Die Genfer Frauensektion der Ersten Internationale

Quelle: http://antjeschrupp.de/die-genfer-frauensektion

Die Erste Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA) war eine Vereinigung von Männern. Wenn Peter Kropotkin schreibt, dass bei Gründung der Internationale »die Aufforderung an die Arbeiter erging, sich ohne Unterschied von Glauben, Geschlecht, Nation, Rasse oder Farbe zusammenzuschließen[^1]«, dann tut er der Organisation zuviel Ehre an: In den Statuten der IAA ist ausdrücklich nur die Rede von »allen Menschen, ohne Rücksicht auf Farbe, Glauben oder Nationalität[^2]«. Es ist kein Zufall, dass das Geschlecht fehlt. Bei allen sieben internationalen Kongressen und Konferenzen gab es ausschließlich männliche Delegierte, und auch in der ausgesprochen umfangreichen Literatur über die Erste Internationale kamen Frauen bislang so gut wie nicht vor[^3]. Daraus lässt sich aber keineswegs schließen, dass Frauen explizit ausgeschlossen gewesen wären, im Gegenteil: »Ladies are admitted[^4]«, betonte Marx kurz nach der Gründungsversammlung im September 1864 in London. Doch offenbar haben die Frauen von diesem Angebot nicht allzu regen Gebrauch gemacht. Weiter lesen „Die Genfer Frauensektion der Ersten Internationale“

Augustin Souchy Bauer (* 28. August 1892 in Ratibor, Oberschlesien; † 1. Januar 1984 in München)

Jugend und Erster Weltkrieg

Augustin Souchy, Anarchist, Landauer-Schüler, Anarchosyndikalist und Antimilitarist, bezeichnete sich selbst eher als „Studenten der Revolution“, der neben der russischen Revolution, die deutsche, die spanische, die kubanische und die portugiesische Revolution erlebte, zum Teil mitgestaltete und beschrieb.

Als 19-Jähriger traf Augustin in Berlin Gustav Landauer und begann für dessen Sozialistischen Bund zu agitieren.

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs reiste der 22-jährige überzeugte Antimilitarist nach Österreich aus. Von dort wurde er als Anarchist abgeschoben, mit einem Schild um den Hals „Vorsicht Anarchist!“, das er später zum Titel seiner politischen Lebenserinnerungen umfunktionierte. Er reiste in das neutrale Schweden, bekam dort Passprobleme und wurde in Haft genommen. Es gelang ihm die Flucht und er reiste illegal über Dänemark und Norwegen in Schweden ein.

Bei all seinen Reisen erlernte Souchy autodidaktisch sofort die Sprache des jeweiligen Gastlandes, brachte sich in die anarchistische Bewegung ein und fühlte sich ab diesem Moment dem jeweiligen Land und seinen Menschen zugehörig.[1] Weiter lesen „Augustin Souchy Bauer (* 28. August 1892 in Ratibor, Oberschlesien; † 1. Januar 1984 in München)“

Anton Rosinke (* 18. Dezember 1881 in Westpreußen; † 14. Februar 1937 in Düsseldorf)

Links: Siedlung „Freie Erde“ in Düsseldorf-Eller
Rechts: Anton Rosinke

Anton Rosinke war ein deutscher Anarchosyndikalist. Der gelernte Schmied gehörte zu den aktivsten Anarchisten im Rheinland. Er engagierte sich für die 1921 gegründete Siedlung „Freie Erde“ in Düsseldorf-Eller und beteiligte sich nach derb nationalsozialistischen „Machtergreifung“ maßgeblich am Aufbau des anarchistischen Widerstandsnetzes im Rheinland. Er wurde 1937 verhaftet und starb nach körperlichen Misshandlungen im Polizeigewahrsam. Weiter lesen „Anton Rosinke (* 18. Dezember 1881 in Westpreußen; † 14. Februar 1937 in Düsseldorf)“

Helmut Rüdiger (* 22. Januar 1903 in Frankenberg; † Juni 1966 in Madrid)

Freie Arbeiter Union Deutschland-Kurzbiographie
Helmut RüdigerHelmut Rüdiger wurde 1903 im sächsischen Frankenberg geboren. Aus einem liberalen Elternhaus stammend, studierte er in Leipzig und München Germanistik und Kunstgeschichte. Als Jugendlicher schloss er sich zunächst der Wandervogelbewegung an, bis die Ereignisse von 1918 und 1919 sein Interesse an der Arbeiterbewegung weckten. Nach der Zerschlagung der Münchener Räterepublik studierte er intensiv die Arbeiten Gustav Landauers, ohne den der spätere anarchistisch-syndikalistische Theoretiker Rüdiger nicht zu verstehen ist. Weiter lesen „Helmut Rüdiger (* 22. Januar 1903 in Frankenberg; † Juni 1966 in Madrid)“

Karl Dingler (geb. 03. November 1900 in Göppingen – Tod am 24. Mai 1950 daselbst

Freie Arbeiter Union Deutschland-Kurzbiographie

Aktiv in der FAUD

Der Metallarbeiter Karl Dingler war der Motor der anarcho-syndikalistischen Bewegung Göppingens und darüber hinaus einer ihrer tragenden Säulen für ganz Württemberg. Mitte der zwanziger Jahre begann seine Tätigkeit in der FAUD- Göppingen, welcher dieser sehr gebildete Arbeiter besonders auf dem kulturellen Sektor zur Geltung verhelfen konnte. Den Göppinger Ortsverein der „Gilde freiheitlicher Bücherfreunde“ (GfB), eine Unterorganisation der FAUD, formte er Anfang der dreißiger Jahre zu eine der größten im Reichsgebiet. Vorort hatte sie mehr Mitglieder als die sozialdemokratische Büchergilde! Dingler hielt Vorträge und schrieb in „Der Syndikalist“ und in „Besinnung und Aufbruch“, dem Organ der GfB. Die versierte und zuverlässige Aktivität ließ Karl Dingler schon bald die Aufmerksamkeit u.a. von Rudolf Rocker und Erich Mühsam zukommen, woraus sich schließlich Freundschaften entwickelten. Rocker war zu Beginn der dreißiger Jahre in Göppingen auf Veranstaltungen der GfB genauso als Referent zu Gast wie der Schriftsteller Theodor Plievier und die weltbekannte Anarchistin Emma Goldman. Bei den Reichskongressen der FAUD der Jahre 1930 und 1932 vertrat Dingler gleich mehrere Ortsvereine Württembergs.
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Milly Witkop Rocker (geb. 1. März 1877 gest. 23. November 1955)

Von Links nach Rechts: Fermin Rocker (Sohn von Milly Witkop und Rudolf Rocker), Milly Witkop Rocker, Rudolf Rocker

Freie Arbeiter Union Deutschland-Kurzbiographie
Fam. RockerMilly Witkop Rocker (geboren am 1. März 1877 in der Ukraine/Slotopol; gestorben am 23. November 1955 in den USA, nahe New York), jüdische Anarcho-Syndikalistin und Anarcha-Feministin. Weiter lesen „Milly Witkop Rocker (geb. 1. März 1877 gest. 23. November 1955)“

Otto Müller (geb. 06.10.1902)

Freie Arbeiter Union Deutschland-Kurzbiographie
Der Göppinger Otto Müller (geb. am 06.10.1902) besuchte die Volksschule (heute Hauptschule) und wurde danach zum Mechaniker ausgebildet. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg schloß er sich der sozialdemokratischen „Sozialistischen Arbeiterjugend“ (SAJ) an und wohnte in direkter Nachbarschaft zum Anarcho-Syndikalisten Karl Dingler in der Osterbachstrasse. Seine Mitgliedschaft in der FAUD ist ab 1933 belegt. Er beteiligte sich an der illegalen anarcho-syndikalistischen Widerstandsgruppe in Württemberg, und wurde wegen dieser Zugehörigkeit im Jahre 1935 verhaftet. Daraufhin verbrachte er 13 Monate in Haft, u.a. im KL Welzheim. Er schrieb Gedichte, welche er 1947 unter Zulassung der US- Militärbehörden mit dem Titel „Hinter Gittern“ als Bändchen im „Kulturaufbau-Verlag“ Stuttgart unter Leitung des Anarcho-SyndikalistenHermann Zipperlen in einer Auflage von 3.000 Exemplaren herausbringen konnte. Müller war Mitglied der Göppinger Gruppe der Föderation freiheitlicher Sozialisten (FFS).

