicht in der Lage zurückzukehren“, berichtet eine Sprecherin der Stadt Speyer. Man stünde jedoch mit den Ärzten in Kontakt, um das gegebene Versprechen erfüllen zu können: Nach ihrer Entlassung dafür zu sorgen, dass sie eine neue Wohnung bekommt.

Related News:
Kritik an Behörden nach Hungertod in Speyer
(Evangelischer Pressedienst, 27.04.2007)
Von Arbeit muss man leben können und ohne Arbeit auch
(PR-SOZIAL, 25.04.2007)
Montagsdemos: „Hier stimmt was nicht mit dem ganzen System!“
(Rote Fahne News, 24.04.2007)
Hartz IV – Die hungernden Kinder der Koalitionspolitik
(Sozialticker, 24.04.2007)

Siehe auch :
Hartz IV: Hungertod durch Leistungsentzug (1) (WCN, 19.04.2007)
Hartz IV: Hungertod durch Leistungsentzug (2) (WCN, 27.04.2007)
Hartz IV: Hungertod durch Leistungsentzug (3) (WCN, 27.06.2007)

Hartz IV: Hungertod durch Leistungsentzug

Wer arbeitet, soll etwas zu essen haben, wer nicht arbeitet, braucht nichts zu essen.“ Dieses furchtbare Zitat von Franz Müntefering, gefallen im Mai letzen Jahres auf einer SPD-Fraktionssitzung im Zusammenhang mit dem Hartz-IV-Fortentwicklungsgesetz, hat jetzt offiziell ein erstes Todesopfer nach sich gezogen: Ein 20-jähriger Jugendlicher aus dem pfälzischen Speyer starb an Unterernährung, weil ihm die Behörden wegen „Pflichtverletzungen“ sämtliche sozialen Leistungen entzogen hatten.

Der junge Mann hatte sein Leben noch vor sich, doch die Behördenbürokratie hat mit ihren brutalen Sanktionsmaßnahmen erreicht, was laut Grundgesetz und allen zivilisatorischen Einsichten gar nicht sein dürfte: Verhungern durch unterlassene Hilfeleistung.

Die dortige ARGE (in diesem Fall namentlich GfA – Gesellschaft für Arbeitsmarktintegration) weist jegliche Schuld von sich: Sie argumentiert, in Speyer gäbe es doch kirchliche Einrichtungen, bei der sich der Jugendliche sein Essen hätte besorgen können. Hätte Könnte. Darf der Staat seine Fürsorgepflicht an private Einrichtungen einfach so abschieben?

Tatsächlich sind bei Hartz IV keinerlei Regelungen vorgesehen, die bei einer Leistungskürzung oder dem vollständigen Entzug die möglichen Folgen einer solchen Maßnahme im Auge behält. Hier werden Menschen quasi einfach auf den Müll geschmissen und müssen selbst zusehen, wie sie über die Runden kommen, wenn sie sich „Fehlverhalten“ zuschulden kommen haben lassen. Und wer das aus psychischen oder körperlichen Gründen nicht kann, etwa weil er zu stolz zum Betteln ist?

Was viele nicht wissen (wollen?): Der Hungertod in unseren „sozialen“ Marktwirtschaften ist nicht unbedingt eine Ausnahmeerscheinung. Meistens sind es ältere Menschen, die wegen eines zu geringen Lebensunterhaltes an den Folgen einer Mangelernährung sterben. Dies wird jedoch in den seltensten Fällen publik. Aus Scham, ergänzende Sozialleistungen beantragen zu müssen, durchsuchen sie Nächtens lieber die Mülltonnen nach Pfandflaschen und Essbarem. Nicht nur Politiker schauen gerne weg.

Mit Langzeitarbeitslosen, die sich den oft schikanierenden und manchmal auch menschenunwürdigen Behördenhandeln widersetzen oder meist nur passiv Versäumnisse verschulden, wird nach §31 SGB kurzer Prozess gemacht: Dreimal verkehrt reagiert (Kürzungen: 30-60-100 Prozent, bei unter 25-jährigen reichen bereits zwei Verstöße) und der Hilfsbedürftige findet sich auf der Straße wieder. Das Sozialgesetzbuch verkommt zum Strafgesetzbuch, die Würde des Menschen wird außer Kraft gesetzt. Nach einem Bericht der Bundeagentur für Arbeit müssen inzwischen knapp 20.000 Langzeitarbeitslose mit zwei und mehr Sanktionen leben.