Sein Bruder Eugen Müller schrieb ihm folgendes Gedicht:

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Heinrich Friedetzky (* 08.10.1910 in Bebra † 14.05.1998 Alicante)

Der gelernte Elektriker aus Oberschlesien trat 1929 der FAUD (Freie Arbeiter Union Deutschlands) bei. Er wurde 1932 arbeitslos und reiste dann nach Spanien. 1933 kam er nach Deutschland zurück und f ührte bis 1937 illegale Aktionen durch. Heinrich Friedetzky ging 1937 wieder nach Spanien, wo er in der XI. Brigade, im Ernst Thälmann Bataillon (siehe auch Erinnerungsfragmente) kämpfte. 1938 wurde er von den italienischen Faschisten gefangengenommen und bis 1939 in einem spanischen KZ festgehalten. Danach wurde er an die Gestapo ausgeliefert. Der Volksgerichtshof der Nazis verurteilte ihn zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus. Er überlebte die Konzentrationslager Sachsenhausen und Ravensbrück.

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Rudolf Rocker (* 25. März 1873 in Mainz; † 19. September 1958 nahe Crompond, Westchester County)

Geboren in Mainz. Aus kleinbürgerlicher Fammilie stammend, mit 13 Jahren Vollweise; Volksschule, Buchbinderlehre; um 1890 erste politische Kontakte im Fachverein für Buchbinder, beeinflußt von den Schriften Johann Mosts und Michail Bakunins; Mitglied der SPD als Leiter eines sozialdemokratischen Jugend-Leseklubs in Mainz und Anhänger der sogenannten Jungen, erste Konflikte mit der Partei. 1891 Bekenntnis zum Anarchismus; 1892 Verfolgung wegen illegaler anarchistischer Propagandatätigkeit in Mainz; deshalb Flucht nach Paris, dort Mitglied in der Exilgruppe Unabhängige Sozialisten; 1895 nach London, als Nicht-Jude Aufnahme in Gemeinde ostjüdischer Anarchisten, Redakteur Der Arbeiterfreund in  jiddischer Sprache, persönliche Bekanntschaft mit und Schüler bei Peter Krapotkin; Dezember 1914 Verhaftung als „gefährlicher Ausländer“ und Internierung bis 1918, März 1918 als Austauschgefangener nach Holland, von dort im November gleichen Jahres nach Deutschland; Anschluß an die anarcho-syndikalistische Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVdG), ab 1919 intellektueller Führer der deutschen Anarchosyndikalisten, Dezember 1919 Mitgründer der Freie Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten); Organisator und Theoretiker der 1922 gegründeten syndikalistischen Internationalen Arbeiter Assoziation (IAA). Nach nationalsozialistischer Machtübernahme März 1933 Emigration in die USA, dort schriftstellerische Tätigkeit.

 

Rudolf Rocker 1873 bis 1958 (Ideenwelt und Biografie)

Es ist kein Autoritätskult, wenn man das Wirken eines verstorbenen Freundes würdigt, der für die Freiheit gekämpft, sich bei Lebzeiten um die Mitwelt und durch seine hinterlassenen Werke um die Nachwelt verdient gemacht hat. In Rockers Militantenlaufbahn lassen sich drei Hauptabschnitte unterscheiden, 1. seine Tätigkeit unter den jüdischen Arbeitern in England von 1892 bis 1914, 2. seine führende Rolle in der syndikalistischen Bewegung Deutschlands von 1919 bis 1933 und 3. seine schriftstellerischen Arbeiten, unter denen besonders zu erwähnen sind: „Nationalismus und Kultur“, „Pioniere der amerikanischen Freiheit“ und „Absolutistische Gedankengänge im Sozialismus“.

Rudolf Rocker hatte frühzeitig die Gefahr der autoritären und totalitären Tendenzen in der Arbeiterbewegung erkannt und in seinen Schriften und Reden – er war ein hervorragender Redner – davor gewarnt. Er scheute sich auch nicht, schon Anfang der zwanziger Jahre die bolschewistischen Machthaber, die Lenin, Trotzki e tutti quanti, als bürgerlich-jakobinische Diktatoren anzuprangern. Er war frei von dogmatischer Einseitigkeit. Aufgeschlossen für neue Strategien, die veränderte Situationen erfordern können, blieb er stets seinen freiheitlichen Grundsätzen treu.

Im dritten Band seiner in deutsch bisher noch nicht erschienenen Autobiographie schreibt er: „Jeder Generation stellen sich besondere Aufgaben, die sie um so besser bewältigen kann, je mehr sie die inneren Bindungen erfaßt hat, die zwischen dem bestehenden, was einmal war und dem, was ist, denn gerade aus diesem Verständnis zieht sie die Lehren, die sie für ihren eigenen Kampf benötigt. Je weniger sie sich von abstrakten Auffassungen leiten läßt, um so besser wird sie begreifen, daß es keine universalen Lösungen für die verschieden gearteten Probleme des geistigen und sozialen Lebens gibt und nie geben kann, um so erfolgreicher wird sie in ihren Bestrebungen sein, und um so größer sind ihre Perspektiven. Jeder Dogmatismus wird zu einer gefährlichen Zwangsjacke für die natürliche Entwicklung, da er die Zukunft mit den Hypotheken der Vergangenheit belastet. Niemand ist gegen Irrtümer gefeit, doch wenn man den Irrtum erkannt hat, sollte man wenigstens den Weg frei machen, der aus den Irrtümern herausführt. Das ist die Grundlage für jeden freien Gedanken. Proudhon sagte einmal, daß ein wirklich freier Mensch nie ganz sicher ist, daß das, was er erstrebt, auch wirklich das Rechte sei. Ich glaube, das ist das Beste, was jemals über den Begriff der Freiheit im allgemeinen gesagt worden ist. Und gerade heute, da der Einfluß totalitärer Ideen überall emporwuchert, sind Männer dieser Denkweise mehr denn je erforderlich“.

Im Einklang mit dieser Auffassung prägte er die klassische Formulierung: „Der Sozialismus wird frei sein oder er wird nicht frei sein“. Diese wenigen Worte sollen zur Erinnerung an Rudolf Rocker anläßlich seines 100. Geburtstages dienen.

Augustin Souchy

Rudolf Rocker 1873 – 1958. Mahner und Künder – Kämpfer und Revolutionär

Am 25. März 1873 wurde Rudolf Rocker in Mainz, einer damals typischen Militär- und Beamtenstadt, die den Vorzug einer vielhundertjährigen Geschichte hat, geboren. Es ist die Stadt der Erfindung der Buchdruckerkunst. Es ist das Gemeinwesen, in dem Johann Gensfleisch zum Gutenberg zusammen mit Johann Fust und Peter Schöffer dem gedruckten Wort die Verbreitung über die ganze Welt sicherte. Diese historisch bedeutende Stadt, liegt aber ausserdem noch in einem Gebiet von höchster freiheitlicher Tradition. Lieblichkeit der Landschaft und Jahrtausende alte Aufgeschlossenheit des süddeutschen Gebiets für Handel und Wandel zeichnen sie aus. Geistige Regsamkeit und Handel und Wandel sind starke Auftriebskräfte für das Temperament und die kulturelle Aufgeschlossenheit seiner Bewohner. Die Namen unzähliger altdeutscher Künstler, wie Mathias Grünwald, Hans Holbein, Albrecht Dürer, Veit Stoss und Thiel Riemenschneider, sind mit dieser Landschaft verbunden. Hier haben neben den genannten Malern und Bildhauern noch andere von weltweitem Rang, ihre unsterblichen Meisterwerke geschaffen. Auch die frühen Gründungen von Akademien und Hochschulen prägten durch lange Jahrhunderte einen drängenden und forschenden Geist. Abgerundet wird das Bild der süddeutschen Landschaft und seiner Menschen durch die Tradition einer weitgehenden Aufgeschlossenheit für öffentliche Angelegenheiten, deren Wurzeln im mittelalterlichen Leben der Stadtverfassung und Stadtverwaltung liegen. Der Humanismus ist in diesem Gebiet wirklicher Träger der Kultur und sogar ihr Element.

Solchermassen ist es nur selbstverständlich, wenn der Mensch und seine geistigen Äusserungen dem steten Fluss des Fortschritts zugeneigt bleiben. Die Menschen des süddeutschen Raumes nehmen deshalb auch die Gedanken der grossen französischen Revolution mit ihrer Proklamierung der Menschenrechte und die darauffolgende Periode napoleonischer Eroberung mit ihrer Zerstörung alter und einengender Rechtsformen, mit weltoffenen Sinnen auf. Und hier finden viele Gedanken der Revolutionsjahre von 1848 und 49 Anschluss an die sozialen und politischen Ideen des fortschrittlichen Europa.

Bei der Beurteilung der Persönlichkeit Rudolf Rockers scheint mir sein Herkommen aus einem Gebiet der höchsten Wirksamkeit der humanistischen Kultur von eminenter Bedeutung. Der Umstand, dass Rocker den grössten Teil seines Lebens nicht in seiner Heimat, sondern weit davon entfernt in fremden Ländern zugebracht hat, spricht keineswegs dagegen. Der Mensch bekommt von Geburt an tausend Anlagen und Fähigkeiten mit. Sie werden um so vielfältiger und bedeutsamer sein, wenn die umgebende Welt fördernd auf diese Anlagen und Fähigkeiten wirkt. Dies aber dürfte bei Rudolf Rocker in weitem Masse zutreffen.

Der Kosmopolit

Rocker ist durch die Vielfalt seiner besonderen Lebensumstände zum Kosmopoliten geworden. Schon frühzeitig neigt er den literarischen Ergebnissen humanistischer Geisteshaltung zu. Und gerade hier erweist sich die kulturelle Erbschaft der Landschaft aus der er kam, als der wichtigste Faktor auf dem Wege zu einem Kosmopolitentum, das wir an ihm kennen und das wir lieben und verehren gelernt haben.

Aus dem Studium der deutschen und europäischen Klassiker gelangt der junge Rocker frühzeitig zu einer umfassenden Bildung. Aber er gibt sich mit der blossen literarischen Betrachtung der Welt und des Weltgeschehens nicht zufrieden. Er setzt mit rastlosem Geist die Resultate seiner erworbenen humanistischen Bildung, in Betrachtungen über das menschliche Leben um. Rocker vergleicht den literarischen Menschen mit dem Sozialwesen, das er antrifft, und er lernt hier sehr frühzeitig zu unterscheiden zwischen den ungelösten Rätseln menschlichen Seins und der tatsächlichen menschlichen Existenz. Diese wird ihm zum wichtigsten Gebiet seiner geistigen Arbeit. Der Mensch und seine Sozialbeziehungen schlagen ihn in ihren Bann. So ist es nicht verwunderlich, daß   er bereits in jüngsten Jahren die Bekanntschaft mit der beschwingenden Idee des Sozialismus macht. Besonders dem Sozialismus der alten Schule, den sozialen Ideen des Grafen Henry de Seint Simon und der anderen großen Franzosen, wie Charles Fourier und Pierre Proudhon neigt sich sein geistiges Interesse zu. Aber daneben gibt es noch eine Fülle von Sozialkritikern und Sozialreformern, die der sozialistischen Auffassung Rockers einen guten Nährboden geben. Da sind die Deutschen Moses Hess und Karl Grün, und da ist nicht zuletzt der intellektuelle Schneidergeselle Wilhelm Weitling, dessen Werk über die Harmonie der Freiheit Jahrzehnte hindurch dem Sozialismus Diskussionsgrundlage war. Aber auch die Ideen des englischen Sozialkritikers Robert Owen, des britischen Sozialrevolutionärs William Godwin sind in der sozialistischen Ideenwelt der Rockerschen Jugendjahre noch durchaus lebendig. Der Staatssozialismus und die dogmatischen Auffassungen der Blanciisten, der Cabetisten, sowie die totalitären Auffassungen von Karl Marx und Friedrich Engels und die völlige Staatsgläubigkeit Ferdinand Lassalles hatten zu dieser Zeit die sozialistische Idee noch nicht in ihren Bann geschlagen. Noch immer sind in sehr starkem Masse, die Auffassungen der großen Russen Michael Bakunin und Alexander Herzen Allgemeingut in der sozialistischen Ideenwelt.

Von diesen Ideen strömt bei aller sozialkritischen Schärfe und sozialrevolutionären Härte, doch eine warme Menschlichkeit aus. Diese Ideen knüpfen an, an die große Tradition der humanistischen Geisteskultur, wie sie Rocker von Hause aus mitbrachte. So wohnt den Ideen der alten Sozialisten, mit der Betrachtung über den Menschen und seine Beziehungen zur Gesellschaft auch der Internationalismus inne. Er ergibt sich aus dem Menschheitsprinzip, aus dem Recht und aus der Würde des Einzelwesens; er kommt und entwickelt sich aus den unveräusserlichen und unabdingbaren Rechten des Individuums gegenüber der Gesellschaft, aber er führt auch Einzelrecht und Einzelanspruch und Sozialorganismus und Gesellschaftsnotwendigkeit auf eine gemeinsame Plattform zusammen.

Der Internationalismus der sozialistischen Ideenwelt führt bei Rudolf Rocker konsequenterweise zum Kosmopolitentum, denn im Grunde genommen handelt es sich bei diesem Internationalismus nicht mehr allein um Regelungen zwischen den Nationen in ihrer staatlichen Begrenztheit, sondern um übernationale, entnationalisierende Beziehungen, die nicht das Interesse des Deutschen oder des Briten, oder Franzosen im Auge haben, sondern um die Menschheit schlechthin.

Das Kosmopolitentum Rudolf Rockers entspringt also zwei Wurzeln. Die eine liegt begründet in der Herkunft aus einem Gebiet traditioneller humanistischer Kultur und die andere kommt aus der sozialistischen Ideenwelt, die als wirkliche Menschheitskultur nur gelten läßt, was der Wahrung, Förderung und Mehrung der Menschheit dient. Es kann nicht Wunder nehmen, wenn bei Rocker dieses Kulturprinzip letztlich die gesamte    Persönlichkeit prägt.

Der Sozialist

Rocker hat die sozialistischen Ideen mit allen Fasern seines Herzens aufgenommen. Seinem scharfen Verstande, seinem phänomenalen Gedächtnis und seinem ordnenden Intellekt sagte die Vielheit der einzelnen Schulen und sozialen Systeme mehr, als den Dogmatikern des Sozialismus, die nur anerkennen was ihrem Grundprinzip entspricht, aber verdammen und verketzern, was ihrer Ansicht von der Notwendigkeit, die menschliche Gesellschaft in eine Galeere zu verwandeln, zuwiderläuft.

Es ist Rockers ureigenstes Verdienst, das sozialistische Ideengut nach allen Seiten hin durchforscht zu haben. Die einzelnen sozialistischen Sonderheiten in Grundsatz und Praxis untereinander in Vergleich zu setzen und ihren gemeinsamen Gehalt zu ermitteln. Es ist dies eines der hervorragendsten Charaktermerkmale seines literarischen und rednerischen Schaffens. Immer geht Rocker dabei von dem Grundsatz aus, den Erkenntnisgehalt der einzelnen Systeme festzustellen und geistes- und wesensverwandtes miteinander zu koordinieren. Es liegt in der Natur der Sache, daß er dabei keineswegs in engstirniger Unaufgeschlossenheit nur Gedanken gelten läßt, die von Sozialisten gedacht wurden. Im Gegenteil, der menschliche Geist ist ihm eine universelle Erscheinung, deren Fruchtbarkeit nicht auf eine bestimmte Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Gesellschaftsgruppe oder Klasse beschränkt ist. Richtiges und Logisches zu denken, ist eine Angelegenheit des menschlichen Geistes und nicht das Privileg von Angehörigen bestimmter Gesellschaftsschichten.

Auch hier knüpft Rocker an die Traditionen der humanistischen Bildung an. Die Geisteshaltung hoher humanistischer Bildungskultur findet ihren prägnantesten Ausdruck in der Toleranz. Das Prinzip der Erkenntnis ist ihr Lebenselement. Sie gibt der Erkenntnis, der Offenbarung gegenüber den Vorzug. Rocker geht mit ihr den Weg der Erkenntnis. Die Vielheit des menschlichen Geistesgutes nimmt ihn gefangen. In der bunten Fülle tausendfältiger Erscheinungsformen des menschlichen Lebens und in der noch vielgestaltigeren Sozialschöpfung als Ausdruck des nimmermüden und rastlos tätigen menschlichen Geistes, sieht er die Grundlagen menschlicher Kultur.

Die gesamte Geistesarbeit Rudolf Rockers ist eine einzige Auseinandersetzung mit den faulen Mächten der Ungeistigkeit, die als Geist und geistig nur gelten lassen wollen, was dem Schema ihrer besonderen sozialen, politischen und ökonomischen Konfession entspricht. Das menschliche Geistesleben aber zu schematisieren, bedeutet ihm Abkehr vom Prinzip der Toleranz und Aufhebung der Duldsamkeit als wichtigste Voraussetzung für Freiheit und Würde. Das gesamte Gebäude seiner sozialen und politischen Forschung ruht auf dem Prinzip der Menschenwürde und der menschlichen Freiheit. Der Sozialismus ist ihm die Verkörperung von Menschenfreiheit, Menschenrecht und Menschenwürde. Die menschliche Freiheit ist seit Jahrtausenden das am meisten bedrohte menschliche Element. Die Tyrannei in ihrer vielfältigen Gestalt ist immer bereit, zu allererst die menschliche Freiheit anzutasten und zu beseitigen. Auf der Freiheit basieren alle Äusserungen des Lebens. Sie ist deshalb immer bedroht und für sie gilt es deshalb immer auf die Schanzen zu steigen. Ohne menschliche Freiheit ist jede geistige Fortentwicklung, jeder soziale Fortschritt, jede politische Errungenschaft, jeder Versuch eines ökonomischen Ausgleichs ausgeschlossen. Die Freiheit ist deshalb für Rocker das köstlichste menschliche Gut.