Der jetzt unter noch nicht ganz geklärten Umständen verhungerte junge Mann (seine Mutter wurde mit ernährungsbedingten Mangelerscheinungen ins Krankenhaus eingewiesen) ist wohl der erste einfach so Verhungerte, aber längst nicht das erste Opfer, das diese unsoziale Gesetzgebung hervorgebracht hat. Bereits im November 2004 nahm sich ein Mann in Ludwigsburg das Leben, indem er mit seinem Auto in den Haupteingang der regionalen Arbeitsagentur raste. Die Zahl der Selbstmorde von Arbeitslosen, die sich wegen einer finanziell ausweglosen Situation umbringen, steigt von Jahr zu Jahr kontinuierlich.

Aber auch die Zahl derer wächst, die sich den Androhungen und Zwangsanordnungen verbal entgegenstellen. Fast täglich kommt es auf den Fluren der meist spartanisch eingerichteten ARGEn zu lautstarken Auseinandersetzungen, aus Angst vor Handgreiflichkeiten hält sich in den meisten größeren Städten zusätzliches Sicherheitspersonal zum Eingreifen bereit. Die angestellten Sachbearbeiter, denen oft keine andere Wahl bleibt und die aus Angst vor Entlassung die Vorschriften ohne einen eigenen Ermessungsspielraum buchstabengetreu umsetzen müssen, sind völlig überfordert, der Krankenstand in diesem Bereich zählt zu den höchsten in dieser Republik.

Inzwischen gibt es auch eine erste Reaktion von Speyrer Arbeitsloseninitiativen. Mit einer Mahnwache und Kundgebungen wollen sie am 26. April auf dieses unfassbare tragische Ereignis aufmerksam machen. Es ist davon auszugehen dass es nicht dabei bleibt und sich bundesweit auch andere Organisationen mit entsprechenden Aktionen anschließen.

Damit Hartz IV und dumme Sprüche von sogenannten Sozialdemokraten endgültig der Vergangenheit angehören werden.

Quellen:
Hungertod eines Arbeitslosen – Tödliche Gesetzes-Logik
(stern.de, 19.04.2007)
Behörde sieht keine Schuld am Tod eines Arbeitslosen (N 24, 18.04.2007)
Ludwigshafen: Betreiber von HARTZ IV verwalten den Hunger und übersehen den Tod (stattweb.de, 18.04.2007)
Aktuelles vom Alg2-Hartz4-Forum (alg2-hartz4.de, 19.04.2007)
Arbeiten fürs Essen (Die Zeit, 10.5.2006)
Arbeitsloser tötet sich vor Arbeitsagentur (soned.at, 10.11.2004)

UPDATE: 20.04.: News und Reviews

Protest:
Ort und Rahmen des lokalen Gedenkens stehen inzwischen fest:
Donnerstag den 26.04.07 von 10.00 – 17.00 Uhr Mahnwache und Kundgebung vor der GfA -Vorderpfalz in Ludwigshafen!
Abschlusskundgebung von 15.30- 16.30 am Theaterplatz vor dem Pfalzbau
Mehr dazu…

Der Hungertod hat bisher (20.4., 16:00) in der Presse eine eher verhaltene Resonanz gefunden. Größere Tageszeitungen (Süddeutsche, FR, FAZ, Welt) waren sachlich, Berichte von Stern de und des Kölner Stadtanzeigers vermitteln Betroffenheit. ARD, ZDF, Spegel Online und Bild haben davon überhaupt keine Notiz genommen, hier steht stattdessen das Wohlergehen des Eisbären Knut im Vordergrund. Auffallend ist, dass in den Artikeln eine depressive Erkrankung des Opfers zentral herausgehoben wird, als wäre dies bei Langzeitarbeitslosen etwas Besonderes. Dass dem 20jährigen kein einziger Euro mehr überwiesen wurde (was seine Mutter erhielt ist noch unklar…) geht in der Berichterstattung eher unter. Ein Blogger will wissen, der 20jährige hätte beim Auffinden nur noch 35 kg gewogen.