Seine Forschung über die sozialistischen Schulen und sozialen Systeme waren besonders dem freiheitlichen Gehalt derselben zugeneigt. Der Wert aller dieser Systeme offenbart sich einzig und allein in dem Maß an menschlicher Freiheit, das dieselben zugestehen und verfechten.

Der Mahner

Rocker ist deshalb ständiger Mahner. Sein Appell spricht den inneren Menschen an. Es ist nicht so sehr die schwielige Faust und der schmierige Arbeitsdress, den er anspricht. Er macht Faust und Dress nicht zum Prinzip freiheitlichen Wollens. Er weiß und macht immer wieder klar, daß die Freiheit dem Knecht eine Sehnsucht, dem Sklaven ein Traum sein kann. Sehnsüchte und Träume aber sind imaginär, wirken im Unwirklichen und stehen ausserhalb des menschlichen Geistes. Die Freiheit ist ihm keine Theorie, ist ihm auch kein Glaubensbekenntnis. Er folgert sie vielmehr aus der menschlichen Existenz. Diese aber ist naturgebunden. Der natürliche Kampf hört in der menschlichen Gemeinschaft nicht auf. Er erfährt hier lediglich hohe Grade der Veredelung. Der Kampf als Prinzip aber bleibt bestehen. Und so geht Rocker von der antiken These aus, daß der Kampf der Vater aller Dinge sei und fordert vom Einzelnen wie von der Gesamtheit die ständige Bereitschaft, für die Freiheit einzutreten und sie täglich und stündlich neu zu erkämpfen. Die von ihm aus allen sozialistischen Systemen und Schulen erarbeitete Wahrheit ist die, daß der Mensch als Einzelwesen und als Sozialerscheinung das Maß an Freiheit genießt, das er in ständigem Ringen mit den Widerständen des Lebens sich ertrotzt.

Die aus dieser Erkenntnis gezogene Folgerung, hat bei Rocker ihren besonderen Niederschlag in der Begründung des modernen Anarchosyndikalismus gefunden. Hier sieht Rocker am besten die Elemente menschlicher Freiheit gewährleistet und zwar dergestalt, daß die Organisation der Arbeit wirtschaftspolitische Tendenz trägt. Er führt die Kraft der Arbeit auf ihren Ausgangspunkt zurück. Die Arbeit ist ihm sittliches Prinzip. Bei der Untersuchung über die Nutzanwendung derselben für die Schaffung von Garantien für die Freiheit, vermittelt er die Erkenntnis, daß die Organisation der produktiven Kraft des Einzelwesens das beste Mittel ist, die Freiheit zu erringen, zu verteidigen und zu vergrössern. Denn, so folgert Rocker,die Arbeit ist Grundlage der menschlichen Einzelexistenz sowohl, als auch der menschlichen Sozialexistenz. Erkennt der Arbeitstätige den hohen sittlichen Wert seiner Leistung, dann wird sie ihm das Mittel zur Verfechtung seiner persönlichen und sozialen Ansprüche sein. In der Anwendung, zur Verfügungstellung oder Verweigerung der Arbeitskraft, liegen ihre sittlichen Maximen. Deshalb wurde Rocker auch zum Verfechter und theoretischen Begründer des Prinzips der direkten Aktion. Er sieht in der Freiheit nicht eine schriftliche oder verfassungsrechtlich gegebene Garantie. Er sieht in ihr vielmehr die Selbstverantwortlichkeit des Individuums. Er fordert deshalb von diesem, die Veränderung der Sozialstruktur in die eigene Hand zu nehmen und sie nicht Dritten oder Vierten zu überlassen.

Selbstverantwortlichkeit als sittliches Prinzip ist das Grundelement des Anarchosyndikalismus. Rocker formuliert nach seiner Rückkehr aus dem englischen Internierungslager im Jahre 1919 die Prinzipienerklärung des Syndikalismus, die er vor dem Kongreß der Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften, die sich auf demselben Kongreß den Namen Freie Arbeiter – Union Deutschlands (AS) gibt, in einer, mit grossem Beifall aufgenommenen Rede, begründet. In dieser Prinzipienerklärung wird die historische Rolle des Staates als einer der wichtigsten Feinde der Freiheit dargelegt.

Rocker knüpft daran die Folgerung, daß der Staat eine Schutzorganisation zum Zwecke der Sicherung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sei, die gemeinsam mit derselben abgeschafft werden muß. Für ihn steht die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen im ursächlichen Zusammenhang mit der Beherrschung des Menschen durch den Menschen und daß die Aufhebung der Lohnarbeit als Ausdrucksmittel menschlicher Ausbeutung, unweigerlich auch die Aufhebung des Staatsbürgertums nach sich ziehen muß. Des weiteren kommt Rocker zu der programmatischen Feststellung, daß eine Gesellschaftsform in der die Befreiung des Menschen von Ausbeutung und Beherrschung Wirklichkeit werden soll, von der Devise „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ ausgehen muß. Mit dieser Formulierung gibt Rocker der kommunistischen Form der Gesellschaft den Vorzug. Dabei aber ist die von ihm vertretene wirtschaftliche Form des Kommunismus kein Dogma. Der Vielgestaltigkeit des sozialen Lebens lässt er Lösungen offen, die aus der praktischen Erfahrung und der revolutionären Gegebenheiten erwachsen und der er nicht von vornherein und für alle Zeiten eine Beschränkung auf bestimmte und festumrissene Erscheinungsformen auferlegen will. Wenngleich er mit Kropotkin dem Kommunismus als die gerechteste Form der menschlichen Sozialexistenz den Vorzug gibt, betont er doch, daß auch der Kooperation und der Genossenschaft, sowie überhaupt allen Formen menschlicher Selbsthilfe, welche die Sicherung von Wohlstand und Freiheit zum Ziele haben, Betätigungsraum und Wirkungsmöglichkeit gegeben werden muß. Seine Auffassung über die gesellschaftliche Neuordnung und den revolutionären Kampf ist also tolerant und völlig undogmatisch.

Ebenso selbstverständlich ist ihm die Tatsache, daß die Arbeiterschaft als die rechtloseste Schicht im modernen Sozialorganismus der wirksamste Träger jeder Neuordnung der Sozialbeziehungen ist. Aber er räumt dem Prinzip des proletarischen Klassenkampfes kein Ausschließlichkeitsrecht ein. Rocker hat hier sicherlich die Gefahr gesehen, die in der Tatsache begründet liegt, daß den Gesellschaftsklassen ganz schematisch bestimmte Zeiträume für die Wirksamkeit und Ausübung ihrer Klassenherrschaft zugewiesen werden. Im Gegensatz zu der Marxschen Auffassung, daß das Proletariat sich zur herrschenden Klasse konstituieren müßte, um den Sozialismus politisch zu sichern, kommt Rocker hier zu dem historisch logischen Schluß, daß es sich bei dem Kampf um den Sozialismus nicht um eine Verewigung staatlicher Herrschaftszustände handeln kann, sondern daß vielmehr der Kampf um den Sozialismus, der Kampf gegen jede Form der Herrschaft ist. Er sieht im Proletariat keinen Faktor von überragendem sittlichen Wert. Er sieht in ihm vielmehr Menschen die wie beim Adel oder der Bourgeoisie alle Mängel, Fehler und Schwächen in sich vereinigen. Zudem ist der Begriff des Proletariats viel zu unbestimmt. Das Proletariat ist kein festumgrenzter soziologischer Faktor. Steht dies aber fest, dann birgt die Erhebung des Proletariats zu einer Klasse mit Vor-und Sonderrechten, eine neue Gefahr für die menschliche Gesellschaft in sich. Das Proletariat ist auf Grund seiner besonders abhängigen sozialen Lage sicherlich ein Faktor, bei dem man Aufgeschlossenheit und Bereitschaft zum Einsatz für den Fortschritt voraussetzen darf. Aber es hat nicht die historische Aufgabe, alte Herrschaftsformen mit der Zielsetzung zu sprengen, die seinen an ihre Stelle zu setzen.

Rocker hat aber auch die rein menschliche Seite der Beherrschung des Menschen durch den Menschen zum Gegenstand seiner Betrachtungen gemacht und in einer grossen Anzahl von Reden, Aufsätzen und Schriften bewiesen, daß der Staat ein Faktor der Unsittlichkeit ist. Der Schaden, den er der menschlichen Freiheit zufügt, ist durch keine immerwie geartete Maßnahme seiner Administration oder Exekutive wieder gutzumachen. Die Einmischung des Staates in alle Regungen des Menschen und in alle menschlichen Beziehungen schafft einen Zustand so weitgehender Entpersönlichung, daß der in der Nachkriegszeit in Mode gekommene Begriff der Vermassung hier seine wirklichen Ursachen hat.

Der Künder

Das Lebenswerk Rudolf Rockers und seine Arbeit an der Klärung der theoretischen Grundlagen des Sozialismus wären an sich schon nicht nur eine beachtliche Leistung, sondern ein Verdienst. Aber die Bedeutung Rockers liegt nicht nur in der theoretischen Klärung, sie liegt auch darin wie die Probleme den Massen der sozialistisch Interessierten nahegebracht und vorgelegt werden. Es ist die einfache und unkomplizierte Sprache eines wirklich großen Menschen, die auf den Leser und Hörer wirkt, die ihn vom ersten Wort bis zur letzten Silbe gefangen nimmt.

Es ist die Kunst Rockers, die Probleme der Sozialkritik, der kapitalistischen und sozialistischen Ökonomie, der politischen und kulturellen Bezienungen aus der Sphäre der Abstraktion in die Ebene des Konkreten gebracht zu haben. Dazu gehört viel mehr als gemeinhin angenommen wird. Es ist viel leichter, sich in der Sphäre des abstrakten Denkens zu bewegen, als diese Abstraktionen in allgemein menschliche Werte umzuwandeln. Hier ist Rocker eine Persönlichkeit von fast einzig dastehenden Wert. Was er klar macht, was er geistig erarbeitet, was er dem Menschen als Resultat dieser Arbeit übermittelt ist Wissenschaft, aber Wissenschaft die jeder versteht, die nicht nur an das Hirn appelliert, sondern die das Herz packt und doch weltweit von dem, was man gemeinhin Propaganda nennt, entfernt ist. Denn Propaganda ist, so notwendig sie für die Verbreitung bestimmter Ideen auch sein mag, doch in erster Linie auf das Trägheitsbedürfnis der Massen abgestellt.

Rocker aber braucht dieses Trägheitsbedürfnis nicht in Rechnung zu stellen. Seine Sprache in Wort und Schrift ist die Sprache eines Mannes, der das schwierigste Problem anpacken und es wohlaufbereitet dem Menschen zur geistigen Kost bieten kann. Wer seine Schriften, kleine oder große, zur Hand nimmt, der wird vom Zauber des Wortes und von der Klarheit des Geistes erfaßt. Der erlebt nicht nur den Mahner, sondern ihm offenbart sich der Künder, ihm offenbart sich eine gewaltige Fülle von Gedanken, von Ideen, von historischen Zusammenhängen, von logischen Schlüssen und von notwendigen Schlußfolgerungen, die alle in der beschwingenden Kraft des Geistes leben, der im Wort seinen Ausdruck findet.

Der Kämpfer

Für den objektiven Beurteiler der Persönlichkeit Rudolf Rockers ist es nach dem vorgesagten klar, daß es sich bei diesem Manne nicht nur um einen Wortgewaltigen handelt, um einen Menschen, der das Herz auf der Zunge trägt, um eine Persönlichkeit, bei der die tiefen Ergebnisse menschlicher Denkarbeit in vollendeter Harmonie mit dem Herzen stehen, sondern zugleich um einen Menschen der bereit ist, für die zutiefst empfundenen Ideale auch seine Person einzusetzen. So kann es nicht ausbleiben, daß der Mahner und Künder von Freiheit und allgemeinem Wohlstand auch zugleich immer bei der menschlichen Tat steht, die am Werke ist, diese Ideale in wirkliches Leben umzuwandeln. Aus diesem Grund sehen wir Rocker immer und zu allen Zeiten in den vordersten Reihen derjenigen, denen es nicht auf das Wort und die Idee allein ankommt. Rocker weiß und hat klar gemacht, daß alle Besserungen menschlicher Sozialbeziehungen ob in Politik oder Wirtschaft, in Erziehung oder Kultur abhängig sind von dem Maß an Einsatzbereitschaft, das der Mensch für erkannte Wahrheiten aufbringen will. Es gehört zur Abrundung des Bildes der Rockerschen   Persönlichkeit, dass in dem ebengesagten eingeschlossen liegt, die Anerkennung eines hohen Masses von Willensfreiheit im Individuum.

Rocker appelliert an dieses Individuum und er appelliert damit an das dem Menschen zur Verfügung stehende Maß an Willens- und Handlungsfreiheit. Diese Freiheit aber ist kämpferisch. Sie trotzt den Widerständen. Sie erhebt nicht nur leidenschaftliche Anklage gegen menschliche Würdelosigkeit und Tyrannei, sie zieht vielmehr das Schwert, um dieser Würdelosigkeit und Tyrannei eine Wahlstatt zu bereiten. Wo aber immer der Mensch zum Kampf gegen den auf ihm lastenden vielfältigen Druck antritt, dort bildet der Mensch die Organisation. Hier vereinigt er seine schwache Einzelkraft mit der Vielheit anderer Einzelkräfte, und hier entsteht in der Übereinkunft und Vereinbarung zwischen den Individuen die einzige Kraft, die fähig und in der Lage ist, das Sozialgeschehen zu wandeln. Steht aber der Mensch im Mittelpunkt der Betrachtung über die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der Organisation, handelt es sich bei dieser nicht um Selbstzweckvereinigungen, dann liegt das Schwergewicht der Verbindung in den natürlichen Formen gemeinsamer Zielsetzung und kollektiver Zweckbestimmung.

Die von Rocker vertretene Form der menschlichen Vereinigung ist deshalb immer die des Föderalismus. Was er erkämpft ist nicht der seelenlose Mechanismus geistiger und persönlicher Uniformiertheit. Die Zentralisation, als die künstliche und der menschlichen Gesellschaft praktisch aufgepfropfte Form der Staats – und Kirchenorganisation steht im Widerspruch zur menschlichen Freiheit. Diese Organisationsform der Zentralisation ist ein Kind des Offenbarungsglaubens, ist    die natürliche Tochter einer Auffassung, wonach der Mensch nichts sei, solange er auf der untersten Stufe der sozialen Rangordnung steht.  Daß dieser gleiche Mensen aber an Bedeutung gewinnt, wenn er in der Lage war, mit Glück oder Niedertracht eine höhere Stufe in der gesellschaftlichen Rangordnung zu erklimmen. Mit jeder sozialen Rangerhöhung aber wächst die Bedeutung des Menschen, und er wird gottähnlich, wenn er die oberste Stufe derselben erreicht hat. In jedem Falle aber handelt es sich bei dieser staatlichen Rangordnung und bei der Bedeutung, die dem einzelnen Menschen in ihr zukommt, um Usurpation, das heißt um widerrechtliche Aneignung von Mitteln der öffentlichen Gewalt. Der Kampf, den also Rocker gegen das Prinzip der Zentralisation führt, ist ein Kampf gegen die Usurpation.

Bei seiner Begründung über die zweckmäßigste und natürlichste Form menschlichen Zusammenlebens und menschlicher Organisation überhaupt, schöpft Rocker wieder aus der Landschaft, der er entstammt. Süddeutschland ist zu allen Zeiten dem Prinzip einer natürlichen Organisation verhaftet geblieben. In dieser Landschaft haben durch die Jahrhunderte hindurch die Gebilde größter Selbständigkeit ihre Bedeutung gewahrt. In den Städten dieser Landschaften haben Jahrhunderte lang, die Gilden und Gewerke das öffentliche Leben ihrer Stadtgemeinden in ihrer Hand gehabt. Die Zahl der Kämpfe der freien Stadtgemeinden gegen die zentrale Reichsgewalt des Kaisertums ist Legion. Aber Gilden und Gewerke haben ihre Kämpfe nicht nur gegen die von aussen kommende Gefahr der Zentralisation geführt, sie haben auch – das ist das Entscheidende bei diesen Kämpfen – gegen die Gefahr der Zentralisation in ihrem eigenen Bereich Stellung genommen und nicht zu unterschätzende Kämpfe gegen die Gefahr der Usurpierung öffentlicher Gewalt in den Händen der Bevorrechteten geführt.