Kölner Stadtanzeiger: Arbeitsloser qualvoll verhungert
… Die Verhältnisse in der Sozialwohnung, in der Sascha K. und seine 48-jährige Mutter Elisabeth wohnten, beide Hartz-IV-Empfänger, waren aber alles andere als normal. Vermutlich haben die beiden monatelang ohne ausreichende Nahrung und ohne Kontakte dahinvegetiert. „Leben“, sagt Nachbar …, „kann man das ja nicht nennen.“ … Im Polizeiprotokoll ist vermerkt, es seien keinerlei Lebensmittelvorräte gefunden worden. … Zum Artikel …

Juraforum: „Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet zur Hilfe!“
… Im Grundgesetz heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, Art. 1 Abs. 1 GG. Außerdem sind Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an die nachfolgenden Grundrechte „als unmittelbar geltendes Recht“ ausdrücklich gebunden, Art. 1 Abs. 3 GG. Für den 20-jährigen Mann aus Speyer müssen die Garantie der Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip nur leere Worthülsen und nicht sättigende Absichtserklärungen gewesen sein. Der arbeitslose Mann verhungerte im April 2007 in Deutschland, weil das Geld für Lebensmittel fehlte. … Wer Sanktionen verhängt, darf nicht die Augen vor den Folgen verschließen! … Zum Artikel …

und soeben frisch aus dem Ticker geflossen:
Hungertod durch Hartz IV. Caritas fordert mehr ALG

In der Debatte um Mindestlohn und Freibetragsregelung bei ALG2 gibt es neue Äußerungen von Münterfering:

Der Sozialticker: Hartz IV Empfänger verdienen wohl noch zu viel
… So ist laut Müntefering zufolge – der Mindestlohn und die Zuverdienstmöglichkeiten der Bezieher von Arbeitslosengeld II noch strittig. Er halte eine Verständigung für möglich, den Freibetrag von 100 Euro bei Zuverdiensten auf einen Sockelbetrag von 35 bis 40 Euro zu verringern. Dadurch soll der Anreiz steigen, dass sich Arbeitslose nicht mit einem geringen Zuverdienst und staatlichen Zahlungen einrichten. Quelle: Reuters. Damit folgt ein weiterer Schritt in die Ausgrenzung von sozial Schwachen in Richtung Armut trotz Arbeit. Wie auch sein letzter Coup: “Wer nicht arbeitet – soll auch nicht essen”, hatte der SPD Politiker schon einen messbaren Erfolg erzielen können, denn wie den Medien bekannt, gibt es bereits ein erstes Hartz IV Todesopfer, welcher den qualvollsten Tod unterlegen ist – dem Verhungern. … Zum Artikel …

Wiesbadener Kurier: „Hartz IV plus X“
… Müntefering betont stattdessen, dass er einen generellen Mindestlohn favorisiert. Differenzierungen seien möglich, etwa nach Ost und West sowie nach „ungelernten und grundqualifizierten“ Mitarbeitern. … Einig sind sich Union und SPD bisher über Kombilöhne bei jüngeren Arbeitslosen und besonders schwer Vermittelbaren. Auch die Zuverdienstmöglichkeiten bei Hartz IV sollen strenger gefasst werden. Bisher dürfen die ersten 100 Euro, die neben dem Arbeitslosengeld II verdient werden, komplett behalten werden. Dies soll nach Münteferings Vorstellungen auf „35 oder 40 Euro“ abgesenkt werden. Ziel ist es, die Langzeitarbeitslosen zu animieren, möglichst Vollzeitstellen zu suchen, statt sich mit Mini-Verdiensten neben Hartz IV zufrieden zu geben. … Zum Artikel 

Siehe auch :
Hartz IV: Hungertod durch Leistungsentzug (1) (WCN, 19.04.2007)
Hartz IV: Hungertod durch Leistungsentzug (2) (WCN, 27.04.2007)
Hartz IV: Hungertod durch Leistungsentzug (3) (WCN, 27.06.2007)