In der Geschichte der modernen Arbeiterbewegung hat sich dieser Prozeß der Zentralisation und die Abkehr von der föderalistischen Organisationsform, sehr zum Schaden und Durchschlagskraft der   sozialistischen Bewegung ausgewirkt. Die Zentralisation erscheint den Anbetern einer seelenlosen Sache als das heilige Prinzip des Sozialismus. Das gerade Gegenteil aber ist richtig.

Rudolf Rocker kämpfte seit langen Jahrzehnten gegen den Versuch einer Usurpierung der organisatorischen Macht innerhalb der Arbeiterbewegung. Die Verfechter und Befürworter des Zentralismus sind zu allen Zeiten vom Grundsatz der Geringschätzung des Menschen ausgegangen. Ihnen ist der Mensch nur Mittel zum Zweck. Für sie gilt er als die Nummer der Mitgliedskarte, die er gerade trägt. Er ist nicht das Zentrum, von dem aus die Kraft ausstrahlt, sondern er wird von diesem Zentrum beherrscht. Die ganze Nichtigkeit des Menschen   wird in der Geschichte der jüngsten Zeit klar. In den totalitären Staaten der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart zeigt sich das Prinzip des Zentralismus in seiner reinsten Gestalt. Und gemessen an der Erfahrung, die wir in „Tausend Jahren“ gewinnen konnten und deren mittelbare oder unmittelbare Zeugen wir zur Zeit sind, ist der Kampf Rudolf Rockers für den Föderalismus nicht hoch genug zu veranschlagen. Heute ist der Föderalismus zu einem guten Teil zum politischen Schlagwort geworden. Aber Rocker hat dieses Prinzip bereits verfochten, als der größte Teil der Anhänger der heutigen Auslegung des Föderalismus zum Beispiel in Deutschland noch stramme Zentralisten waren.

Und hier ist im Gegensatz zu den politischen Föderalisten unserer Zeit, besonders die föderalistische Auffassung wie sie von Rudolf Rocker durch Jahrzehnte hindurch verfochten wurde, herauszustellen. Der Föderalismus ist ein Prinzip natürlicher Ordnung und Rocker hat an unzähligen Einzelbeispielen seinen Gehalt und seine Wirksamkeit nachgewiesen.

Für uns in Deutschland dürfte es sich als Aufgabe notwendig machen, entschieden gegen jeden Versuch Front zu machen, der zum Ziele hat, ein Wort zu übernehmen, ohne den Sinn zu respektieren. Föderalismus im Sinne der Auffassung Rudolf Rockers, ist nicht die Auflösung von Mammutorganismen mit der Zielsetzung, diesen Großkörper in tausend Einzelteile zu zerlegen, denen allen der Charakter und das Prinzip der zerstörten Mammutorganisationen innewohnt. Föderalismus ist nicht ein Zustand, wo der gestern von der Zentrale Beherrschte, morgen zum Inhaber einer eigenen – wenn auch kleineren – Zentralgewalt wird.

Föderalismus ist vielmehr das natürliche Bedürfnis des Menschen nach der Verbündung. Der Bund also ist der Sinn föderativer Gedankengänge. Aber das menschliche Bündnis beginnt auf der untersten Stufe der sozialen Rangordnung. Das Prinzip des freien Vertrages und der freien Vereinbarung ist es, das diesem Bund, dieser Föderierung zugrunde liegt. Der Föderalismus ist die Form der menschlichen Organisation, die vom Allereinfachsten zum Komplizierten schreitet.

Der politische Föderalismus unserer Tage aber hat mit diesem Charakter des Rockerschen Föderativprinzips nicht das mindeste gemein. Dieser Föderalismus entspringt politischen Zweckbestimmungen, die mehr als durchsichtig sind. Der Föderalismus ist die der Despotie konträr gegenüberstehende Form der menschlichen Vereinigung. Wer seinen Sinn umbiegt in die Auffassung, daß hundert Despoten besser seien als einer, verfälscht denselben und zwingt die kritische Vernunft zum Kampf gegen eine solche Verbiegung gesunder Begriffe.

Das Prinzip der Föderierung hat Rocker auch auf die internationalen Beziehungen übertragen, und es ist nicht zuletzt seiner Initiative zuzuschreiben,wenn zu Beginn der zwanziger Jahre die Internationale Arbeiter – Assoziation (IAA) wiedererstand und eine dem Prinzip gegenseitiger Achtung der Völker entsprechende Politik zwischen den Landesorganisationen des freiheitlichen Sozialismus ermöglichte.

In den Völkerbeziehungen muss nach der Auffassung Rockers das gleiche Prinzip gültig sein, wie zwischen den Einzelwesen. Er sieht in der nationalen Begrenzung und Abschnürung der Völker die ständige Gefahr sich steigernder Konflikte, die noch eine nicht unwesentliche Verschärfung durch die Tendenz der modernen Staaten erfährt, den nationalen Gedanken maßlos zu überspitzen und den Völkern das Denken in nationalen Kategorien aufzuzwingen. Als Krönung der nationalistischen Tendenzen der modernen Staaten, steht die Tatsache, daß sie ständig den Versuch machen, den besonderen nationalen Eigenarten, der durch sie vertretenen nationalistischen, kapitalistischen oder militaristischen Interessengruppen Weltgeltung zu verschaffen. Der Imperialismus und Annexionismus der modernen Staaten ist nur aus dieser Überspitzung des Nationalismus und aus dem Denken in nationalen Kategorien zu erklären. Der Krieg und die Kriegsgefahr sind unzertrennliche Gefährten des Staates, ihnen fällt gewissermaßen eine Trabentenrolle zu.

Rocker hat diese Gefahr wie kaum ein anderer erkannt und deshalb immer wieder mit aller Eindringlichkeit darauf verwiesen, daß es darauf ankommt, alle sogenannten nationalen Belange als das zu betrachten was sie wirklich sind, nämlich als jeweilige Zweckformulierung für den Expansionsdrang der nationalen Staaten. Dem Nationalstaat als dem Hüter und Verfechter des Nationalismus wohnt immer der Drang inne, Nachbarn zu verschlingen, sie sich einzuverleiben, die Völker zu unterwerfen und aus ihnen Menschen zweiter Güte, Hörige und Leibeigene zu machen. Das einzige wirkungsvolle Mittel gegen Krieg- und Kriegsgefahr sieht Rocker deshalb in der Bekämpfung des Nationalismus und seiner wesentlichsten und gefährlichsten Ausdrucksform, dem nationalen Staat.

Der Revolutionär

Fassen wir das bishergesagte über die Persönlichkeit Rudolf Rockers zusammen, dann ergibt sich abgerundet das Bild eines bedeutungsvollen Menschen. Es wäre müssig, einen Streit darüber zu führen, ob die Wirkungskraft großer Persönlichkeiten soziale Umwälzungen verursacht oder nicht. Der Streit der Historiker, ob die Geschichte von großen Männern gemacht wird, ist für uns völlig uninteressant. Wir wissen, daß im gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß tausend Faktoren wirksam sind, von denen der eine in den Geltungsbereich des anderen hinüberreicht, so daß eine genaue Abgrenzung der Wirksamkeit der Einzelfaktoren unmöglich ist. Als gegeben dürfen wir jedoch annehmen, daß die ständige Wechselwirkung zwischen den materiellen Bedingungen und den geistigen und sittlichen Triebkräften, Menschen hervorbringen kann, in denen sich besonders konsequent der Geist der Zeit ausdrückt in der sie leben. Als ebenso richtig dürfen wir noch hinzusetzen, daß das Beispiel, welches gegeben wird, ein hochbedeutender Erziehungsfaktor ist. Das Beispiel hat immer sittlichen Wert, im guten wie im schlechten Sinne, und so darf erwartet werden, das die kompromisslose Einstellung eines Menschen, beispielgebend auf seine Mitmenschen wirkt und das gleiche Bestreben nach Konsequenz auslöst.

Aus diesem Grund sind Persönlichkeiten wie Rudolf Rocker typusprägend. Gerade ein Mann wie Rocker ist Beweis dafür, wie aus der Tiefe des Volkes Persönlichkeiten aufsteigen, wie sie an Bedeutung gewinnen und das geistige Gut einer ganzen Generation um ein Beträchtliches mehren.  Wir müssen uns aber vor Augen halten, daß jede Zeit ihre Persönlichkeiten prägt. Das ist in der Geschichte tausendfältig bewiesen. Männer wie der römische Sklave Spartakus, wie der Mönch Savonarola, der Reformator Martin Luther, der revolutionäre Enthusiast Thomas Münzer, der gewaltige Redner französischen Revolution Danton, der zwiespältige Jacobiner der gleichen Epoche Robespierre, die Verfechter der frühen sozialistischen Schulen, die revolutionären Feuerköpfe wie Michael Bakunin und Johann Most, die stillen Wissenschaftler wie Reclus und Kropotkin, sie alle sind Männer ihrer Zeit. genau so wie die großen Despoten Cäsar und Alexander, Nero und die Borgias und nicht zuletzt auch die Napoleons, Franco, Hitler und Stalin.

Die Zeit prägt ihre Persönlichkeiten. Sie bleiben entweder am Althergebrachten hängen, um sich hier zur Geltung zu bringen, oder sie geraten aus dem tiefen inneren Bedürfnis nach Recht und Gerechtigkeit mit den herrschenden Auffassungen ihrer Umwelt in Konflikt. Aus dieser Grundhaltung entwickeln sich die Reaktionäre, deren Namen Schrecken verbreiten oder aber der soziale und menschliche Revolutionär, dessen Name und Wirken, dessen Wort und Werk, zum Symbol eines neuen befreienden Zeitgeistes wird.

In Rudolf Rocker haben wir den aus der Mitte des Volkes kommenden Revolutionär. Revolutionär ist nicht die Anbetung der nackten Gewalt. Revolutionär ist auch nicht wer anderen mit Gewalt seine Meinung aufzwingen will, sondern revolutionär ist, wer der unsittlich gewordenen sozialen Ordnung die geistigen Grundlagen entzieht. Wer unablässig tätig ist, die geistigen Voraussetzungen, aus denen diese Ordnung ihre Kraft und ihre Existenz schöpft, zu zerstören, um den Ungeist der Barbarei und Versklavung durch den Geist der Freiheit und Kultur zu ersetzen. Hier ist das Wirken Rudolf Rockers für uns Heutige noch gar nicht abzuschätzen. Soviel aber dürfen wir aber schon heute für die Beurteilung sagen, daß sein Wirken in starkem Maße ausgestrahlt hat.

Wenn heute in weiten Teilen der Welt, zähe um die Wahrung der Menschenrechte gerungen wird, wenn Millionen zur Erhaltung eines letzten Restes menschlicher und politischer Freiheit zusammenwirken, dann wirkt hier der Geist und das Werk Rockers zu einem durchaus nicht geringen Teil mit. Wenn weiter der Föderalismus zur allgemeinen Diskussion gestellt ist, dann ist hier schon verhältnismäßig eindeutig das Werk Rocxers wahrnehmbar. Das trifft besonders auf Deutschland zu, denn es hat hier in dieser Wüste doktrinären Geistes und zentralistischen Organisationsabsolutismus an fast allen Voraussetzungen föderalistischen Denkens gefehlt. Rudolf Rocker blieb es vorbehalten, bei seinem Wirken von über einem Jahrzehnt, einige Oasen föderalistischen Denkens anzulegen.

So wie mit dem Gedanken des Föderalismus verhält es sich auch mit den anderen Grundsätzen Rockerschen Wirkens. Heute sehen Millionen und Abermillionen die Gefahr einer völligen Nivellierung der Menschheit, in der Ausbreitung des Staatsgedankens auf Gebiete, die noch vor nicht allzu langer Zeit nicht zu seinen Einflußsphären gehörten. Sie sehen die Gefahr, von der Hydra eines Behördenungeheuers verschlungen zu werden. Sie begreifen oder fühlen aus einem noch intakt gebliebenen Instinkt die Bedrohung ihrer Freiheit und beginnen sich dagegen zu wehren. Rocker hat immer betont, daß dem Gedanken der menschlichen Reglementierung und Unterordnung, der Ausweitung des Herrschaftsgedankens ungeahnte Möglichkeiten innewohnen, deren Konsquenzen überhaupt nicht absehbar sind.

Es gehört durchaus zum Bilde Rudolf Rockers, die Pflicht von der Forderung des Tages mit den Erkenntnissen einer endlichen Befreiung in Übereinstimmung gesetzt zu haben. Er ist ja gerade deshalb Revolutionär, weil er den Sozialismus mitten in das tägliche menschliche Leben hineinstellt, um hier die Bewährungsprobe für seine politische, sittliche und moralische Besserwertigkeit zu erbringen. Deshalb ist es ja auch kein Zufall, daß er in seinem stark ausgeprägten Forschungsdrang und Forschungseifer sich der Kultur – Sozial – und Wirtschaftsgeschichte zugewand hat, dessen Ergebnisse uns leider nur zu einem geringenTeil vorliegen. Aber das was uns vorliegt und was wir in persönlicher Bindung und Beziehung von ihm übernehmen konnten, das ist die Tatsache, daß er uns auf diesen Gebieten auf das gewissenhafteste und eindringlichste mit Tatsachen und Geistesgut bekanntgemacht hat, die ohne ihn sicherlich der Vergessenheit anheimgefallen wären.

Rocker hat uns das Bild von der Möglichkeit der sozialistischen Gesellschaft entworfen. Er hat die Kräfte und Faktoren festgestellt, die an ihrer Erringung mitwirken müssen um das Werk zu beginnen und der Vollendung entgegenzuführen.

Der Mensch

Wenn man den Lebensweg Rudolf Rockers verfolgt, so erscheint es nicht verwunderlich, daß er sich vornehmlich mit der Rolle des Staates in der Gesellschaft beschäftigt, war er doch über weite Wegstrecken seines Lebens, ein Opfer staatlicher Gewaltherrschaft.

Schon in frühester Jugend, nachdem er gerade die Buchbinderlehre beendet hatte, mußte er unter dem Bismarckschen Sozialistengesetz Deutschland verlassen. Seine Flucht führte ihn zunächst nach Paris, wo er sich einem Kreis ostjüdischer Emigranten anschloß, die ihn durch ihre geistige Regsamkeit und die freie Art ihres Zusammenlebens, anzogen. Diese Begegnung sollte von entscheidender Bedeutung für sein weiteres Leben und seine Entwicklung werden. Nämlich für seine Verbundenheit mit den jüdischen Menschen und der jüdischen Arbeiterbewegung. Von Paris aus, das er sehr bald, wegen der Verfolgung der Emigranten durch die französischen Behörden, verlassen mußte, begab er sich nach London, wo er bei jüdischen Freunden Aufnahme fand. Von nun an lebt der deutsche Nichtjude der wegen seiner politischen Überzeugung verfolgt wird, mit den jüdischen Emigranten aus Osteuropa, die ebenfalls, aber wegen ihrer Rassenzugehörigkeit verfolgt werden, im Ghetto zusammen. Die Verketzerung des Menschen und der Rassen- und Völkerhass, ist das Opium des Nationalismus, mit dem die Herzen und Hirne der Menschen vernebelt und zu jedem Staatsverbrechen fähig gemacht werden.

Rocker schreibt hierzu in seinen Erinnerungen: „Das ganze unverantwortliche Geschwätz von unüberwindlichen Gegensätzen zwischen westlichen und östlichen Rassen, zwischen Ariern und Semiten hat nicht den geringsten Wert. Bei den Juden fand ich nicht mehr geheimnisvolle und unerklärliche Züge als bei anderen Völkern, mit denen ich in Kontakt gekommen bin. Ich bin des halb kein Judenfreund, wie man mich oft genannt hat, denn ich sympathisiere nicht mit allen Juden, genau wie ich nicht alle Deutschen, Franzosen oder Amerikaner liebe.“

Während der letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts und in den Jahren bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges, floß fast ununterbrochen ein Strom jüdischer Auswanderer aus Polen, den baltischen Ländern und Rußland nach Westen, und London war der Knotenpunkt der Massenemigration. Diese Emigranten waren zum großen Teil unpolitisch, oft auch religiös. Sie flohen vor ihrem Elend und den ständig drohenden Pogromen. Aber ein immer größer werdender Prozentsatz waren doch bewußte Sozialisten, und der Anteil dieser politischen Flüchtlinge wuchs im Zusammenhang mit den revolutionären Ereignissen in Rußland zu Beginn des neuen Jahrhunderts.

So bildete sich schon bald eine sozialistische Bewegung unter den Ostjuden in London und die jüdischen Arbeiter, die unter den unmenschlichsten Arbeits- und Lebensbedingungen dahinvegetierten, gründeten eigene Gewerkschaften um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. So entfaltete sich eine immer größere Aktivität. Einer der Höhepunkte war der Streik von 13.000 jüdischen Arbeitern. Der Kampf begann als Solidaritätsaktion für streikende Konfektionsarbeiter im Westend, von denen nur ein Teil Juden waren. Der nun ausbrechende Kampf in East End nahm gewaltige Proportionen an; Rocker sprach auf unzähligen Meetings. Der „Arbeiterfreund“, dessen Redakteur Rocker war, kam während des Streiks täglich mit 4 Seiten heraus. Der grosse Streik brachte den jüdischen Arbeitern beträchtliche Erfolge und der ganzen Bewegung einen großen moralischen Aufschwung.

In der jüdischen Arbeiterbewegung hatte Rudolf Rocker ein weites Betätigungsfeld gefunden. Schon 1898 wurde Rocker zum Redakteur der jüdischen Zeitung „Arbeiterfreund“ gewählt, obwohl er damals noch nicht die jiddische Sprache beherrschte und seine Artikel erst übersetzt werden mußten. In den vielen Jahren, die Rocker unter seinen jüdischen Freunden lebte, ist Jiddisch seine zweite Muttersprache geworden und fast alle seine Schriften hat er in jiddischer Sprache geschrieben.

Neben seiner Tätigkeit als Redakteur, als Agitator und Organisator, entfaltete Rocker eine immer umfangreichere Tätigkeit mit Vorträgen über literarische Themen. Diese begannen zuerst in kleinen Kreisen, aber schon bald hatte er Hunderte von Hörern. Er sprach über: Ibsen, Björnsson, Hamsun, Strindberg, Blasco Ibanez, Gerhart Hauptmann, Maeterlink, Wilde, Multatuli, Gorki u.a. und führte so im Laufe der Jahre tausende von Ostjuden in die europäische Kulturwelt ein. Mit Beginn des ersten Weltkrieges wird die Arbeit Rockers in der jüdischen Arbeiterbewegung jäh unterbrochen. Rocker wird als Deutscher für die Dauer des Krieges interniert. In seinem Buch „Hinter Stacheldraht und Gitter“ hat er die unmenschlichen Verhältnisse, unter denen die Zivilinternierten in England leben mußten, anschaulich geschildert.

Nach Beendigung des Krieges kehrt Rocker nach Deutschland zurück und nun beginnt ein neuer Lebensabschnitt, in dem er seine ganzen Fähigkeiten voll entfalten kann. Seine Ideen finden in dem Nachkriegsdeutschland einen fruchtbaren Nährboden und so wird Rocker zum eigentlichen Theoretiker und Sprecher der anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsbewegung in Deutschland. Die zahlenmäßige Stärke der Bewegung, mit ihrem eigenen Verlag, ermöglicht es, daß seine Schriften nun auch in deutscher Sprache erscheinen können.

Wie zu Beginn des ersten Weltkrieges, so wird dieser bedeutende Lebensabschnitt wiederum durch die Machtergreifung Hitlers und das Verbot der Organisation unterbrochen. Es gelingt Rocker im letzten Augenblick mit seiner Frau, der Verhaftung zu entgehen und nach Amerika zu fliehen, wo er bei seinen jüdischen Freunden ein Asyl findet. Durch den Naziterror und den Bombenkrieg wird vor allem auch das ganze literarische Werk Rockers vernichtet, so daß heute nur noch Fragmente in privaten Händen übrig geblieben sind. Bei der Flucht gelingt es Rocker zum Glück noch das deutsche Manuskript seines Lebenswerkes,“ Nationalismus und Kultur“, zu retten. Und so erscheint allen Verfolgungen zum Trotz nach 1945 dieses Werk unter dem Titel „Die Entscheidung des Abendlandes“ in Deutschland.

Der inzwischen 72 Jährige entschließt sich nach dem Zusammenbruch des dritten Reiches in Amerika zu bleiben. In einer kleinen Schrift mit dem Titel „Zur Betrachtung der Lage in Deutschland“ zeigt Rocker, daß er sich einen klaren Blick für die Verhältnisse in Deutschland nach der Katastrophe von 1945 bewahrt hat und sich keinen Illusionen hingibt in Hinblick auf die eigene Bewegung.

Rocker schreibt: „Von der alten FAUD sind auch die letzten Ansätze verschwunden. Aus den zahlreichen Briefen die mir bisher aus allen Teilen des Reiches zugingen und solchen die mir durch deutsche Kameraden zur Verfügung gestellt wurden, geht deutlich hervor, daß an eine Wiederbelebung unserer alten Bewegung in ihrer gewesenen Form unter den heutigen Umständen kaum gedacht werden kann, da alle Vorbedingungen dafür fehlen. Das ist durchaus kein Wunder, denn nach einer so ungeheuerlichen Katastrophe, die alle Fundamente des sozialen Lebens von Grund aus zerstört und uns vor ganz neue Probleme gestellt hat, läßt sich schwer annehmen, daß man genau wieder dort anfangen kann, wo man vor dreizehn Jahren aufgehört hat. Der Wiederaufbau Deutschlands muß mit einem Neubau seiner sozialen und geistigen Grundlagen verbunden werden. Hier eröffnet sich den Anarchisten die Chance, zu beweisen, daß sie nicht das Chaos, sondern eine freiheitliche Ordnung wollen.“

Das war eine Empfehlung an die alten Freunde am Wiederaufbau mitzuarbeiten und zu versuchen, in einem freiheitlichen Sinne auf die Entwicklung einzuwirken.

Rocker hatte nun Gelegenheit, in Ruhe seinen literarischen Arbeiten nachzugehen. So entstand in diesen Jahren die kleine Schrift: „Die absolutistischen Gedankengänge im Sozialismus“, ein Buch über „Pioniere der amerikanischen Freiheit“, die Broschüre „Zur Betrachtung der Lage in Deutschland“, eine wertvolle Biographie über den anarchistischen Historiker „Nettlau“ und die drei stattlichen Bände seiner „Erinnerungen“, die in gekürzter Form zum 100. Geburtstag in der Taschenbuchausgabe des Suhrkampverlages herauskommen sollen. Eine literarische Leistung die zeigt, daß Rocker bis ins hohe Alter seine geistige Spannkraft erhalten hat.

Im Jahre 1958 ist Rudolf Rocker im Alter von 85 Jahren in seinem Heim in Crompond im Staate New York verstorben. In seinen Erinnerungen erzählt Rocker eine kleine Episode mit der wir unsere Würdigung Rockers abschließen wollen. Eines Tages, eine Zeit nach dem großen Streik in East End, spazierte Rocker mit seiner Frau durch die Strassen des Ghettos, als eine unbekannte Frau, die vor der Tür eines Hauses saß, sich erhob und zu Rocker sagte: „Bitte, warten Sie einen Augenblick, sodaß Großvater Sie begrüßen kann!“ Ein uralter Mann mit weißem Bart, den Rocker nie gesehen hatte, trat aus dem Hause, reichte Rocker seine zitternde Hand und sagte: „Möge Gott ihnen hundert Jahre schenken. Sie haben meinen Kindern geholfen als die Not am größten war. Sie sind kein Jude, aber ein Mensch – ein Mensch!“

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Der Glaube an ein Endziel der Geschichte, in dem alle Bedingungen einer vollkommenen Gesellschaftsordnung erfüllt sind, so daß keine neuen Wünsche mehr aufkommen können, ist von allen Illusionen die gefährlichste und schon deshalb unmöglich, weil die angeborene Unvollkommenheit des Menschen auch allen seinen Werken den Stempel der Unvollkommenheit aufdrückt. Eine solche Auffassung führt nur in die Sackgasse eines unfruchtbaren Dogmatismus und verkennt vollständig den ewigen Wechsel geschichtlicher Vorgänge, der nur das Ergebnis der unumstößliche Tatsache ist, daß alle Verbesserungen, die wir schaffen, nur eine relative, aber nie eine absolute Vollkommenheit besitzen und gerade deshalb stets durch neue Erfahrungen und innere Erkenntnisse ergänzt werden müssen, die uns allein neue Wege und neue Lebensformen erschließen können.

Auch die Utopie, die man als den eigentlichen Gärstoff aller geschichtlichen Veränderungen betrachten kann, ist nie vollkommen, obgleich sie stets die denkbar größte Vollkommenheit erstrebt. Auch sie ist Menschenwerk, wie jede soziale Wirklichkeit, an der sie geboren wird. Aus diesem Grunde ist sie denselben Unzulänglichkeiten des menschlichen Denkens unterworfen, das stets nach Vollkommenheit strebt, ohne sie je erreichen zu können. Allein dieses streben ist ein notwendiger Bestandteil unseres Lebens, ohne den unser soziales Dasein völlig sinnlos wäre. Ich behaupte nicht, daß in dieser Tatsache ein höherer Sinn vorhanden ist, sondern nur, daß jede Erscheinung unseres Daseins den Sinn besitzt, den wir ihr selbst beilegen. Nur indem wir das Unmögliche zu erreichen suchen, schaffen wir die Bedingungen für neue Möglichkeiten und neue Lebenswerte.

Rudolf Rocker

Originaltext: Zeitgeist Nr. 21/1973 (15. Jahrgang). Digitalisiert von www.anarchismus.at